Direktiven für das Handeln in Deutschland. 20. Juli 1945

I. Politik der Viermächtekontrolle 1. Die Erhaltung der Einheit der alliierten Front ist eine Notwendigkeit. Die deutsche Hoffnung auf ein Wiedererstarken und eine Revanche klammert sich vor allem an den Gedanken, dass die Koalition bald zerbrechen wird.[...]

Provisorische Regierung der Republik Frankreich: Direktiven für das Handeln in Deutschland (20. Juli 1945)[1]

[Grundsätze. Umfang: ca. 2 Schreibmaschinenseiten]

[…]

I. Politik der Viermächtekontrolle

1.   Die Erhaltung der Einheit der alliierten Front ist eine Notwendigkeit. Die deutsche Hoffnung auf ein Wiedererstarken und eine Revanche klammert sich vor allem an den Gedanken, dass die Koalition bald zerbrechen wird. Den deutschen Spekulationen, die sich auf ein Zerwürfnis unter den Alliierten gründen, muss schnell ein Ende bereitet werden.

2.   Die Politik der Vier-Mächte-Kontrolle muss aus folgenden Gründen versucht werden:

a)   Wir haben kein Interesse daran, unseren Alliierten den Eindruck zu geben, dass wir uns der gemeinsamen Politik als Erste entziehen wollen.

b)  Die Gesamtheit des deutschen Territoriums bildet ein gemeinsames Pfand [gage]. Insoweit es von den vier Besatzungsmächten genutzt werden kann, haben wir ein Interesse daran, dass keine von ihnen zu ihrem alleinigen Nutzen einen Teil der gemeinsamen Aktiva entzieht. (Die Saarfrage bleibt allerdings vorbehalten.)

c)   Die uns zugeteilte Zone kann ihre Existenz nicht aus eigenen Mitteln sichern. Wenn wir verhindern wollen, dass diese Zone dem französischen Steuerzahler zur Last fällt ohne politische Gegenleistungen, die erst in Zukunft ins Auge gefasst werden können, dann darf sie nicht von den Lebensmittellieferungen und Absatzmöglichkeiten abgeschnitten werden, welche die anderen deutschen Regionen ihr bisher geboten haben.

3.   Die gemeinsame Kontrolle darf nicht in die Wiederherstellung einer zentralen deutschen Autorität in Deutschland [autorité centrale allemande en Allemagne] abgleiten. Der Fehler von 1919 darf nicht wiederholt werden: keine Erwägung wirtschaftlicher Interessen und keine Erleichterung der Kontrolle dürfen Priorität erhalten gegenüber dem übergeordneten Interesse einer politischen Dezentralisierung Deutschlands.

4.   Es wäre ein Fehler, im Hinblick auf diese Dezentralisierung jede Macht in ihrer Zone einfach unabhängig vorgehen zu lassen. Natürlich kann Frankreich Vorteile aus einer Unterstützung dezentralisierender Tendenzen in seiner eigenen Zone ziehen. Doch kann es an den Vorgängen in den anderen Zonen nicht desinteressiert sein.

[... Es folgt ca. 1 Schreibmaschinenseite zu den territorialen und politischen Strukturen der drei anderen Besatzungszonen.]

II.  Zonenpolitik

[...] Noch immer stellen die Territorien, die uns zugeteilt sind, keinerlei politische, administrative und ökonomische Einheit dar. Zu ihr gehören Gebiete, die wir nicht auf Dauer besetzen [occuper] wollen. Dagegen gehören bestimmte Regionen nicht dazu, die wir gefordert haben und deren endgültige Besetzung [occupation définitive] durch Frankreich für unsere Sicherheit essentiell ist. [... Folgt weitere Betonung der Unklarheit der Situation.]

Daher ist derzeit, bis zu einer Revision und dem Erhalt einer kohärenteren und kompakteren Zone, folgendes erforderlich:

A   Administrative und wirtschaftliche Ebene:

1.   Bestrafung der für den Krieg Verantwortlichen.

2.   Ausmerzung [Extirper] des Nationalsozialismus, mindestens im Hinblick auf Gestapo-Beamte, SS und Parteifunktionäre, die sich versteckt oder mit falschen Papieren getarnt haben.

3.   Aufbau einer ehrlichen, gerechten, schnellen und effizienten Verwaltung, welche durch die Kontrolle nicht gelähmt wird, in allen Bereichen (einschließlich des Justizwesens). [... Folgt vorläufige Verwaltungsgliederung der Zone.]

4.   Wiederaufbau eines Pressekerns; Orientierung [orienter] dieser Presse; nach Möglichkeit Aufbau einer großen Zeitung nach dem Vorbild der „Frankfurter Zeitung“, die aufgrund ihrer Haltung über die Grenzen unserer Zone hinaus wirken und ein Mittel des französischen Einflusses in Deutschland werden kann; Wiederaufbau eines Rundfunksenders.

5.   Rasche Wiedereröffnung der Grundschulen und Gymnasien und ihre Ausrüstung mit neuen oder vor 1933 verfassten Schulbüchern. Sorgfältige Auswahl der Volksschullehrer. Versuch der Einflussnahme auf die Universitäten Freiburg und Tübingen (leider recht unbedeutend und zu stark konfessionell geprägt).

6.   Sicherung der materiellen Existenzmöglichkeiten unserer Zone.

B   Allgemeinere Politik:

1.   Um zu verhindern, dass die Rheinprovinzen erneut als Ausgangspunkt für einen Angriffskrieg dienen können, müssen sie endgültig vom Rest Deutschlands getrennt [détachées] werden in militärischer, politischer, administrativer und wirtschaftlicher Hinsicht. Auf dem linken Rheinufer müssen wir die preußische Verwaltung zerstören und das allmähliche Wiederentstehen der französischen Institutionen begünstigen, von denen noch Spuren existieren und die von der Bevölkerung positiv aufgenommen werden könnten.

2.   An der Saar hat Frankreich besondere Wirtschaftsinteressen [des intérêts spéciaux d’ordre économique]. Die Saar muss daher von Anfang an Gegenstand besonderer Bemühungen sein, um sie später dem französischen System anzugliedern [efforts particuliers pour être rattachée, ultérieurement, au système français]. Insbesondere müssen die preußischen Führungskräfte im Bergbau rasch ausgeschaltet werden.

Um zu einem Erfolg zu führen, darf diese Dezentralisierungspolitik nicht als eine Politik des Auslandes erscheinen. [...] Sie muss das Werk der Deutschen selbst sein, die Besatzungsmacht hat im Wesentlichen die Voraussetzungen für sie zu schaffen, ihre Entfaltung zu unterstützen und ihre Entwicklung zu schützen. Mit diesem Ziel muss man die früheren demokratischen, aus der Zentrumspartei kommenden, gewerkschaftlichen, sozialdemokratischen Kräfte wiederzuerwecken, zu finden und zu nutzen versuchen, um aus ihnen Bürgermeister, Landräte, Kreisvorsitzende, Gymnasialdirektoren, Schulrektoren zu gewinnen und auf die Probe zu stellen. Die Berufsverbände und die in diesen Regionen mächtigen katholischen Kräfte sollten genutzt werden. Vor allem sollten die Geister in ihrer Entwicklung in einem Sinn gefördert werden, welcher die Abtrennung [détachement] begünstigt; die Deutschen sollten überzeugt werden, dass ihr ehrliches Bemühen um politische und administrative Dezentralisierung die Härten der Besatzung nur vermindern kann. Ein „geleiteter Autonomismus“ [autonomisme dirigé] könnte den Deutschen als ein Fluchtort im Unglück erscheinen, als ein Mittel, sich dem Zugriff Preußens und der Militärkaste zu entziehen, wenn ihnen das zum Nutzen gereicht. (Weimar hat nicht überlebt, weil es die erwarteten Vorteile nicht erbracht hat.)

Eine zentrale Bedingung für den Erfolg der französischen Besatzungspolitik ist die einwandfreie Haltung unserer Truppen in Disziplin und Gerechtigkeitssinn gegenüber einer Bevölkerung, welche Kraft nicht ohne strikteste Ordnung kennt. Dieser Erfolg hängt ebenso von dem Geschick unserer Offiziere und Beamten in der ihnen anvertrauten Aufgabe der Leitung wie der vorsichtigen und durchdachten Beobachtung ab.



[1] Gouvernement provisoire de la République Française. Présidence du Gouvernement. Secrétariat Général du Comité Interministériel des Affaires Allemandes et Autrichiennes. 19 Juillet 1945. Document Nr. 1: Directives pour notre action en Allemagne, unter Vorsitz von de Gaulle im interministeriellen Ausschuss beschlossen am 20.7.1945; Übersetzung aus dem Französischen von Rainer Hudemann. Der Text umfasst sechseinhalb Schreibmaschinenseiten einzeilig und eine ebenso lange Anlage "Vermerk über das deutsche Problem" mit programmatischen Begründungen. Er findet sich in verschiedenen Archivbeständen, u.a. dem Präsidialbestand in den Archives Nationales F60/3034/2. Rainer Hudemann hat die vollständigen Fassungen seinerzeit publiziert in: Ménudier, Henri (Hg.), L'Allemagne occupée 1945-1949, Paris 1989, S. 169-182, (Taschenbuchausgabe Brüssel 1990). Übersetzungen solcher Kerntexte, wie die Vorgaben für das vorliegende Buch sie erfordern, sind schwierig, da sie Gefahr laufen, sowohl Interpretationen vorwegzunehmen als auch politisch relevante Unklarheiten der Texte vorschnell aufzulösen. Grundsätzlich sollte für eine Interpretation das Original herangezogen werden; einige Formulierungen werden daher französisch beigefügt.

 


 

Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.

Lehren aus dem Krieg. Neue Dimensionen in den deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 [1]

Von Rainer Hudemann

Mythen haben eine lange Lebensdauer. Vor allem, wenn sie ihren Ursprung in politischen Urteilen einer Epoche haben, und wenn Zeitzeugenwertungen später als Quellen verwendet werden und kaum oder gar nicht geprüft als Belege für historische Interpretationen dienen. So ergeht es immer noch gelegentlich auch der Struktur der deutsch-französischen Beziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg, obgleich die Forschung seit über zwei Jahrzehnten weit vorangeschritten ist.[2]

In der Erinnerung vereinfachen sich nachträglich viele Konstellationen. Schablonen treten an die Stelle von Erfahrungen, die in der Zeit selbst durchaus weit differenzierter sein konnten und auch so artikuliert wurden. Oder es werden persönliche partielle Erfahrungshorizonte, die als solche nicht falsch erinnert werden, so verallgemeinert, als könnte man als einzelner Zeitzeuge die ganze Komplexität einer aufgewühlten Rekonstruktionsperiode erfassen. Was sich in der eigenen Erinnerung später als vorherrschende Merkmale festsetzt, kann so vereinfacht sein, dass der Charakter einer Epoche, und damit ihr Stellenwert für langfristige Entwicklungen, zu verschwinden beginnt. Im Falle unseres Gegenstandes waren selbst manche Wissenschaftler, welche später die Geschichte dieser Jahre zu schreiben begannen, gegen solche Reaktionen nicht immer völlig gefeit. Zumal wenn über die relativ früh vorgelegten amerikanischen Akteneditionen, die in ihrer Gesamtheit die Differenziertheit der französischen Politik durchaus klar wiedergeben, einzelne politische Urteile Washingtons als scheinbare historische Belege für die Pariser Politik vor Ort in die Forschung Eingang fanden.

Noch schwieriger werden die Dinge, wenn herausragende Staatsmänner die eigenen Leistungen überschätzen oder in ihrer Wirkungsmacht von ihrer Umgebung – aus politischen oder anderen verständlichen Gründen – überschätzt werden. Langfristige Prozesse, welche ihre bemerkenswerten Leistungen erst möglich machten, verschwinden dann aus dem Blick. Bisweilen werden damit sogar gerade diese Leistungen gleich mit unterschätzt. Das gilt etwa für Adenauer und de Gaulle im Freundschaftsvertrag von 1963, dessen frühe politische Grundlagen de Gaulle selbst schon Anfang Oktober 1945 bei seiner ersten Deutschlandreise nach Kriegsende in der französischen Besatzungszone sowohl mehrfach öffentlich als auch intern als Regierungsdirektiven für seine Besatzungsbeamten zu formulieren begann [3]– und nicht erst 1963. In der von Krieg, Besatzung und Kollaboration traumatisierten französischen Öffentlichkeit war in diesen Jahren allerdings noch kaum Raum für solche zukunftsweisenden Deutschland-Konzepte. Dietmar Hüser spricht in der bislang differenziertesten Analyse der vielschichtigen Komponenten dieser Politik daher auch von einer „doppelten“, einer öffentlich proklamierten und einer tatsächlich verfolgten Deutschlandpolitik.[4]Zur Verwirrung in der Wissenschaft trugen die komplexen Strukturen der Nachkriegssituation lange Zeit weiter bei.

Jahrzehntelang nahm man an, es habe im Durcheinander der französischen Nachkriegspolitik überhaupt keine zentralen Anweisungen für diese Politik gegeben. Unterstützt wurde die Annahme durch Zeitzeugen, welche auf untergeordneten Positionen solche Geheimdirektiven – sie gingen an die Verwaltungsspitzen der Zone und die wichtigsten französischen Botschafter in der Welt – natürlich nicht selbst zu Gesicht bekamen und daraus auf deren Nichtexistenz oder zumindest Irrelevanz schlossen. Tatsächlich wurden in Paris allein von Juli 1945 bis März 1946 etwa 60 solcher Direktiven für alle Bereiche der Politik beschlossen; viele von ihnen wurden, in veränderter Form und als Befehle der Militärregierung, auch an die unteren Verwaltungsebenen weitergegeben.

Differenzierte Ansätze in der Praxis der französischen Politik waren schon lange bekannt und beachtet worden. Ihre Relevanz blieb umstritten. Theodor Eschenburg, selbst als stellvertretender Innenminister in Württemberg-Hohenzollern nach dem Krieg ständig auf Kollisionskurs mit der Besatzungsmacht, hielt beispielsweise die überaus aktive und differenzierte Kulturpolitik auch als Wissenschaftler später nur für eine Ablenkung von einer Politik der „Ausbeutungskolonie“. Vielen – darunter anfangs auch mir selbst – erschienen konstruktive besatzungspolitische Maßnahmen als Initiativen mittlerer und unterer Ebenen vor Ort im Gegensatz zur harten Pariser Politik. Dann kamen allmählich, in verstreuten Archivbeständen, die Direktiven zum Vorschein, und es zeigte sich, dass vieles, was in der Praxis vor Ort passierte, tatsächlich Rahmenrichtlinien aus Paris entsprach. Ein Beispiel ist die Wiedereröffnung der Tübinger Universität als erster Universität im Nachkriegsdeutschland. Der örtliche Universitätsoffizier René Cheval blieb bis an sein Lebensende überzeugt, sie allein ins Werk gesetzt zu haben, und proklamierte das auf wissenschaftlichen Kolloquien auch vehement und erfolgreich: Dass davon nicht nur schon in dieser Direktive die Rede war, sondern es erneut auch de Gaulle persönlich in Freiburg Anfang Oktober 1945 angeordnet hatte, wusste er nicht oder hatte es vergessen. Seit nunmehr gut 15 Jahren lässt sich das Bild von einer reinen französischen Ausbeutungs- und Revanchepolitik nur dann noch halten, wenn man einen großen Teil nicht nur der Texte und Konzepte, sondern vor allem der praktischen Umsetzung dieser Politik aus der Interpretation ausblendet. Methodisch zulässig ist das nicht.

Das heißt natürlich nicht, dass zentrale Direktiven in der unübersichtlichen und von vielfältigen Einflussfaktoren geprägten Situation in Deutschland immer direkt umgesetzt wurden. Es bedeutet auch nicht, dass starke Persönlichkeiten vor Ort, wie der missionarische Leiter der Erziehungsabteilung der Militärregierung, Raymond Schmittlein, die praktische Politik nicht wesentlich mit hätten gestalten und manche Pariser Vorstellungen umprägen können. Aber es heißt, dass sehr vieles von dem, was sich rückblickend als konstruktive Maßnahmen erweist oder auch ungewollt konstruktive Folgen hatte, auf höchster Ebene gestützt wurde, und das bis Januar 1946 unter direkter Verantwortung und Einwirkung von de Gaulle als Regierungschef und Vorsitzendem des zuständigen interministeriellen Ausschusses.

Wie schwierig die Definition einer neuen Politik war, welche inneren Widersprüche und Unsicherheiten sie kennzeichneten, wie weitgehend sich aber trotzdem bereits Neuansätze abzeichneten, zeigt schon die erste, am 20. Juli 1945 unter Vorsitz von de Gaulle persönlich verabschiedete Direktive, die in der vorliegenden Quelle auszugsweise wiedergegeben wird.[5]

Die politische Gesamtlage war noch unklar. Große Teile ihrer Zone waren den Franzosen soeben erst von Amerikanern und Briten übergeben worden, und sie waren in ihrem inkohärenten Zuschnitt administrativ kaum in den Griff zu bekommen. Die Potsdamer Konferenz war – ohne Frankreichs Beteiligung – gerade erst angelaufen, der Alliierte Kontrollrat hatte sich noch nicht konstituiert, der neue Oberbefehlshaber General Pierre Koenig war noch nicht im Baden-Badener Hauptquartier eingetroffen. Unklarheit kennzeichnete denn auch viele der Formulierungen, aus denen sich unterschiedliche praktische Maßnahmen ableiten ließen und in der Folge auch abgeleitet wurden.

Sicherheit stand im Vordergrund der Argumentation. Doch eine Neuauflage der gescheiterten Sicherheitspolitik vom Typus Versailles schied aus. Schon jetzt, und das sollte sich langfristig für die Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen im europäischen Rahmen als entscheidend erweisen, wurde Sicherheit unmittelbar nach Kriegsende amtlich neu und differenziert definiert. „Wir müssen auf die Zerstörung sowohl des preußischen wie des Hitlerschen Werkes zielen“ – das war der politische Ursprung für weit gefächerte, bald als „Demokratisierung“ proklamierte Programme, mit denen man die vermuteten gesellschaftlichen Grundlagen für Diktatur und Militarismus in der deutschen Gesellschaft beseitigen wollte. „Entpreußung“ trat zur „Entnazifizierung“.

Kulturpolitik war damit kein Palliativ, sondern wurde ein integraler Teil der Demokratisierungs- und damit der französischen Sicherheitspolitik. Hohe Finanzmittel flossen dafür in den nächsten Jahren. Die im August 1945 in der Pfalz einsetzenden, bis April 1946 die ganze Zone erfassenden Sozialversicherungsreformen, in denen vor allem die Wiederherstellung der Selbstverwaltung und der Ausgleich zwischen den Lebensbedingungen von Arbeitern und Angestellten im Mittelpunkt stand, gehörten in den gleichen Kontext.[6]Die Besatzungsmacht realisierte hier manches, was 1949 zunächst wieder rückgängig gemacht wurde, zwischen 1956 (Rentnerkrankenversicherung) und 1970 (Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) dann zu Säulen des bundesdeutschen Sozialsystems wurde und mit dem Finanzausgleich in der Krankenversicherung seit 1994 bis heute neue Tagesaktualität gewann.

Wie war Sicherheit zu organisieren? Altbekannte Vorstellungen von einem eigenständigen Rheinland tauchten wieder auf, schon sie wurden aber nicht mehr klar formuliert: „Contrôle“ konnte vieles abdecken, „occupation“ militärisch oder in einem weiteren Sinn gemeint sein, auch „Abtrennung“ wurde nicht genauer definiert. Im April 1946, als interne französische Planungen für eine deutsche Bundesverfassung schon liefen, beschloss man, Rheinland-Pfalz zu gründen, kurzfristig als Kompromiss zwischen diffusen Abtrennungsideen mancherlei Art und deutscher bundesstaatlicher Struktur, langfristig faktisch als eine unter vielen konstruktiven Beiträgen zum deutschen Wiederaufbau.

Bald erwiesen sich die unklaren Rheinland-Formulierungen international als Spielmaterial in Verhandlungen mit den anderen Alliierten. Denn zentral war eine andere Forderung, und das bereits in diesem frühen Text: die internationale Garantie der Kontrolle des deutschen Rüstungspotentials an der Ruhr („Westfalen“) und des Zugriffs auf seine Ressourcen. Daraus entwickelte sich bald ein Kern der französischen Forderungen, mit dem man 1949 in der Durchsetzung des Ruhrstatuts auch Erfolg hatte. 1952 wurde es mit der Montan-Union in neue, europäische Formen überführt, wie Jean Monnet sie in der Exilregierung in Algier bereits 1943 skizziert hatte: Das Spannungsverhältnis von Kooperation und Kontrolle, wie es die französische Deutschland- und Europapolitik weit über die 50er Jahre hinaus kennzeichnen sollte, war seit Kriegsende angelegt.

Der zweite Kernpunkt, der den gesamten Text durchzog, war eine Dezentralisierung Deutschlands. Wie sie bewerkstelligt werden und wie weit sie gehen sollte, wurde wiederum unklar und mit verschiedensten Ideen formuliert. Aber das Leitmotiv ist deutlich. Mit der allgemeinen Deutschlandpolitik waren solche Felder eng vernetzt. Schon diese erste Direktive zeigt, dass und weshalb Paris weder politisch noch materiell ein Interesse daran hatte, sich von den anderen Alliierten abzukoppeln. Die viel zitierte französische „Obstruktionspolitik“ im Alliierten Kontrollrat wurde dann tatsächlich ein differenziertes Gebilde, in dem es im Kern um die Erhaltung der deutschen Wirtschaftseinheit bei Verhinderung einer neuen politischen Zentralgewalt in Deutschland unter deutscher Leitung und ohne alliierte Kontrolle ging: „Zentralverwaltungen“ ja, „deutsche Zentralverwaltungen“ nein – das wurde im Kontrollrat rasch die französische Devise. Hier wurde sie bereits als Ablehnung einer „zentralen deutschen Autorität in Deutschland“ formuliert. In der Sozialversicherung und anderen ökonomisch besonders gewichtigen Bereichen hielt man sich in der eigenen Zone denn auch enger an die gemeinsamen Kontrollratsplanungen als die Briten und die Amerikaner, während man beispielsweise zonenübergreifende Gewerkschaften als politische Organisationen einstufte und ablehnte.

In solchen Texten steckte noch viel von der alten Sprache der Zwischenkriegszeit, und teilweise waren es auch die gleichen Beamten, die sie formulierten. Die Sprache verleitete auch Teile der Forschung lange dazu, die gerade in ihr angelegten Nuancierungen zu übersehen, welche direkt oder indirekt auf grundlegend neue Konzepte verwiesen. Denn Begriffe wie „Annexion“ oder „État rhénan“ aus dem alten Sprachgebrauch fehlten, de Gaulle hatte beides klar abgelehnt; weder von „Staatenbund“ noch von „Autonomie“ (statt einem vagen „Autonomismus“) war mehr die Rede: gerade hier hätte man derartige klarere Begriffe erwartet, wie sie in der öffentlichen, auch parlamentarischen Debatte 1945 selbstverständlich waren. Nicht einmal die Annexion der Saar forderte man, sondern wählte dafür unklare Formeln, die auf den dann 1947 erfolgten Wirtschaftsanschluss hindeuteten; in einer speziellen Saar-Direktive im August 1945 nahm man den Begriff „Assimilation“ zu Hilfe. Den Umbruch im französischen Denken charakterisierte diese erste Direktive auch in ihrer Sprache.

Man erfasst die französische Politik erst recht nicht, wenn man nicht das Gesamtgeflecht von Konzepten und praktizierter Politik zueinander in Beziehung setzt: neue Wege im Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland, in der innerfranzösischen Résistance wie der Exilregierung längst angedacht, wurden bereits 1945 Teil der Regierungspolitik. Seit 1946 entfalteten sie allmählich eine Dynamik, welche – gerade auch in ihren Wechselwirkungen mit den mittelfristigen Konflikten und Gegensätzen der Besatzungsjahre – langfristig Grundlagen für eine dauerhafte, allerdings auch weiterhin oft von Konflikten geprägte Kooperation im europäischen Rahmen legte. Deutsch-französische Kooperation war nicht mehr allein ein Konzept von Idealisten, die im Schrecken der Kriege neue Ideen entwickelt hatten. Man brauchte auch nicht die Amerikaner, um sich zu kooperativen Konzepten zwingen zu lassen.

Kooperation wurde nach dem Zweiten Weltkrieg sicherheitspolitisch und materiell zur Existenzfrage für Frankreich als Großmacht. Viele politische und ökonomische Entscheidungsträger hatten das schon 1945 klar erkannt und handelten bereits danach, auch wenn sie der Öffentlichkeit oft ein anderes Bild gaben. Damit konnte die Annäherung zwischen den beiden Ländern als Werk charismatischer Staatsmänner in den späteren Jahren auf Konzepten, Realisierungen und administrativen sowie menschlichen Vernetzungsstrukturen aufbauen, die seit Kriegsende gewachsen waren.



[1] Essay zur Quelle Nr. 7.3, Direktiven der Provisorischen Regierung der Republik Frankreich für das Handeln in Deutschland, 20. Juli 1945.

[2] Zum Stand der wissenschaftlichen Debatte vgl. Hüser, Dietmar, Struktur- und Kulturgeschichte französischer Außenpolitik im Jahre 1945. Für eine methodenbewusste Geschichte der internationalen Beziehungen, in: Historische Mitteilungen 16 (2003), S. 155-170.

[3] Zu Kontext, weiteren Belegen und direkter Wirkung vgl. Hudemann, Rainer, De Gaulle und der Wiederaufbau in der französischen Besatzungszone nach 1945, in: Loth, Wilfried; Picht, Robert (Hg.), De Gaulle, Deutschland und Europa, Opladen 1991, S. 153-167.

[4] Hüser, Dietmar, Frankreichs „doppelte Deutschlandpolitik“. Dynamik aus der Defensive – Planen, Entscheiden, Umsetzen in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, innen- und außenpolitischen Krisenzeiten 1944-1950, Berlin 1996; vgl. auch Maelstaf, Geneviève, Que faire de l´Allemagne? Les responsables français, le statut international de l'Allemagne et le problème de l'unité allemande (1945-1955), Paris 1999.

[5] Vgl. Quelle Nr. 7.3, Direktiven der Provisorischen Regierung der Republik Frankreich für das Handeln in Deutschland, 20. Juli 1945.

[6] Zum Zusammenhang solcher ökonomisch zentraler Teilbereiche mit den administrativen Strukturen und Zwängen und mit der Gesamtpolitik gegenüber Deutschland und den anderen Alliierten vgl. Hudemann, Rainer, Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945-1953. Sozialversicherung und Kriegsopferversorgung im Rahmen französischer Besatzungspolitik, Mainz 1988.

 


Literaturhinweise:

  • Hudemann, Rainer, Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945-1953. Sozialversicherung und Kriegsopferversorgung im Rahmen französischer Besatzungspolitik, Mainz 1988
  • Hüser, Dietmar, Frankreichs „doppelte Deutschlandpolitik“. Dynamik aus der Defensive – Planen, Entscheiden, Umsetzen in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, innen- und außenpolitischen Krisenzeiten 1944-1950, Berlin 1996
  • Ders., Struktur- und Kulturgeschichte französischer Außenpolitik im Jahre 1945. Für eine methodenbewusste Geschichte der internationalen Beziehungen, in: Historische Mitteilungen 16 (2003), S. 155-170.
  • Ménudier, Henri (Hg.), L'Allemagne occupée 1945-1949, Paris 1989
  • Maelstaf, Geneviève, Les responsables français, le statut international de l'Allemagne et le problème de l'unité allemande (1945-1955), Paris 1999
Quelle zum Essay
Lehren aus dem Krieg. Neue Dimensionen in den deutsch-französischen Beziehungen nach 1945.
( 2006 )
Zitation
Direktiven für das Handeln in Deutschland. 20. Juli 1945, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28275>.
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