Europäische Einwanderung in Argentinien. Statistisches Material 1869-1914 (Tabellarische Übersicht über den Ausländeranteil laut Volkszählungen (1969, 1895 und 1914) und über die Staatsangehörigkeiten (1877-1897))

Europäische Einwanderung in Argentinien. Statistisches Material 1869-1914 (Tabellarische Übersicht über den Ausländeranteil laut Volkszählungen (1969, 1895 und 1914) und über die Staatsangehörigkeiten (1877-1897))

Tabelle 1: Ausländer in der argentinischen Bevölkerung laut Völkerzählungen 1869, 1895 und 1914

ZensusAusländerAusländer je 100 EinwohnerAusländer je 100 eingeborene Argentinier

1869

210.000

12,1

13,8

1895

1.004.500

25,4

34,0

1914

2.358.000

29,9

34,9

Cornblit, Oscar, Inmigrantes y empresarios en la política argentina, in: Di Tella, Torcuato; Halperín Donghi, Tulio (Hgg.), Los fragmentos del poder. De la oligarquía a la poliarquía argentina, Buenos Aires 1969, S. 394.

    Tabelle 2: Zahl der Einwanderer von Übersee nach Staatsangehörigkeit pro Jahr zwischen 1877 und 1897

1877-1897 Nacionalidad de los inmigrantes de Ultramar

Alsina, Juan A., La inmigración europea en la República Argentina, Buenos Aires 1898.

Die europäische Einwanderung in Argentinien 1810-1914. Politikkonzepte, staatliche Förderung und Auswirkungen auf die argentinische Arbeitswelt[1]

Von Verónica Oelsner

Nach dem Ablegen seines Kolonialstatus im Jahr 1816 musste das alte Vizekönigreich am Río de la Plata politisch, sozial und wirtschaftlich neu definiert werden. Über das ganze 19. Jahrhundert hinweg standen die Bemühungen im Vordergrund, aus dem Gebiet der damaligen spanischen Kolonie einen modernen Nationalstaat zu bilden. Es handelte sich bei dem im Entstehen begriffenen Argentinien um ein Land, das aus der „Barbarei“ herauskommen musste, um sich der „Zivilisation“[2] und dem „Fortschritt“ anderer Teile der Welt – nämlich Europa und USA – anzuschließen. In diesem Sinn wollte man das Land für moderne europäische Einflüsse öffnen. Politiker und Intellektuelle der Zeit sahen in der Einwanderung aus Europa das „Heilmittel“, um die „Qualität“ der Bevölkerung anzuheben und die Entwicklung der Wirtschaft zu beschleunigen. Entsprechend wurden auf staatlicher Ebene zahlreiche Maßnahmen eingeführt, um die Einwanderung arbeitsamer Europäer zu fördern. Daraus entstanden Einwanderungswellen, welche eine außerordentlich starke Wirkung auf die demographische Struktur und die Arbeitswelt Argentiniens hatten.

Die europäische Einwanderung in den Augen der argentinischen Politiker: „Wenn Spanien das Problem ist, soll Europa die Lösung sein“[3]

Als erster oberster Regierender der Provincias Unidas del Río de la Plata (Vereinigte Staaten am Río de la Plata), versuchte Juan Martín de Pueyrredón (1776-1850) die Einwanderung zu fördern. Die Einwanderungswellen sollten die Industriellen, Handwerker, Bauern oder Händler bringen, die das Land benötigte. 1817 versprach Pueyrredón, dass die Regierung allen Fabrikanten, Bauern und Kapitalisten[4], die sich im Lande niederlassen wollten, Brachland zustellen würde, und dass ihre Besitztümer, Möbel, Maschinen, Werkzeuge und weitere nötige Instrumente für ihre Niederlassung vom Zoll befreit werden sollten.[5] Während seiner diplomatischen Mission in Europa wiederum behauptete Bernardino Rivadavia (1780-1845) – als Mitglied der ersten revolutionären Regierung und späterer Präsident des Landes –, dass „[…] der Anstieg der Bevölkerung [durch die Einwanderung, V.O.] diesem Staat nicht nur sein erstes und dringenderes Bedürfnis nach der Befreiung sondern auch das wirkungsvollste, wenn nicht sogar das einzige Mittel ist, um die entwürdigenden spanischen Gewohnheiten und die verhängnisvolle Kastengraduierung zu zerstören, und um eine homogene, emsige und sittliche Bevölkerung zu bilden, welche die einzige solide Basis der Gleichheit, der Freiheit und folglich des Wohlstandes einer Nation darstellt.“[6]

Auch für Domingo Faustino Sarmiento (1811-1888) – Lehrer, Journalist, Gouverneur und sogar Präsident Argentiniens – stellte die europäische Kultur das Gegenmodell zu den spanischen Sitten dar, die unter den bereits im Land Geborenen so tief verankert waren. In den argentinischen Pampas ließen sich bereits die Unterschiede feststellen zwischen „[…] der deutschen oder der schottischen Kolonie südlich von Buenos Aires und dem Dorf, das sich im Hinterland bildet: bei der ersten sind die Häuser gestrichen, die Fassaden immer gepflegt […] und die Einwohner sind in andauernder Bewegung und Aktivität. Sie melken Kühe, produzieren Butter und Käse, und einige Familien haben es sogar geschafft, ein Vermögen zu verdienen und in die Stadt umzuziehen, um ihren Wohlstand zu genießen. Das Dorf der Eingeborenen ist die niederträchtige Rückseite dieser Medaille.“[7]

Auf eine ähnliche Weise betrachtete die eingeborenen Einwohner der Pampas Félix Frías (1816-1881) – ein argentinischer Diplomat in Chile. Er glaubte fest an die Zivilisierungskraft, die europäische Immigranten auf die lokale Bevölkerung ausüben könnten: „[…] der Ausländer ist der lebende Agent, der beste Leiter der Zivilisierung. Dieser durch die Bildung und die Gewohnheit der Arbeit moralisierte Mensch ist die deutlichste Lehre, die einem indigenen Einwohner in Südamerika angeboten werden kann. […] Die Anwesenheit des europäischen Menschen, d.h. das unmittelbare Beispiel des Menschen, der seine Familienverpflichtungen – die Verpflichtungen, die ihn mit anderen Menschen und mit Gott verbinden – kennt und übt, kann und wird mit der Zeit in diesen Ländern das Instrument sein, das die Mittel für die Abschaffung der halb barbarischen Instinkte einsetzen wird, die gegen die Ablehnung des wohltätigen Einflusses der Zivilisation kämpfen, die heute bei uns herrscht.“[8]

Der führende Befürworter der Förderung der Einwanderung war in jedem Fall der Jurist, Diplomat und Abgeordnete Juan Bautista Alberdi (1810-1884). Seiner Ansicht nach würde die Einwanderung das benötigte Wachstum der Einwohnerzahl unterstützen und dabei den „zivilisatorischen Einfluss aus Europa“ verbreiten. Die europäische Einwanderung würde dazu beitragen, eine „zivilisierte Gemeinschaft“ am Río de la Plata zu bilden.[9] Daher verteidigte er entschlossen die Einwanderung aus Europa für den Aufbau der Republik. In einem seiner bekanntesten Aufsätze behauptete Alberdi, dass „…regieren in dem Sinne bevölkern bedeutet, dass bevölkern spontan und schnell erziehen, verbessern, zivilisieren, bereichern und vergrößern bedeutet, so wie das in den Vereinigten Staaten der Fall war. Allerdings ist für die Zivilisierung der einen durch eine andere Bevölkerungsgruppe eine zivilisierte Bevölkerungsgruppe vonnöten; um unserem Amerika die Freiheit und die Industrie beizubringen, ist es nötig, es mit den im Bereich der Freiheit und der Industrie fortschrittlichsten Bevölkerungen Europas zu tun, wie es in den Vereinigten Staaten der Fall ist.“[10] Das Beispiel arbeitsamer Immigranten war für Alberdi das wirksamste Mittel, um die Republik schnellst möglich aus ihrer Rückständigkeit zu holen. So schrieb er: „Wollen wir in Amerika die englische Freiheit, die französische Kultur, die Arbeitsamkeit des Menschen aus Europa und den Vereinigten Staaten pflanzen und heimisch machen? Wir sollten die lebenden Keime davon importieren, die die Auswanderer mit ihren Traditionen verkörpern, und sie hier wurzeln lassen. […] Wir sollten [Amerika] mit Menschen, die diese Traditionen mit sich bringen, bevölkern. […] neben dem europäischen Industriellen wird bald der amerikanische Industrielle entstehen.“[11]

Diese Ideen wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in zahlreiche Regelungen und Maßnahmen umgesetzt und im Jahr 1853 in der ersten Nationalverfassung verstärkt, welche in ihrem Artikel 20 Folgendes bestimmte: „Die Bundesregierung wird die Einwanderung aus Europa fördern; und sie soll die Zuwanderung von Ausländern, die mit der Absicht kommen, das Land zu pflügen, die Industrien zu verbessern und die Wissenschaften und Künste einzuführen und beizubringen, weder beschränken noch mit Steuern belasten.“[12]

Während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden weitere offizielle Maßnahmen verabschiedet. In Anlehnung an die junge Nationalverfassung wurden durch Gesetzgebung weitere Aspekte zur Förderung der Einwanderung reglementiert, wie zum Beispiel die Besiedlung der nationalen Territorien, die Arbeitsverträge, die Landvergabe, der Transport für Einwanderer, die Vorschüsse für ihre Reisekosten, die Einrichtung von Immigrantenhotels sowie die Gründung verschiedener Ämter, die für die Förderung und Kontrolle der Einwanderung zuständig waren.[13] Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen große Einwanderungsgruppen aus verschiedenen Ländern Europas nach Argentinien, in der zweiten Hälfte aber war die Zahl der Immigranten noch viel größer.

Die Einwanderungswellen europäischer Arbeiter und ihre Wirkung auf die argentinische Arbeitswelt

Die Nachricht der offiziellen Bemühungen, ausländische Arbeiter nach Argentinien anzuziehen, verbreitete sich in Europa. Man hörte, dass es zahlreiche Arbeitsstellen mit guten Gehältern gab. Der Franzose Jullien Mellet zum Beispiel schrieb im Jahr 1824 nach seinem Besuch in Argentinien, dass es in Montevideo und Buenos Aires für Uhrmacher, Waffenschmiede, Schreiner, Hutmacher, Gerber, Bäcker, Bierbrauer, Schneider, Schuhmacher, Fassbinder und Kerzenhersteller sehr gute berufliche Aussichten gab.[14] Diese Nachrichten und die offizielle Unterstützung für die Einwanderung hatte in Argentinien ein bemerkenswertes Wachstum der Bevölkerung im Allgemeinen und der Erwerbsbevölkerung insbesondere sowie eine beachtliche Veränderung der Arbeitswelt zur Folge.

Mariluz Urquijo unterstreicht „die überwältige Mehrheit“[15] von Ausländern unter den neuen handwerklichen Beschäftigungen in Buenos Aires der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Handelsbereich und in der Landwirtschaft schlossen sich die kurz nach der Unabhängigkeitserklärung angekommenen Einwanderer den lokalen Arbeitern an; in der Manufakturindustrie waren sie aber sogar „die ersten Besitzer eines fast leeren Feldes“[16]. Mit jeder Einwanderungswelle entstanden vor allem in Buenos Aires neue Industrien, wie etwa die Nudelproduktion, die mit dem Ankommen der ersten Italiener zusammenfällt, oder die Hutfabriken, die vorwiegend ein Ergebnis des Bemühens französischer Einwanderer waren.[17] Mit Ausnahme der Fleischproduktion übernahmen ausländische Arbeiter den größten Teil der Lebensmittelsversorgung der Stadt. Das Gemüse, dessen Konsum sich durch die „Europäisierung“ der Herkunft und Gewohnheiten der städtischen Bevölkerung ausbreitete, wurde von Italienern bewirtschaftet; die Molkereien wurden von Basken kontrolliert. Auf dem Land war das Anwachsen der Schafzucht nur durch die Anwesenheit irischer und baskischer Hirte möglich.[18]

In der der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchsen die Einwanderungswellen aus Europa entscheidend an (siehe Tabelle 1) – weswegen man von „Masseneinwanderung“ spricht. Einwanderer kamen vornehmlich aus Italien und Spanien, aber auch aus Frankreich, Österreich, Deutschland, Großbritannien, Belgien und der Schweiz (siehe Abbildung 1).

Die Einwanderer besetzten die Mehrheit der Führungsstellen im industriellen Bereich und repräsentierten gleichzeitig den größten Teil der angestellten Arbeitskräfte. Eine Branche, in der sie sehr sichtbar waren, war die im Entstehen begriffene Textilindustrie. In den Industrien dieser Branche in der Stadt Buenos Aires vertraten im Jahr 1895 die Italiener 35 Prozent aller Arbeitsgeber, gefolgt von den Franzosen (16 Prozent), den Spaniern (15 Prozent) und erst dann den Argentiniern (12 Prozent). Im gleichen Jahr lagen 78 Prozent aller industriellen Einrichtungen – was auch kleine Werkstätten einschloss – in ausländischen Händen. Unter den Arbeitnehmern in den Fabriken und Werkstätten Argentiniens stellten die Italiener 25 Prozent aller Arbeitskräfte, die Spanier 19 Prozent, die Argentinier 15 Prozent und die Franzosen 11 Prozent. Noch größer war die Zahl der ausländischen Arbeiter in der Stadt Buenos Aires. Für die Hauptstadt unterschied der Zensus 1895 nicht die Staatsangehörigkeit der Arbeiter, gab aber jedoch an, dass 81 Prozent ausländisch war.[19] Für 1914 waren in der Hauptstadt Buenos Aires immer noch 76 Prozent aller Eigentümer von Industrien ausländisch. In einigen Branchen des Handwerks, wie der Maurerei, Schreinerei oder Schneiderei, waren mehr als 80 Prozent der Beschäftigte ausländisch.[20]

Die aus Europa eingewanderten Arbeiter spielten auch eine wichtige Rolle bei der Entstehung der ersten modernen Arbeiterorganisationen. Mit dem Anstieg der Einwanderung wuchs die Anzahl der verfügbaren Arbeitskräfte, welche sich angesichts der schlechten Arbeitsbedingungen bald als Arbeiterschaft organisieren sollten. Die neuen Arbeitsorganisationen sollten in Anlehnung an aus Europa mitgebrachte politische – sozialistische sowie anarchistische – Ideale aufgebaut und mehrheitlich von europäischen Arbeitern geleitet werden.[21]

Unter der sozialistischen Strömung spielte der Verein ‚Vorwärts’ (im Original deutsch) eine wichtige Rolle. Vorwärts wurde 1882 von dem aus Deutschland eingewanderten Arbeiter Karl Mücke und anderen deutschen Exilanten sozialdemokratischer Gesinnung gegründet, die der bismarckschen Repression entflohen waren.[22] Der Verein fungierte als ‚Diffusionskern des Sozialismus’ und dessen Erfahrung im Arbeitskampf. Ziel des Vereins war „zur Verwirklichung der sozialistischen Prinzipien und Ziele beizutragen, in Anlehnung an das Programm der deutschen Sozialdemokratie“[23]. Die deutschen Einwanderer verstärkten die lokalen sozialistischen Kader und setzten die argentinischen Sozialisten mit der sozialistischen Arbeiterbewegung in Europa in Verbindung.

Die Anarchisten, ebenfalls europäische Einwanderer, tendierten eher dazu, sich auf kleine Verbände zu konzentrieren. Jedenfalls herrschte zum Ende des Jahrhunderts die anarchistische Einstellung in vielen Berufsvereinen: unter anderen unter den Maurern, Zigarrenmachern, Bäckern, Gipsern, Schreinern, Schneidern und Wagenbauern. In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts breitete sich der Einfluss der Anarchisten über die kleinen handwerklichen Berufsverbände hinaus auf größere Arbeiterverbände wie die der Hafenarbeiter, Matrosen, Wagenfahrer und Arbeiter des zentralen Obstmarkts. 1910 stellte der Anarchismus die einflussreichste ideologische Strömung unter den Arbeitern dar.[24]

Im Zusammenhang mit der Organisierung der Arbeiter und im Kontext komplexer Urbanisierungsprozesse und Ausbreitung der Fabrikorganisation brachen vor der Jahrhundertwende Arbeiterkonflikte auf. Wie Godio berichtet, fanden zwischen 1881 und 1887 12 Streiks statt. Im Kontext schlechterer Arbeitsbedingungen und gleichzeitigen Wachstums der Arbeiterorganisationen vervielfachten sich die Streiks auf 36 während der Zeit 1888-1890. In den fünf Jahren zwischen 1891 und 1896 erfolgten 57 Streiks. Allein in dem kurzen Eineinhalbjahr zwischen Mai 1901 und August 1902 fanden 55 statt. Und in November 1902 kam es schließlich zu einem ersten Generalstreik. Die Jahre 1903 und 1904 sollten einen neuen Höhepunkt der Streikbewegung darstellen: die Zahl der Streiks war drei Mal so hoch wie die der zwei vorigen Jahre.[25]

Für die anwachsenden sozialen Unruhen wurden die ausländischen Arbeiter verantwortlich gemacht. Ein Teil der Maßnahmen, die ergriffen wurden, um diese schnelle Eskalation der Konflikte zu unterdrücken, zielte folglich auf die Ausländer. Zu den härtesten Maßnahmen zählte das 1902 verabschiedete Aufenthaltgesetz (Ley de residencia), welches die Exekutive dazu ermächtigte, jeden Ausländer abzuschieben, dessen Verhalten als gefährlich für die nationale Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung angesehen werden könnte – weswegen es in der Literatur auch „Vertreibungsgesetz“ genannt wird – sowie ihm aus denselben Gründen die Einreise zu verweigern.[26] Wie der damalige Innenminister die Maßnahme positiv darzustellen versuchte, ging es der Regierung darum, „[…]dem Ausländer, der sich an die Regeln unserer Kultur und unserer Zivilisation nicht halten will, zu sagen, dass sein Recht im Land zu bleiben, ausgelaufen ist. Die Abschiebung eines Ausländers, der die gesellschaftliche Ordnung zerrüttet, bedeutet keine Strafe […] Wichtig ist, ihm die Grenzen des Landes zu zeigen und ihm zu sagen, dass seine Anwesenheit hier nicht erwünscht ist, dass sie den Gesetzen nicht entspricht, die unsere gesellschaftliche Organisation leiten.“[27]

Noch schärfer gegen Einwanderer fiel eine Maßnahme aus, die 1910 ergriffen wurden, die massive Folgen vor allem für die anarchistische Strömung der Arbeiter haben sollte. Um mögliche Aufruhre bei der Feier zum hundertsten Jubiläum der Mairevolution – die 1810 den Weg zu der Unabhängigkeitserklärung von Spanien vorbereitete – zu vermeiden, wurden viele ausländische und argentinische Anführer entweder aus dem Land ausgewiesen oder nach Feuerland – dem südlichsten Gebiet Argentiniens – vertrieben.[28]

Fazit

Die Einwanderung aus Europa wurde von argentinischen Politikern seit Beginn des 19. Jahrhunderts als mächtiges Mittel für den Aufbau Argentiniens und die Entwicklung der Wirtschaft betrachtet und deshalb stark gefördert. Die in der Folge eingetroffenen Europäer spielten in der Tat – wie man sich von ihnen versprochen hatte – eine grundlegende Rolle für das Wachstum der wirtschaftlichen Aktivität und der Erträge des Landes. Ihre Kenntnisse und Initiativen ermöglichten das Entstehen vieler neuer Produktionsbereiche; die Zunahme von Arbeitskräften und die rasche Ausbreitung von Fabriken und Werkstätten. Wie Kritz betont, ließe sich „ohne zu übertreiben sagen, dass, was den Faktor Arbeit anbelangt, das moderne Argentinien durch die Einwanderung geschaffen wurde“[29].

Die Förderung der Einwanderung aus Europa brachte aber auch andere, von den argentinischen Politikern nicht gewünschte Folgen mit sich. Es waren auch europäische Arbeiter, die die Arbeiterorganisationen gründeten und leiteten; es waren ebenso Europäer, die das sozialistische und das anarchistische Gedankengut mit sich importierten, das als Grundlage der angehenden Arbeiterkonflikte diente. So wurden die ursprünglich idealisierten europäischen Immigranten später für die sozialen Unruhen und die Gefährdung der sozialen Ordnung verantwortlich gemacht und entsprechend verfolgt.

Trotz dieses scharfen Widerspruchs, der manchmal bis zur Abschiebung ehemals sehr gefragter Einwanderer führte, blieb die Förderung der Einwanderung wichtig. Keiner der Versuche, die Einwanderung einzuschränken, erhielt genügend Unterstützung. Ganz im Gegenteil: Noch im Jahr 1912 wurde ein neues geräumiges Einwandererhotel eröffnet, das für große Kontingente von Immigranten ausgestattet war. Die Vorstellung der Einwanderung aus Europa als Weg zum wirtschaftlichen Fortschritt blieb gewichtiger als die Angst vor den Risiken.



[1] Essay zur Quelle: Europäische Einwanderung in Argentinien. Statistisches Material 1869-1914 (Tabellarische Übersicht über den Ausländeranteil laut Volkszählungen (1969, 1895 und 1914) und über die Staatsangehörigkeiten (1877-1897)).

[2] Die alte diskursive Dichotomie zwischen Zivilisation und Barbarei wurde in Argentinien von Sarmiento – einer der bekanntesten Figuren der argentinischen Geschichte – durch sein im Jahr 1845 veröffentlichtes Buch „Civilización y barbarie“ eingeführt und prägte seitdem einen großen Teil der Modernisierungsdebatte des Landes. Mit diesen Begriffen war der Kontrast zwischen städtischer, moderner und ländlicher, rückständiger Kultur gemeint – eigentlich vor dem Hintergrund einer starken Konfrontation zwischen zwei politischen Parteien, die das Land für eine Zeit buchstäblich teilte. Vgl. Sarmiento, Domingo F., Civilización y barbarie. Vida de Juan Facundo Quiroga, Buenos Aires 1845.

[3] Obwohl Spanien selbstverständlich auch Teil Europas war, wurde es anders als das übrige Europa gesehen. Seit der Unabhängigkeitserklärung wurde Spanien als die Ursache aller Übel am Río de la Plata gehalten; in den Augen der Modernisierer sollte sein kulturelles Erbe beseitigt werden. Demgegenüber repräsentierte der Rest Europas – mit seiner französischen Kultur, seinem englischen Wirtschaftsliberalismus und seiner deutschen und nordeuropäischen Arbeitsamkeit – als Ganzheit das Vorbild, an das man sich anlehnen wollte.

[4] Bei der Bezeichnung von Personengruppen wird in diesem Essay nur die männliche Form verwendet, da es sich in der Regel nur um Männer handelte: Es waren hauptsächlich nur männliche Arbeitskräfte gefragt, und daher männliche Einwanderer, sowie hauptsächlich es männliche Figuren waren, welche sich tatkräftig mit dem Thema Einwanderung befasst haben.

[5] Mariluz Urquijo, José M., La industria sombrerera porteña, 1780-1835. Derecho, sociedad, economía, Buenos Aires 2002, S. 104-105.

[6] Bernardino Rivadavia am 9. September 1818, zitiert in: Bagú, Sergio, El plan económico del grupo rivadaviano: 1811-1827; su sentido y sus contradicciones, sus proyecciones sociales, sus enemigos, Rosario 1966, S. 128-131. Diese und alle nachfolgenden Zitate sind im Original auf Spanisch und wurden von mir übersetzt (V.O.).

[7] Sarmiento, Domingo F., Facundo, Buenos Aires [1845] 1963, S. 29.

[8] Frías, Félix, in: El Orden, 20.01.1856, S. 2.

[9] Halperín Donghi, Tulio, ¿Para qué la inmigración? Ideología y política inmigratoria y aceleración del proceso modernizador: el caso argentino (1810-1914), in: Konetzke, Richard; Kellenbenz, Hermann (Hgg.), Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas, Köln 1976, S. 437-488, hier S. 449.

[10] Alberdi, Juan B., Bases y punto de partida para la organización política de la República Argentina, Buenos Aires [1852] 1915, S. 13-14.

[11] Alberdi, Juan B., zitiert in: Di Tella, Torcuato S., La controversia sobre la educación Argentina: Sus raíces, in: Revista mexicana de sociología 28 (1966), S. 855-888, hier S. 858.

[12] Congreso General Constituyente, Constitución de la Nación Argentina, Buenos Aires 1853.

[13] Vgl. Kompilation von Da Rocha, Augusto (Hg.), Leyes nacionales clasificadas y sus decretos reglamentarios (Band I), Buenos Aires 1935.

[14] Mellet, Jullien, 1824, zitiert in: Mariluz Urquijo, La industria sombrerera porteña, S. 104.

[15] Mariluz Urquijo, La industria sombrerera porteña, S. 103.

[16] Mariluz Urquijo, La industria sombrerera porteña, S. 103.

[17] Ebd.

[18] Halperín Donghi, ¿Para qué la inmigración?, S. 453.

[19] Devoto, Fernando, Historia de la inmigración en la Argentina, Buenos Aires 2003, S. 265-266; Lattes, Alfredo E.; Sautu, Ruth, Inmigración, cambio demográfico y desarrollo industrial en la Argentina (Cuaderno del CENEP N° 5), Buenos Aires 1978, S. 19.

[20] Devoto, Historia de la inmigración, S. 304.

[21] Panettieri, José, Las primeras leyes obreras, Buenos Aires 1984, S. 7; Sábato, Hilda; Romero, Luis A., Los trabajadores de Buenos Aires. La experiencia del mercado: 1850-1880, Buenos Aires 1992, S. 267.

[22] Bilsky, Edgardo J., Esbozo de historia del movimiento obrero argentino: desde sus orígenes hasta el advenimiento del peronismo, Buenos Aires 1988, S. 10; García Costa, Víctor, El Obrero: selección de textos, Buenos Aires 1985, S. 21-22.

[23] García Costa, El Obrero, S. 22.

[24] Suriano, El anarquismo, S. 309-311, 316.

[25] Godio, El movimiento obrero argentino, S. 78, 105-106, 136-138, 144-151, 170.

[26] Zimmermann, Eduardo, Los liberales reformistas. La cuestión social en la Argentina 1890-1916, Buenos Aires 1994, S. 136-137; Panettieri, Las primeras leyes obreras, S. 7-8; Recalde, Héctor E., La protesta social en la Argentina. Desde las primeras sociedades de resistencia al movimiento piquetero, Buenos Aires 2003, S. 36-38.

[27] República Argentina, Diario de Sesiones de la Cámara de Diputados de la Nación (Band II), 1902, S. 667.

[28] Suriano, El anarquismo, S. 316.

[29] Kritz, Ernesto H., La formación de la fuerza de trabajo en la Argentina: 1869-1914, Buenos Aires 1985, S. 35.



Literaturhinweise

  • Devoto, Fernando, Historia de la inmigración en la Argentina, Buenos Aires 2003.
  • Godio, Julio, El movimiento obrero argentino, Buenos Aires 1987.
  • Halperín Donghi, Tulio, ¿Para qué la inmigración? Ideología y política inmigratoria y aceleración del proceso modernizador: el caso argentino (1810-1914), in: Konetzke, Richard; Kellenbenz, Hermann (Hgg.), Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas, Köln 1976, S. 437-488.
  • Kritz, Ernesto H., La formación de la fuerza de trabajo en la Argentina: 1869-1914, Buenos Aires 1985.
  • Mariluz Urquijo, José M., La industria sombrerera porteña, 1780-1835. Derecho, sociedad, economía, Buenos Aires 2002.

Quelle zum Essay
Die Europäische Einwanderung in Argentinien 1810-1914 Politikkonzepte, staatliche Förderung und Auswirkungen auf die argentinische Arbeitswelt
( 2007 )
Zitation
Europäische Einwanderung in Argentinien. Statistisches Material 1869-1914 (Tabellarische Übersicht über den Ausländeranteil laut Volkszählungen (1969, 1895 und 1914) und über die Staatsangehörigkeiten (1877-1897)), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28340>.
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