Transnationaler Katholizismus und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert: Heinrich Hansjakob in Lourdes und Paray.

Der katholische Geistliche Heinrich Hansjakob, Pfarrer in Hagnau am Bodensee, Abgeordneter der Katholischen Volkspartei im Badischen Landtag und ein bekannter Volkserzähler und Publizist, reiste im Jahre 1874 für mehrere Wochen nach Frankreich. Selbstverständlich führte ihn sein Weg nach Paris und zu anderen touristischen Sehenswürdigkeiten, doch da er sich die Reise von seinem Bischof als Wallfahrt hatte genehmigen lassen, standen im Mittelpunkt die berühmten Anbetungsstätten in Lourdes, wo seit 1858 Marienerscheinungen zu einer der größten Wallfahrten Europas geführt hatten, und in Paray, dem Mittelpunkt der Herz-Jesu-Frömmigkeit, die im 19. Jahrhundert einen enormen Aufschwung als international verbreiteter und organisierter Kern ultramontaner Religiosität erlebte.[...]

Transnationaler Katholizismus und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert: Heinrich Hansjakob in Lourdes und Paray[1]

Von Thomas Mergel

Der katholische Geistliche Heinrich Hansjakob, Pfarrer in Hagnau am Bodensee, Abgeordneter der Katholischen Volkspartei im Badischen Landtag und ein bekannter Volkserzähler und Publizist, reiste im Jahre 1874 für mehrere Wochen nach Frankreich.[2]Selbstverständlich führte ihn sein Weg nach Paris und zu anderen touristischen Sehenswürdigkeiten, doch da er sich die Reise von seinem Bischof als Wallfahrt hatte genehmigen lassen, standen im Mittelpunkt die berühmten Anbetungsstätten in Lourdes, wo seit 1858 Marienerscheinungen zu einer der größten Wallfahrten Europas geführt hatten[3], und in Paray, dem Mittelpunkt der Herz-Jesu-Frömmigkeit, die im 19. Jahrhundert einen enormen Aufschwung als international verbreiteter und organisierter Kern ultramontaner Religiosität erlebte.[4]Seine Reise, die er in einem dickleibigen Buch zusammenfasste[5], führte ihn mithin nicht nur zum „Erbfeind“, der gerade im Krieg besiegt worden war, sondern auch in ein Zentrum der internationalen katholischen Frömmigkeit, in ein Land, das gleichwohl durch die Tradition der Aufklärung und der Französischen Revolution zu einer Metapher für Modernität, mithin, in Hansjakobs Terminologie: der Entsittlichung geworden war. Diese fand er besonders in den großen Städten, notabene in Paris, aber zu seiner eigenen Überraschung entdeckte er auch an den Wallfahrtsorten immer wieder gerade dort Geschäftemacherei, Nationalismus und Unsittlichkeit, wo er echte Frömmigkeit erwartet hatte.

Hansjakobs Beschreibung offenbart so mehrere Ebenen der Wahrnehmung des Nachbarn und „Feindes“.[6]Im Zeitalter des Nationalismus war der Katholizismus eigentlich eine transnationale Bewegung par excellence, und deshalb galt er in Deutschland auch als „Reichsfeind“. Wenn aber zwei „Feinde“ aufeinandertreffen, so werden sie deshalb noch lange nicht zu Freunden: In Hansjakobs Wahrnehmung zeigte sich der Katholizismus als hochgradig national besetzt. Ihm selber fiel dies zunächst bei den Franzosen auf. Sie, so seine Entdeckung, politisieren den Katholizismus im Dienste der Grande Nation, so dass sogar die eigentlich antirevolutionären Katholiken in Hansjakobs Augen zu Protagonisten der Französischen Revolution wurden. Das religiöse Revival in Frankreich, das sich nach der militärischen Niederlage und der politischen Erfahrung mit der Pariser Commune von 1871 unter anderem im Bau des nationalen Denkmals der Kirche auf dem Montmartre zeigte, war so in Hansjakobs Augen eigentlich eine Anmaßung, da es die Kriegsniederlage nicht als ein Ergebnis der eigenen moralischen und religiösen Verkommenheit verstand, sondern umgekehrt die höheren Mächte zur Rache am politischen Feind anrief.[7]

Die Verehrung der Deutschen für das Frankreich der Jungfrau von Lourdes und der Herz-Jesu-Verehrung erweist sich in Hansjakobs Erzählung so als unbegründet. Denn die deutschen Katholiken verstehen die Marienwallfahrt nach Lourdes als ein Fanal der religiösen Wiedererweckung gegen den religionsfeindlichen Liberalismus, der die Revolutionen des 19. Jahrhunderts hervorgebracht hat und dem Papst seinen Kirchenstaat geraubt hat; aber den Franzosen dient, wie Hansjakob feststellen muss, sogar Lourdes einem vordergründig politischen Zweck. Der Gottesmutter, die einigen Kindern erschienen ist, wird zugemutet, dass sie das Elsass und Lothringen wieder an Frankreich bringen soll, und wenn Hansjakob im Gespräch mit seinen Gastgebern die Marienerscheinungen nicht auf die Auserwähltheit Frankreichs zurückführt, sondern sie als Gnade gegenüber einer sündigen, weil revolutionären und säkularisierten Nation und also als Aufforderung zur Besserung deutet, so wird ihm der Neid des Deutschen auf das mit göttlicher Zuwendung gesegnete Frankreich unterstellt. Diese Nationalisierung der Heiligenverehrung zeigt, wie tief die nationale Spaltung selbst in die transnationale Gemeinschaft des Katholizismus eingedrungen war. Es mag damit zusammenhängen, dass zwei Jahre nach Hansjakobs Reise im saarländischen Marpingen eine Marienerscheinung stattfand, die sehr ähnliche Momente aufwies wie die von Lourdes: auch die deutschen Katholiken wollten „ihre“ Marienerscheinung haben.[8]

Das Buch diente aber den deutschen Lesern keineswegs nur als die Aufklärung über den Erbfeind durch katholische Augen, sondern auch als Parabel über eine zu vermeidende eigene Zukunft, eine Zukunft freilich, die für den Autor mit dem gerade in Deutschland stattfindenden Kulturkampf, der großen Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche, schon angefangen hatte. Wenn man auf diesem, von den Franzosen zuerst beschrittenen Weg weitergehe, so Hansjakob, dann müsse notwendig ein politisch-moralischer Abfall folgen; und viele der Bemerkungen über Frankreich lesen sich wie Kommentare zu der in Deutschland herrschenden nationalistischen und antikatholischen Stimmung. Wer, so Hansjakob, die katholische Kirche weiter bekämpfe wie der Staat in Deutschland, der riskiere, dass die Unterschichten an Folgsamkeit und Fleiß verlören und habe mithin die Revolution zu gewärtigen. Die Katholiken stilisierte er so zu einem Faktor der Ordnung; dies war freilich eine Interpretation, die von den deutschen Kulturkämpfern durchaus anders gesehen wurde, denn wenn die Katholiken sich gegen die Kulturkampfmaßnahmen mit Mitteln des zivilen Ungehorsams und der Mobilisierung ihrer Wähler wehrten, galten sie den staatlichen Stellen als latent revolutionär, und man verdächtigte sie, gemeinsame Sache mit den Sozialdemokraten zu machen.[9]

Genau entgegengesetzt nahmen die Katholiken den Konflikt wahr. Es war während des Kulturkampfs ein weitverbreiteter Topos, die Maßnahmen der deutschen Staaten gegen die katholische Kirche mit der Unterdrückung der Religion durch die Französische Revolution zu parallelisieren. In katholischen Augen waren es die Kulturkämpfer, die als Revolutionäre zu gelten hatten, mehr noch: die Katholiken sahen sich als Märtyrer, die, wie die urchristliche Kirche, in Katakomben und geheimen Kellern ihren verfolgten Glauben praktizieren müssten, und stellten damit die Modernisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts in die Tradition der Christenverfolgung. Die Franzosen, die Hansjakob gegenüber stolz an diese Tradition der Revolution und des Republikanismus anknüpften, standen so in seinen Augen selbst in den Reihen der Christenverfolger: Konnte man mit einer solchen Einstellung gegenüber der Revolution ein guter Katholik sein? Hier zeigte sich ein tiefgehendes Unverständnis gegenüber der kollektiven Erinnerung, die den Katholizismus der „Anderen“ prägte, die sich, wollten sie der französischen Nation angehören, nicht ohne weiteres vom nationsbildenden Mythos von Revolution und Republik dispensieren konnten.[10]Die Deutung, dass irdische Ereignisse in engem Zusammenhang zur religiös-moralischen Haltung stünden, war beidseitig, führte aber zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen: Für die Franzosen, und zwar auch und gerade die Katholiken, zeigte sich die Unchristlichkeit der deutschen Nation darin, dass sie die Nation von Jeanne d’Arc und Lourdes um das Elsass und Lothringen beraubt hätten. Bei Hansjakob dagegen schimmerte die Ansicht durch, dass die Kriegsniederlage eine göttliche Strafe für die religiöse Verworfenheit der Franzosen war. Gerade wie die protestantischen Hoftheologen in Berlin sagten, geriet auch bei ihm der Krieg zu einem Gottesgericht über die Franzosen, nur mit dem Unterschied, dass die Berliner Kaiserideologen den Sieg des Protestantismus über den Katholizismus feierten, während Hansjakob den Sieg eines gläubigen über ein ungläubiges Volk feststellte, das den Sonntag nicht heiligte und die Frömmigkeit politisierte.[11]In beiden Deutungen war gleichermaßen eine Nationalisierung der Religion aufgehoben: Eben das, was Hansjakob seinerseits den Franzosen vorwarf.

Der Bericht wirft so eine Reihe von spannenden Fragen für eine transnationale Geschichte des Katholizismus in Europa auf – eine Geschichte, die es noch nicht gibt: Erstens lässt er fragen, wie weit die Katholiken, die staatlicherseits der nationalen Unzuverlässigkeit verdächtigt wurden und ja auch in der Tat „ultra montes“, also nach Rom blickten, selbst dem Schema der nationalisierten Wahrnehmung unterlagen und welche nationalen Spielarten der europäische Katholizismus in diesem Zusammenhang entwickelte. Die nationale Prägung ist bei den Kolonialkatholizismen in Irland oder Polen evident, doch auch in Tirol, Ungarn oder Spanien hat der Katholizismus nationsbildende Funktionen übernommen.[12]Zweitens kann man fragen, in welcher Weise die Katholiken der verschiedenen Länder sich gegenseitig wahrgenommen und beeinflusst haben. Es scheint nämlich einerseits, als ob aus der Ferne eine intensive gegenseitige Beobachtung stattgefunden hat, die auch zu einer Vorbildfunktion etwa des irischen Katholizismus geführt hat.[13]Im direkten Kontakt war aber offensichtlich die nationale Prägung stärker als die religiöse. Die polnischen Katholiken etwa, die im Ruhrgebiet als Arbeitsmigranten lebten, hatten kaum Kontakt zum deutschen Katholizismus und prägten eine völlig separierte katholische Vereinskultur aus.[14]Ähnliches ist für die Einwanderer in den USA festgestellt worden, wo die katholischen Gemeinden der Iren oder der Italiener strenge Abgrenzung beobachteten und sich mitunter sogar die Kirchen streitig machten.[15]Und schließlich könnte man drittens fragen, inwieweit Laien und Klerus, vor allem Bischöfe und der Vatikan, mit diesen Abgrenzungen und Konflikten umgegangen sind. Im Ersten Weltkrieg haben auch die Bischöfe Frankreichs und Deutschlands sich den hegemonialen Deutungen ihrer Nationalismen angeschlossen und in einer aufsehenerregenden Kontroverse jeweils für sich beansprucht, einen gerechten Krieg zu führen; der Vatikan hat demgegenüber versucht, eine internationale Mittlerrolle zu spielen.[16]Es scheint am Ende, als ob für die „Schwarze Internationale“ der Katholiken das Gleiche gilt, was für die „Rote Internationale“ der Sozialisten und die „Goldene Internationale“ der Juden, aber auch für andere transnationale Bewegungen wie die Freimaurerei gilt: Dass die überstaatliche Orientierung dieser Bewegungen zwar zu ihrer ideologischen Diffamierung durch den Nationalismus dienen konnte, dass diese selber aber nur wenig reale Kraft aufbringen konnten, um ihrerseits der nationalistischen Imprägnierung der europäischen Gesellschaften im 19. Jahrhundert etwas entgegenzusetzen.[17]Der Nationalismus erwies sich als durchweg stärker.


[1] Essay zur Quelle Nr. 2.4, Heinrich Hansjakob über französische Wallfahrtsorte (1874).

[2] Zu Hansjakob: Hildenbrand, Manfred, Heinrich Hansjakob. Rebell im Priesterrock, 2. Aufl., Haslach 2001. Hansjakob (1837-1916) ist eine widersprüchliche Figur. In der hier präsentierten Quelle zeigt er sich als lupenreiner ultramontaner Klerikaler, der im Streit zwischen Staat und römischem Katholizismus eindeutig für den letzteren Position bezieht. 1873 musste er eine mehrwöchige Gefängnisstrafe absitzen, weil er den badischen Staat und seine Beamten kritisiert hatte. 1878 aber wurde er aus der katholischen Volkspartei ausgeschlossen, weil er in einer Landtagsrede ein Nachgeben gegenüber der liberalen Kirchenpolitik gefordert hatte. Von 1881 bis 1900 informierte er als Spitzel die badische Regierung über Interna des Bischöflichen Ordinariats in Freiburg. Dass er ein glühender Antisemit war und mit dem Zölibat massive Schwierigkeiten hatte – er hatte mehrere uneheliche Kinder und wurde von einem auch regelrecht erpresst –, vervollständigt das Bild des Widerspruchs.

[3] Eine aktuelle Geschichte der Wallfahrt nach Lourdes gibt es nicht. Vgl. Carroll, Michael P., The cult of the Virgin Mary: psychological origins, Princeton 1986, S. 156ff.

[4] Hierzu: Busch, Norbert, Katholische Frömmigkeit und Moderne. Die Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Herz-Jesu-Kultes in Deutschland zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg, Paderborn 1997.

[5] Hansjakob, Heinrich, In Frankreich. Reise-Erinnerungen, Mainz 1874; vgl. Quelle Nr. 2.4 mit Auszügen daraus.

[6] Zu dieser Dimension des deutsch-französischen Verhältnisses im 19. Jahrhundert: Jeismann, Michael, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992.

[7] Vgl. Benoist, Jacques, Le Sacre-Cœur de Montmartre. Bd. 1: Spiritualité, art et politique (1870-1923), Paris 1992. Zur zeitgenössischen Diskussion um Moral und Politik in Frankreich: Zeldin, Theodore, The conflict of moralities. Confession, sin and pleasure in 19th century, in: Ders. (Hg.), Conflicts in French society. Anticlericalism, education and morals in the nineteenth century, London 1970, S. 13-50.

[8] Blackbourn, David, Wenn ihr sie wieder seht, fragt, wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen. Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Reinbek 1997.

[9] Mergel, Thomas, Zwischen Klasse und Konfession. Katholisches Bürgertum im Rheinland 1794-1914, Göttingen 1994, S. 256ff.

[10] Vgl. zum quasireligiösen Charakter des republikanischen Nationalismus und seiner Symbolik in Frankreich: Agulhon, Maurice, Marianne into battle. Republican imagery and symbolism in France, 1789-1880, Cambridge 1981.

[11] Vgl. Hammer, Karl, Deutsche Kriegstheologie 1870-1918, München 1971.

[12] In Ungarn diente die (Wieder-)Einführung des St. Stephans-Kultes dazu, dem protestantisch-liberalen Mythos von 1848/49 eine konfessionelle Nationsdeutung entgegenzusetzen: Klimó, Árpád von, Nation, Konfession, Geschichte. Zur nationalen Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext (1860-1948), München 2003, bes. S. 92ff.; in Spanien gelang es den Konservativen des 19. Jahrhunderts, die ursprünglich liberale Idee der Nation zu verkirchlichen und Spanien zu einer katholischen Nation umzudeuten. Alvarez Junco, José: Mater Dolorosa. La idea de España en el siglo XIX, 6. Aufl., Madrid 2003. Zum „ethnischen Katholizismus“ Polens: Porter, Brian, The catholic nation: Religion, identity, and the narratives of Polish history, in: The Slavic and East European Journal 45 (2001), S. 289-299. Zur Ideologie des „Heiligen Landes Tirol“: Cole, Laurence, Nationale
Identität eines „auserwählten Volkes“: Zur Bedeutung des Herz-Jesu-Kultes unter der deutschsprachigen Bevölkerung Tirols 1859-1896, in: Haupt, Heinz-Gerhard; Langewiesche, Dieter (Hg.), Na­tion und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt am Main 2001, S. 480-515; zu Irland: O’Mahony, Patrick; Delanty, Gerard, Rethinking Irish history: Nationalism, identity, and ideology, New York 1998 und allgemein: David George Boyce, Nationalism in Ireland, 3. Aufl., London 1996.

[13] So etwa in Spanien: Cueva, Julio de la, The assault on the City of Levites: Spain, in: Clark, Christopher; Kaiser, Wolfram, Culture Wars. Secular-catholic conflicts in nineteenth century Europe, Cambridge 2003, S. 181-201, bes. S. 199.

[14] Vgl. Mooser, Josef, Das katholische Vereinswesen in der Diözese Paderborn. Vereinstypen, Organisierungsumfang und innere Verfassung, in: Westfälische Zeitschrift 141 (1991), S. 447-461.

[15] McGreevy, John T., Parish boundaries. The Catholic encounter with race in the 20th century urban north, Chicago 1996, S. 33ff.

[16] Vgl. Krumeich, Gerd, „Gott mit uns“. Der Erste Weltkrieg als Religionskrieg, in: Ders.; Lehmann, Hartmut (Hg.), „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 273-283.

[17] Zum Sozialismus: Groh, Dieter; Brandt, Peter, "Vaterlandslose Gesellen". Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München 1992; zum Judentum: Brenner, Michael, Religion, Nation oder Stamm. Zum Wandel der Selbstdefinition unter deutschen Juden, in: Haupt; Langewiesche (wie Anm. 12), S. 587-601; zur Freimaurerei: Hoffmann, Stefan-Ludwig, Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft 1840-1918, Göttingen 2000, S. 295ff.

 


Literaturhinweise:

  • Blackbourn, David, Wenn ihr sie wieder seht, fragt, wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen. Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Reinbek 1997
  • Clark, Christopher; Kaiser, Wolfram, Culture Wars. Secular-Catholic conflicts in nineteenth century Europe, Cambridge 2003
  • Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.), Nation und Religion in Europa: mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2004
  • Haupt, Heinz-Gerhard; Langewiesche, Dieter (Hg.), Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt 2001
  • Krumeich, Gerd; Lehmann, Hartmut (Hg.), „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000

Hansjakob, Heinrich: Reiseerinnerungen über französische Wallfahrtsorte (1874)[1]

[...] Wir sind katholischer Seits in Deutschland der Ansicht, diese Wallfahrten nach Lourdes und Parry-le-Monial seien ein Zeichen der religiösen Wiedergeburt Frankreichs und wir freuen uns deßhalb jeweils dieser Kundgebungen. Ich bin hierüber, seitdem ich Land und Leute in Frankreich gesehen habe, anderer Meinung und halte all diese Processionen insofern viel mehr für nationale, als für religiöse Demonstrationen, weil ihr Hauptziel ist die politische Wiederherstellung Frankreichs. Man hält Processionen und Wallfahrten, spricht über Gebetsmeinungen aller Art – aber alle laufen genau betrachtet darauf hinaus, zu bitten, daß Frankreich wieder die große Nation werde. Weit entfernt zu behaupten, es seien nicht auch Leute unter diesen Pilgern, welche an die religiöse und sittliche Wiedergeburt ihres Vaterlandes denken, so bin ich doch der festen Überzeugung, daß die Masse des Volkes, das diesen Bittgängen sich anschließt, in dem Glauben und in der Absicht geht, die Mutter Gottes könne und müsse Wunder wirken zu Gunsten Frankreichs. An ihre eigene Besserung und Bekehrung denken die Meisten nicht, alle aber ohne Ausnahme senden in erster Linie heiße Gebete zum Himmel für das „geliebte Frankreich“. Wie sehr ich recht habe mit dieser Anschauung, will ich zeigen, wenn ich eine Marienandacht in der Wallfahrtskirche zu Lourdes unten beschreibe.

Zu alle dem kommt noch, daß die guten Franzosen glauben, die Mutter Gottes habe eine ganz besondere Freude an ihnen und an ihrem Frankreich und werde deshalb vor Allem ihnen in der politischen Bedrängniß zu Hilfe kommen und sie wieder zum großen Volke machen. Mit Stolz weisen sie darauf hin, daß die selige Jungfrau nur ihnen und in ihrem Lande erscheine und sie deßhalb die auserkorenen Kinder Mariens seien. Ich habe ihnen jedesmal zur Antwort gegeben, daß die Mutter des Heilandes ihnen sich zeige und so große Wunder wirke, sei gerade ein Beweis für das Gegentheil von dem, was sie daraus schlössen; denn nach meiner Ansicht wirke Gott durch die seligste Jungfrau solche übernatürliche Dinge, weil es nothwendig sei, um ein religiös so tief gefallenes Volk wieder zu heben. Dazu aber seien Wunder und Zeichen nothwendig, wie unter den Heiden. Ich erinnerte die schwärmerischen Herren und Damen daran, daß ja Maria bei ihren Erscheinungen auf La Salette und in der Grotte von Lourdes nie gesagt habe: „Ich komme zu meiner lieben, großen Nation“, sondern daß sie dort von der Schändung des Sonntags abgemahnt und hier geäußert habe, die Bekehrung der Sünder sei der Zweck ihre Kommens.

Die Worte wirkten jeweils abkühlend, empfahlen mich aber nicht überall. Ja eine Dame sagte mir einmal: „Sie sind aber ein böser Deutscher und gönnen uns die große Gnade nicht aus Franzosenhaß!“ Und sie wollte mir durchaus nicht glauben, als ich ihr erwiederte, es sei mir sehr leid, die Wahrheit sagen zu müssen, und ich würde das französische Volk viel lieber loben als tadeln.“ [S. 311-313]

[...] Den 20. Juni trafen die Elsässer ein; Schmerz und Jubel steigern sich abwechselnd. Die schwarzen Fahnen von Straßburg, Metz und Neu-Breisach ziehen aller Blicke und Herzen auf sich; das Banner von Straßburg trägt das Wappen der Alsatia und darunter den Vers: „Heiliges Herz Jesu, habe Mitleid mit Frankreich und gib uns unser Vaterland wieder!“ Mit den Elsässern sind auch die Pariser Pilger gekommen, ihre große Fahne trägt die Inschrift: „Vivat qui Francos diligit Christus [Es lebe Christus, der die Franzosen liebt]!“ Man muß diese Lieblinge des Heilandes gesehen haben, um die, mir wenigstens, fast an Blasphemie streifende Phrase ganz zu würdigen. [...] Da sage mir einmal einer, ob das Processionen seien, welche die moralische und religiöse Wiedergeburt des französischen Volkes zum Zweck haben sollten! [...] P. Drevon teilte mir mit, daß der Plan bestehe, in Paray eine große Kirche zu Ehren des göttlichen Herzens zu errichten, dafür unter allen katholischen Völkern Europas zu sammeln und dann für jede Nation eine eigene Kapelle in der so erbauten Kirche herzustellen. So sehr ich wünsche, daß die ganze Welt das Herz Jesu liebe und verehre, so möchte ich doch nicht, daß die deutschen Katholiken in Paray eine Kapelle haben, so lange die Franzosen mit derartigen Demonstrationen dort paradiren und so lange sie nicht demüthig und selbstverläugnend gelernt haben, daß die erbarmende Liebe des Heilandes für andere Dinge da ist, als für den verblaßten Gloireschein der Göttin „La France“. [S.490-493]

[...] Ich habe ein großes, reiches, von Gott überaus gesegnetes Land gesehen und eine Nation, welche auf allen materiellen Lebensgebieten, in Kunst und Wissenschaft, großes geleistet hat und noch leistet, eine Nation, welche eine ruhmreiche, aber auch blutige Vergangenheit hinter sich hat. Aber dieser großen Nation fehlt die einzig wahre Größe jedes Menschen und jedes Volkes, das Durchdrungensein von Religion. Frankreich ist in seiner innersten Masse, in seinem Volkskerne vergiftet; das arme Volk hat, wie ich nachgewiesen, seinen religiösen und politischen Auctoritätsglauben, seinen kirchlichen und bürgerlichen Gehorsam eingebüßt, eingebüßt durch Stürme und Revolutionen der verschiedensten Art, welche die Grundpfeiler aller socialen Ordnung, Kirche und Staat, erschüttert haben. Und wer sehen will, wie weit ein Volk herabkommt und wie schwer einem Volke aufzuhelfen ist, wenn das religiöse Bewußtsein und die Achtung vor den göttlichen Geboten in den untersten Schichten des Volkes verschwunden und gewichen ist – der gehe nach Frankreich. Hier können wir aber auch lernen, was aus einem Volke wird, das, trunken über siegreiche und blutige Waffenthaten, im Ruhmesschwindel und zum Ruhmesschwindel mißbraucht von selbstsüchtigen Herrschern, dem Wahne verfallen ist, als sei es die einzige große Nation auf Erden. Wir können sehen, was aus einem Patriotismus wird, der alle vernünftigen Grenzen übersteigt und zum Nationalkult geworden ist. Wir können aber ferner auch sehen, was aus der katholischen Kirche wird, wenn sie sich in den Staatsdienst begibt, „das Joch des römischen Stuhles“ und die Abhängigkeit vom Felsen Petri lockern oder abschütteln will, und, statt frei zu werden, in die entehrende Knechtschaft launischer Despoten fällt.[...]. Aber, und hier wende ich meine Blicke auf Deutschland, möge der Herr des Himmels, der die Geschicke der Menschen und Völker lenkt, Deutschland bewahren vor französischen Zuständen, so lange es noch Zeit ist. In unserem braven deutschen Volke lebt noch, Gott sei’s gedankt, im Verhältnisse zum französischen ein tiefer Fond religiöser und politischer Auctorität, aber an diesem heiligsten Kleinod jeder Nation wird schon seit Jahren gerüttelt, die ersten Bollwerke sind bereits niedergerissen. Was Voltaire und die Encyclopädisten gerade vor hundert Jahren in Frankreich in Scene setzten, spielt heute und seit einer Anzahl von Jahren in der deutschen Presse und in der deutschen Literatur. „Kulturkampf“ nennt man diese Vorgänge, und unter diesem Losungsworte sieht die herrschende Partei unserer Tage nicht, daß mit dem religiösen Gefühle des Volkes auch die politische Auctorität zu wanken beginnt. ... Geht der Kampf aber so fort, so werden wir 1889 in Deutschland jene entsetzliche Aera beginnen, welche Frankreich 1789 angefangen hat und unter deren Folgen es heute noch so fast rettungslos darniederliegt – und unter Blut und Thränen wird die künftige Generation unseres deutschen Vaterlandes am Grabe der religiösen und politischen Auctorität unseres Volkes stehen. [S. 508-510]



[1] Auszüge aus: Hansjakob, Heinrich, In Frankreich. Reise-Erinnerungen, Mainz 1874, S. 311-313, 490-493, 508-510.

 


Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
Für das Themenportal verfasst von

Thomas Mergel

( 2006 )
Zitation
Thomas Mergel, Transnationaler Katholizismus und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert: Heinrich Hansjakob in Lourdes und Paray, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1340>.
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