Universalgeschichtliche Probleme. 1904/1905

Viel wichtiger sind für unsere Betrachtungen diejenigen Vorgänge universaler Beziehungen, in denen es gelingt, tatsächliche starke Einflüsse einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft einer anderen innerhalb ihres menschlich verlaufenden Entwicklungsprozesses als in ständiger Entwicklung fortdauernd einzuimpfen.[...]

Lamprecht, Karl: Universalgeschichtliche Probleme (1904/05) [1]

Viel wichtiger sind für unsere Betrachtungen diejenigen Vorgänge universaler Beziehungen, in denen es gelingt, tatsächliche starke Einflüsse einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft einer anderen innerhalb ihres menschlich verlaufenden Entwicklungsprozesses als in ständiger Entwicklung fortdauernd einzuimpfen. Und darum kommt es darauf an, zunächst festzustellen, unter welchen Bedingungen und in welchen Erscheinungen solche Einflüsse tatsächlich stattfinden.

Offenbar handelt es sich hier zunächst um zweierlei: um die Wege, auf denen solche Einflüsse verlaufen, und um die Gefäße, in welchen sie vermittelt werden. Der erste Punkt führt auf die Geschichte des zwischengemeinschaftlichen menschlichen Verkehrs und damit auf ein Gebiet unendlich verschiedener Möglichkeiten, das im einzelnen in seiner Entwicklung zu gliedern und zu verstehen schon an sich eine der größten universalgeschichtlichen Aufgaben ist. Hinsichtlich des zweiten Punktes aber scheint wiederum eine Doppelteilung am Platze: das Gefäß der Übertragung können entweder Menschen selbst sein oder irgendwelche menschliche Produkte. Der erste Fall liegt z.B. bei allen Völkerwanderungen vor, insofern sie mit dem dauernden Durcheinanderwohnen zweier oder mehrerer menschlicher Gemeinschaften enden; der zweite wird durch die Übertragungen von Werkzeugen, Erfindungen überhaupt, dann aber vor allem durch die Übertragungen rein geistiger Werte durch Denkmäler, Sprache und Schrift (Bilder-, Buchstaben-, Noten- usw. Schrift) bezeichnet. Dabei kann wohl als Gesetz gelten, daß zu allen Zeiten die Elemente der mehr instinktiven und die menschliche Gemeinschaft als solche konstituierenden Kultur, insbesondere die Werte der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kultur, schwerer zu übertragen gewesen sind, da für ihre Übertragbarkeit nicht die geeigneten Wege und Gefäße zur Verfügung stehen; woraus sich die Tatsache erklärt, daß sich der Verlauf der Universalgeschichte wesentlich auf dem Wege der Überlieferung höherer Kulturelemente vollzieht.

Ist es nun aber möglich, die unendlichen Kombinationen und Permutationen der denkbaren Übertragungswege und Übertragungsgefäße rein rational, gleichsam an der Hand mathematischer Formeln zu systematisieren und dann im Sinne eines Systems klärlich zu überblicken? Keineswegs! Nur eine sehr eingehende Erfahrung wird hier an der Hand fortgesetzter universalgeschichtlicher Vergleichungen Klarheit schaffen können; und nur empirisch kann eine der Vermutung nach schließlich sehr einfache und elementare Übersicht über die Übertragungsvorgänge in der bisher betrachteten Richtung gewonnen werden. Einstweilen aber stehen die hierhergehörigen Forschungen, soweit sie überhaupt dem hier aufgestellten oder einem verwandten allgemeineren Gesichtspunkte unterstellt werden, noch ganz in den Anfängen; es handelt sich zumeist noch um die Beschreibung des äußeren Vorganges und keineswegs schon um die Erkenntnis des inneren, psychologischen Kerns der Sache. Da kann z.B. der Weg der Vermittlung entweder ein spezifisch räumlicher oder ein zeitlicher sein, und im ersteren Falle mag man von Rezeption, im zweiten von Renaissance sprechen. Daneben kann der Weg dieser Vermittlung ein ein- oder mehrmaliger, ein intermittierender, ein lange Zeit andauernder, ein einseitiger, nur der Initiative der einen in Betracht kommenden Gemeinschaft offenstehender oder ein zweiseitiger sein: Unterschiede, die gelegentlich auf besondere geographische und klimatische Verhältnisse, nicht selten auch auf besondere Kulturdifferenzen zurückgehen mögen. Und dementsprechend wird man, unter Anwendung des Bildes eines bekannten physikalischen Vorganges, für einzelne dieser Vorgänge etwa von osmotischen Erscheinungen, Diosmose, Endosmose, Exosmose sprechen können. Was aber die Gefäße der Übertragung angeht, so scheint der wichtigste Unterschied der zwischen kurz- und langandauenden Gefäßen zu sein. Zu den kurzandauernden gehört z.B. der Einzelmensch, zu den langandauernden die Rasse und die Schrift. Auf den langandauernden beruht die Möglichkeit des mindestens teilweisen Wiedererwachens einer als Ganzes schon erstorbenen Kultur, also die Renaissance in jederlei Form: eine der merkwürdigsten Erscheinungen menschlicher Entwicklung.

Es versteht sich, daß mit den wenigen soeben geäußerten Worten alles andere als etwa eine Theorie der Wege und Gefäße universalgeschichtlicher Beeinflussung gegeben ist; genug, wenn die Größe der hier vorliegenden Probleme einigermaßen angedeutet erscheint. Denn wie unendlich viel ist auf diesem Gebiete noch zu arbeiten, wie liegen hier die Goldbarren gleichsam großer wissenschaftlicher Entdeckungen auf der Straße für den, der sie finden will!

Ebensowenig aufgeklärt, doch rascher Aufklärung anscheinend zugänglicher sind Fragen, die sich an das Ergebnis solcher zwischengemeinschaftlicher, universalgeschichtlicher Übertragungen knüpfen. Man kann da vornehmlich nach dem Ausbreitungsraume, dem Zeitmaße und der (natürlichen psychischen) Wirkungsmöglichkeit der Übertragungen fragen. Auf diese Fragen geben die bisher genauer bekannten hierhergehörigen Vorgänge schon einigermaßen Antwort; zugleich verhelfen teilweis allgemeine psychologische Erkenntnisse wenigstens zur richtigen Problemstellung. Was den Ausbreitungsraum betrifft, so erscheint er für ein vereinzelt übertragenes Objekt unter Umständen unbegrenzt, der Regel nach freilich zunächst an den Verbreitungsbereich der Tätigkeit gebunden, in dessen Gebiet das Objekt einschlägt.

Macht dieser Satz den Eindruck der Selbstverständlichkeit, so ist es doch bemerkenswert, daß er auch da zutrifft, wo es sich um die Übertragung ganzer Summen von Objekten, ja ganzer Kulturen handelt. Auch sie begreifen zunächst nicht die ganze fremde Gemeinschaft, sondern nur diejenigen Angehörigen dieser, die zu ihnen besondere Beziehungen haben oder sich zu ihnen in besondere Beziehungen setzen. Und zwar gilt das für Rezeptionen wie Renaissancen. So ist z.B. die Rezeption des nordfranzösisch-provençalischen Ritterideals des 12. Jahrhunderts in den anderen europäischen Kulturen zunächst und in der entscheidenden Zeit allein von Rittern vollzogen worden, setzte also das Dasein des Rittertums mit seinen wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen oder wenigstens Keimen dieser allenthalben voraus; und die verschiedenen Renaissancen der Antike waren nur möglich, wo sich, autonom oder von oben her geschaffen, bereits entwickelte Elemente von Kopfarbeitern vorfanden, die zur Antike emporsahen, wenn nicht gar des Wahns lebten, sich enthusiastisch in sie versetzen zu können.

Dies sind nun gewiß erst einige ganz verstreute Erfahrungen über die Raumfrage – auch die sozialen Fragen, die hier in Betracht kommen, möchte man zunächst als zur Raumfrage gehörig bezeichnen –, wie sie bei universalgeschichtlichen Übertragungen auftauchen: um wie viel klarer, um wie viel wichtiger für die richtige Beurteilung des Einzelfalles wird das Bild dieser Raumfrage einmal werden, wenn es die Erfahrungen der ganzen uns zugänglichen Menschheitsgeschichte zusammenfaßt!

Ebenso wichtig und für die allgemeine Erkenntnis der psychischen Mechanik des geschichtlichen Verlaufes vielleicht noch belangreicher ist die Betrachtung des Zeitmaßes der Übertragungseinflüsse. Hier scheint so gut wie ausnahmslos zu gelten, daß dieses Zeitmaß, an der Hand des Zeitmaßes der inneren Entwicklungsvorgänge der aufnehmenden menschlichen Gemeinschaft geprüft, sich als beschleunigt ergibt. Ja häufig ist der Eindruck der der vollen Überstürzung; und von ihm aus könnte man die allgemeine psychische Wirkung der inneren Entwicklungsvorgänge wohl als kontinuierlich, die der Übertragungen als katastrophal bezeichnen. Dabei ist die Erklärung dieses Unterschiedes vielleicht schon aus der heute gesicherten historischen Erfahrung her möglich, wenigstens soweit allgemeinere Übertragungen in betracht kommen. Diese sind entweder erzwungen: dann werden sie mit Gewalt eingeführt: also in beschleunigtem Tempo. Oder aber sie sind freiwillig; dann entwickeln sie sich nur, wenn die aufnehmende Gesellschaft sie lebhaft ersehnt: also wieder in beschleunigtem Tempo. Gewiß ist dabei, und alsbald als einfache Folge abzuleiten, daß, überall gleiches Rassetemperament vorausgesetzt, unter mehreren menschlichen Gemeinschaften die Entwicklung derjenigen Gemeinschaft der Zeit nach am raschesten abläuft, die am meisten fremde Einflüsse aufnimmt. Es ist eine Beobachtung, die z.B. vieles im Verlaufe der griechischen Geschichte, verglichen mit den Schicksalen jüngerer Nationen, z.B. der französischen, erklärt.

Doch wir sind mit den letzten Erwägungen schon im Begriffe, in den Bereich eines anderen Problems einzutreten, nämlich der Frage, welches denn die Wirkung, die psychische Wirkung von Übertragungen in der aufnehmenden Gemeinschaft sei. Und hier läßt sich der Ausgang der Betrachtung von einigen elementaren psychologischen Gesetzen, vor allem denen der Assoziation, nehmen. Da kommt zunächst das Gesetz der Ähnlichkeitsassoziation in Betracht: in jedem seelischen Vorgange liegt die Tendenz, gleichartige seelische Vorgänge ins Leben zu rufen. Und des weiteren das Gesetz der Erfahrungsassoziation: Trifft mit einem seelischen Vorgang ein anderer zeitlich zusammen, oder fügt sich zu einem ersten ein zweiter unmittelbar hinzu, so werden beide zu einem Ganzen oder zu einem Gesamtvorgang, derart, daß die Wiederkehr eines Teiles dieses Ganzen die Tendenz der vollen Wiederkehr des Ganzen in sich schließt. Neben diesen Gesetzen aber muß noch ein anderes herangezogen werden: das, wonach seelische Eindrücke nicht dann am stärksten sind, wenn der Kontrast zwischen der Aufnahmefähigkeit und der Kraft des Eindruckes am größten, sondern wenn er ein mittlerer ist, derart, daß das Große der Eindruckskraft und das Kleine der Aufnahmefähigkeit sich nicht isoliert und dadurch abstößt, sondern in sich vergleichbar bleibt. Hieraus ergibt sich für die Fragen, die uns beschäftigen, in einfacher Ableitung: Erstens: wo die Gefäße und Wege der Übertragung einer menschlichen Gemeinschaft nicht einzelne Momente, sondern das Ganze einer fremden Kultur nahebringen, besteht die Tendenz, nicht bloß einzelnes, sondern das Ganze dieser Kultur aufzunehmen und mit der eigenen Kultur zu verschmelzen. Und zweitens: diese Tendenz wird nur unter der Bedingung wirksam, daß die fremde Kultur gegenüber der eigenen nicht Gradunterschiede der psychischen Kraft aufweise, welche so stark sind, daß die Vergleichbarkeit beider Kulturen aufhört.

Diese beiden Folgerungen werden nun allerdings durch alle bisher bekannten geschichtlichen Tatsachen vollauf bestätigt. Insbesondere ist es eine der bekanntesten historischen Erscheinungen, daß Völker mit einer sehr niedrigen Kultur an dem Import sehr hoher Kulturen zugrunde gehen, und daß Völker sehr hoher Kultur selbst Einzelelemente niedriger Kulturen schwer aufnehmen. Im übrigen braucht kaum gesagt zu werden, von wie großer allgemeiner Tragweite diese Feststellungen sind: die erste erschließt das allgemeinste Gesetz universalhistorisch fruchtbaren Zusammenhanges; die zweite zeigt, inwiefern innerhalb dieses Zusammenhanges gleichwohl die innere sozialpsychische Entwicklung der einzelnen geschichtlichen Gemeinschaft, mit anderen Worten die Abfolge der Kulturzeitalter gewahrt bleibt. Allgemeiner weltgeschichtlicher Zusammenhang, aber gebunden an eine Folge von typischen Entwicklungen großer menschlicher Gemeinschaften, ist also das Ergebnis.

Hat man aber dieses Ergebnis in der Hand, so ist es auch möglich, noch etwas Genaueres und doch Generelles über die intimere psychische Wirkung fremder Einflüsse in menschlichen Gemeinschaften auszusagen. Die entscheidende Frage ist hier natürlich, wie sich solche Übertragungen zu der inneren psychischen Mechanik der Kulturzeitalter verhalten. Und da ist denn freilich das Prinzip des Verhaltens schon durch die einfachen Konsequenzen festgelegt, welche soeben aus allgemeinen individual- wie sozialpsychologischen Gesetzen gezogen worden sind: diese Mechanik, eng an die Abfolge der Kulturzeitalter überhaupt gebunden, kann wohl leise Ausbiegungen und Abweichungen, namentlich aber Verstärkungen ihrer Tendenzen erfahren, außer Kraft gesetzt wird sie nicht. Es ist wie mit den von außen kommenden psychischen Einflüssen auf ein einzelnes Menschenleben; gewiß können sie von großer Bedeutung sein, allein jene psychische Mechanik zu beseitigen, die von dem Seelenleben des Jünglings zu dem des Mannes und von dem des Mannes zu jenem des Greises führt, liegt außerhalb ihrer Macht.



[1] Auszug aus: Lamprecht, Karl, Universalgeschichtliche Probleme, in: Ders., Moderne Geschichtswissenschaft, Freiburg 1905, S. 103-130, hier S. 110-115.

 


Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.

Weltgeschichte um 1900[1]

Von Matthias Middell

An der Wende zum 20. Jahrhundert entdeckten die europäischen Intellektuellen auf neue Weise globale Zusammenhänge. Der russisch-japanische Krieg vermittelte ebenso wie die spanische Niederlage gegen die USA 1898, mit der die letzten Reste des ehemals riesigen Kolonialreiches davon gerissen wurden, dass neue Konkurrenten einen allzu selbstgewissen Eurozentrismus herausforderten. Der Welthandel hatte rasant zugenommen und in seiner Dynamik die Wachstumsraten der Weltproduktion weit hinter sich gelassen. Seit dem ersten Patent für Samuel Morse 1839 hatte die Telegrafie eine bis dahin unvorstellbare Beschleunigung der Informationsübertragung ermöglicht, und 1880 war es möglich, von London aus Telegramme in alle Teile des weltweiten Empire zu versenden. Seit 1896 synchronisierte eine erste globale Hochkonjunktur die ökonomischen Entwicklungen, deren Rückgrat die zweite Welle der Industrialisierung wurde. Die Einbeziehung in die weltweite Vernetzung war zu einer unvermeidlichen Voraussetzung für den politischen Erfolg aller Regionen der Erde geworden.

Zugleich forderte die Verdichtung des planetarischen Zusammenhangs die Positionsbestimmung und die Überprüfung bisher gültiger Weltordnungsentwürfe heraus. Für das Selbstbild der Europäer galt dies zunächst im Verhältnis zu den USA, deren Rolle auf den entstehenden Weltmärkten nicht mehr zu ignorieren war und deren scheinbar von keinem Ancien Régime beeinflusste gesellschaftliche Dynamik nicht länger als bloße Ausdehnung Europas zu fassen war. Biologistische und rassistische Theorien über den Rest der Welt, die seit den 1870er Jahren in Europa Konjunktur hatten und den neuen Run auf die außereuropäischen Gebiete begleiteten, brachen sich an den neuen Kolonialerfahrungen und am Kontakt zu den ostasiatischen Kulturen, von deren teilweise noch schlummernder Kraft jene, die China und Japan genauer beobachteten, überzeugt waren.

Im Spiegel der Amerikaerfahrungen verhandelten europäische Intellektuelle aber auch den Übergang der eigenen Gesellschaften in einen Zustand, in dem die soziale Frage und die Integration der Unterschichten immer drängender wurden. Die gemeinsame Reise einer großen Delegation deutscher Wissenschaftler zum Kongress der Künste und Wissenschaften (Congress of Arts and Sciences) im Rahmen der Weltausstellung von St. Louis im September 1904 bot reichlich Anschauungsunterricht für die neuen Weltbilder, und einige der Reisenden nutzten vorangegangene Kontakte aus dem gerade einsetzenden deutsch-amerikanischen Professorenaustausch, um in den USA weitere ethnographische Beobachtungen zu sammeln und die neu gewonnenen Erkenntnisse am lokalen Publikum auszuprobieren.

Der Leipziger Kulturhistoriker Karl Lamprecht nutzte die Einladung an die Columbia University in New York, um Ende Oktober in vier Vorlesungen die Grundideen seiner zwölfbändigen „Deutschen Geschichte“ vorzutragen. Die letzte, fünfte Vorlesungsstunde nutzte der in New York zum Ehrendoktor Ernannte allerdings, um über diese Art akademischer Werbekampagne hinauszugehen. Unter dem Titel „Universalgeschichtliche Probleme“ erörterte er die Möglichkeiten, auf den Nationalgeschichten aufbauend eine Geschichte des neuen globalen Zusammenhangs zu entwerfen.[2]Dieser Essay, der anschließend auch in Deutschland publiziert wurde, ordnet sich in eine ganze Welle weltgeschichtlicher und weltpolitischer Betrachtungen im Wilhelminischen Kaiserreich ein. Was ihn jedoch auszeichnet, sind zahlreiche methodologische Erwägungen, die davon ausgehen, dass der Kern einer globalen Geschichte die Analyse der Interaktionen zwischen den verschiedenen Gesellschaften ist. Wir finden hier vorgeformt, was heute als Geschichte kultureller Transfers oder Verflechtungsgeschichte zu den modernsten Werkzeugen der Historiografie gehört. Dies geschieht natürlich noch nicht in der Sprache von heute und vor dem Hintergrund heutiger empirischer Kenntnisse. Entsprechend füllte Lamprecht Lücken der Belegbarkeit seiner methodisch begründeten Annahmen mit Metaphern und Analogieschlüssen. Dafür diente ihm die Völkerpsychologie seines berühmten Leipziger Kollegen Wilhelm Wundt als Anregung, um von Beobachtungen der Individuen auf das Verhalten von sozialen Gruppen und ganzen Gesellschaften zu schlussfolgern.

Für eine europäische Geschichte gewinnt dieser Vorschlag, dem die zeitgleichen Bemühungen von Hans F. Helmolt[3]oder von Kurt Breysig[4]an die Seite zu stellen wären, eine besondere Bedeutung, weil er mit der Konzentration auf die Gründe für eine europäische Überlegenheit in der Moderne brach und die grundsätzliche Gleichberechtigung aller Weltregionen als Ausgangspunkt wählte. Lamprecht selbst, der ab 1905 ein Institut für Kultur- und Universalgeschichte an der Universität Leipzig aufbaute, hat seinen theoretischen Entwurf nur in einer Skizze über die europäischen Expansionen für die Ullstein-Weltgeschichte, die Pflugk-Harttung herausgab, realisiert. Hier zeichnete er die Ausbreitung der ökonomischen Macht Europas über große Teile der Welt nach, konstatierte aber für seine Gegenwart eine Rückkehr zu einem Gleichgewichtszustand, in dem „Expansion gegen Expansion stehen wird“.[5]Und dieser Zustand habe seine Ursache gerade darin, dass nicht ökonomische, politische oder militärische Überlegenheit entscheidend für die Weltpolitik seien, sondern die Fähigkeit zum kulturellen Lernen, zur kreativen Aneignung an anderer Stelle gemachter Innovationen.

Die Narrative europäischer und globaler Geschichte haben nach dem Ersten Weltkrieg im Wesentlichen nicht an diesen Entwurf angeknüpft. Umso wichtiger scheint es, an ihn zu erinnern, nachdem inzwischen der eurozentrische Hochmut fundamentale Erschütterungen erfahren hat.

 



[1] Essay zur Quelle Nr. 4.4, Karl Lamprecht: Universalgeschichtliche Probleme (1904/05).

[2] Vgl. Quelle Nr. 4.4, ein Auszug aus Karl Lamprecht, Universalgeschichtliche Probleme, in: Ders., Moderne Geschichtswissenschaft, Freiburg 1905, S. 103-130.

[3] Helmholt, Hans F., Gegenstand und Ziel einer Weltgeschichte, in: Ders. (Hg.), Weltgeschichte, Bd. 1, Leipzig 1899.

[4] Breysig, Kurt, Formen der Weltgeschichtsschreibung, in: Die Zukunft 7 (1903), Bd. 45, S. 399-409.

[5] Lamprecht, Karl, Europäische Expansion in Vergangenheit und Gegenwart, in: Pflugk-Harttung, Julius von (Hg.), Ullsteins Weltgeschichte, Bd. 6, Berlin 1908, S. 618.

 


Literaturhinweise:

  • Bergenthum, Hartmut, Weltgeschichten im Zeitalter der Weltpolitik. Zur populären Geschichtsschreibung im Wilhelminischen Deutschland, München 2004
  • Chickering, Roger, Karl Lamprecht. A German academic life (1856-1915), Atlantic Highlands, New Jersey 1993
  • Kamphausen, Georg, Die Erfindung Amerikas in der Kulturkritik der Generation von 1890, Weilerswist 2002
  • Lamprecht, Karl, Americana. Reiseeindrücke, Betrachtungen, Geschichtliche Gesamtansicht, Freiburg 1906
  • Middell, Matthias, Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professionalisierung. Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte 1890-1990, Leipzig 2005
Quelle zum Essay
Weltgeschichte um 1900.
( 2006 )
Zitation
Universalgeschichtliche Probleme. 1904/1905, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28303>.
Navigation