Einleitung Lernen und Lehren in Frankreich und Deutschland - Apprendre et enseigner en Allemagne et en France

Seit seiner Entstehung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ist das moderne Bildungswesen sowohl in Frankreich als auch in Deutschland stets Gegenstand umfassender Reformdiskussionen und Reformversuche gewesen. Diese Debatten fragen nach den sachlichen Inhalten und pädagogischen Metho¬den, nach dem Kreis der Lehrenden und Lernenden, nach der Beaufsichtigung und Kontrolle durch Kirche oder Staat oder Gemeinde, aber auch nach den Aufgaben des Bildungswesens als Ausbildungs- und Sozialisierungsanstalt, folglich nach seiner Einbettung in Staat und Gesellschaft, und nicht zuletzt auch nach seiner Instrumentalisierung durch Politik und Macht, wenn die Erziehung Mittel zum Zweck politischer Indoktrinierung wird. Zu diesen Fragen existiert bereits eine umfassende Forschungsliteratur.[...]

Einleitung. Lernen und Lehren in Frankreich und Deutschland - Apprendre et enseigner an Allemagne et en France

Von Stefan Fisch, Florence Gauzy, Chantal Metzger

Seit seiner Entstehung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ist das moderne Bildungswesen sowohl in Frankreich als auch in Deutschland stets Gegen­stand umfassender Reformdiskussionen und Reformversuche gewesen. Diese Debatten fragen nach den sachlichen Inhalten und pädagogischen Metho­den, nach dem Kreis der Lehrenden und Lernenden, nach der Beaufsichtigung und Kontrolle durch Kirche oder Staat oder Gemeinde, aber auch nach den Aufgaben des Bildungswesens als Ausbildungs- und Sozialisierungsanstalt, folglich nach seiner Einbettung in Staat und Gesellschaft, und nicht zuletzt auch nach seiner Instrumentalisierung durch Politik und Macht, wenn die Erziehung Mittel zum Zweck politischer Indoktrinierung wird. Zu diesen Fragen existiert bereits eine umfassende Forschungsliteratur.[1]

Neuerdings erfordern die tiefgehenden Veränderungen im Bildungswesen beider Länder, die seit Beginn der 1990er Jahre die herkömmliche Schul- und Hochschullandschaft erheblich umgestalten, eine vertiefte öffentliche Debatte und als Grundlage dafür fundierte wissenschaftliche Untersuchungen. Im Zuge der fortschreitenden Europäisierung der Bildungspolitik durch den Bologna-Prozess (ab 1999) und die Vergleiche der OECD (und dem damit verbundenen allgemei­nen und innerföderalen „PISA-Schock“ in Deutschland)[2] begegnen Frankreich und Deutschland heute ähnlichen Herausforderungen – aber auf unterschiedliche Weise, weil ihre Bildungssysteme jeweils andere Traditionen und Entwicklungs­linien aufweisen. Gerade dieser Aspekt bringt Historiker beider Länder zu einer Auseinandersetzung mit der Thematik.

Auf den beiden Ebenen Schule und Universität greifen die Beiträge dieses Sammelbandes zwei größere Fragestellungen als Leitlinie auf. Einerseits untersu­chen die Autorinnen und Autoren Inhalte und pädagogische Konzepte im deutsch-französischen Vergleich. Dabei geht es um folgende Kernfragen: Was soll das Bildungswesen lehren? Wen, die Elite oder die breite Masse der Gesellschaft, soll es unterrichten? Wie werden Lehrpläne erstellt? Werden ausländische Lehr- und Lernerfahrungen in die nationalen Überlegungen einbezogen, und wenn ja, wie? Andererseits fragen die Autorinnen und Autoren nach der Eingliederung der Schule in Staat und Gesellschaft. So werden parallele Prozesse einer „Verstaatli­chung“ im Laufe des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Frankreich analysiert: weg von einer traditionell kirchlichen hin zu einer neuen staatlichen Aufgabe. Dass dieser Wandel mit einer neuen Definition der schulischen Aufgaben verbun­den wurde, reflektieren viele der vorliegenden Beiträge. Durch die Schule ver­mittelt der moderne Staat nicht nur allgemeine Kenntnisse, die jeder Mensch für sein weiteres Leben braucht, sondern der Staat bildet seine Staatsbürger aus, erzeugt – so weit es geht – einen nationalen Zusammenhalt zwischen den Gesell­schaftsschichten und versucht zugleich, seine eigene Existenz zu legitimieren. In Zeiten internationaler Spannungen mutiert diese „Erziehung zum Patriotismus“ allerdings leicht in eine Erziehung zum Hass. Wo demokratische Staaten die Schule allenfalls zum Zweck einer gesellschaftlichen oder politischen Konsolidie­rung heranziehen können, bedienen sich totalitäre Regime der Schule als Werk­zeug der Ideologie.

Die methodische Besonderheit des vorliegenden Sammelbandes liegt in sei­nem komparativen Ansatz. Anhand von zwölf vergleichenden Beiträgen französi­scher und deutscher Historiker zu Themen um Lehren und Lernen in der Zeit von 1806 bis in die Gegenwart will der Band zur Analyse des Bildungswesens beider Länder beitragen. Der komparative Blick ins Nachbarland ermöglicht gewöhnlich die Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Im Fall Frankreichs und Deutschlands bietet sich ein solcher Vergleich in besonderem Maße an, da ab dem 19. Jahrhundert und insbesondere nach 1870 das jeweils andere Land mehr oder weniger Ziel, Modell, Empfänger, immer aber ein Bezugspunkt der eigenen Bil­dungspolitik geworden ist.

Im ersten Themenkomplex dieses Sammelbandes stehen die einzelnen oder kollektiven Akteure des Lernens und Lehrens im Mittelpunkt, etwa in der Institu­tion der preußischen Elementarschule des 19. Jahrhunderts, die Volkmar Wittmütz vorstellt. Als die Schulpflicht in Preußen-Deutschland im späten 18. Jahrhundert erstmals eingeführt wurde, setzte zugleich der Übergang von der kirchlichen auf die staatliche Verantwortung für die Schule ein. Von den bald darauf nach der preußischen Niederlage gegenüber Napoleon beginnenden Debatten um die grundlegende Reform des deutschen Bildungswesens wurde die Schule allerdings nur marginal berührt, indem man ihr auch Vorbereitungsfunktionen im Rahmen des neuhumanistischen Bildungsideals zuwies. In Wirklichkeit hatte sie jedoch zuerst und vor allem die Aufgabe, die große Mehrheit der Schülerinnen und Schüler als erste und letzte schulische Instanz mit Kenntnissen für ihr weite­res Leben auszurüsten. Selbst die 1825 eingeführte achtjährige Schulpflicht wurde längst nicht überall in Preußen praktisch wirksam. Im Vergleich zu Frankreich war der Anteil der tatsächlich eine Schule besuchenden Schüler an ihrer Alters­gruppe dennoch höher. In den Jahren bis zur Reichsgründung blieb die Schule weitgehend von der Kirche oder von lokalen Gewalten beeinflusst. Erst nach der Reichsgründung interessierte sich der Staat wieder stärker für die Schule, die nunmehr Volksschule hieß.

In seinem anschließenden Beitrag arbeitet Marcel Spivak die beispielhafte Rolle des preußischen Volksschullehrers für die französische patriotische Volks­schule der Jahre nach 1871 heraus. Das Problem von 1871 war, so Spivak, ein doppeltes. Nicht nur die Niederlage gegenüber dem entstehenden Deutschen Reich, sondern auch die Schreckensherrschaft der Commune in Paris gaben im durchaus konservativ getönten Wiederaufbau der französischen Dritten Republik Anlass zu Anleihen beim preußisch-deutschen Modell der schulischen Erziehung und der militärischen Ausbildung. Die sich als ‚patriotisch‘ verstehende neue Volksschule Frankreichs nach 1871 griff in starkem Maße auf Fächer wie eine militärisch geprägte Körperertüchtigung zurück, die man in Frankreich so eigent­lich nicht vermutet hätte. Dabei war aus preußischer Sicht das preußische Schul­modell keineswegs so erfolgreich wie es in Frankreich nach Königgrätz 1866 und Sedan 1870 präsentiert wurde.

Matthias Schulz stellt die Lern- und Lehrerfahrungen von Golo Mann in Deutschland und Frankreich von den 1920er bis in die frühen 1930er Jahre dar. Mann hatte zwar 1932 noch bei Karl Jaspers in Philosophie promovieren können und seine historische Staatsexamensarbeit über Wallenstein eingereicht, dennoch blieb ihm vor dem Weg ins Exil keine Zeit mehr, das Staatsexamen vollständig abzulegen. Zunächst wurde Golo Mann auf Vermittlung seines Freundes Pierre Bertaux, des bekannten Germanisten, als Lektor für deutsche Sprache und Litera­tur an der École Normale Supérieure de Saint-Cloud tätig und wechselte nach zwei Jahren an die Universität von Rennes, an der er sich aber wegen ihres kon­servativen Klimas nicht wohl fühlte. Die Lehr- und Lernerfahrungen Golo Manns erfasst Schulz als geistige Reifeprozesse im französischen Exil. Mann wurde mit einem andersartigen Bildungswesen vertraut, in dem demokratische Ansätze der Bildungspolitik bereits vor dem Ersten Weltkrieg etabliert waren. Er lernte die Schwierigkeiten des Lehrens, des Vortragens und des Schreibens kennen und insbesondere das Problem, als Exilant aus Deutschland mit seinem Land nicht im Reinen zu sein und es doch im Ausland repräsentieren zu wollen. Das Quellen­material, Tagebücher und Erinnerungen, zeigt Golo Mann als einen scharfen Beobachter des Zeitgeschehens in Deutschland wie in Frankreich, der in seiner Grenzgängersituation seinen historischen Blick schulte.

Die Frage nach der Erneuerung des politisch belasteten Personals in den Jah­ren nach 1945 wirft Corine Defrance in vergleichender Perspektive für die deut­schen und französischen Universitäten auf. Der Entnazifizierung nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur und der bedingungslosen Kapitulation von 1945 in Deutschland entsprach in Frankreich die épuration – nach der Niederlage von 1940, der deutschen Besatzung, dem Vichy-Régime und der Kollaboration. Die Frage nach dem Versagen der Eliten und der Wunsch nach einer Reform der Universität waren beiderseits des Rheins aktuell. Vorläufige Befunde zur épura­tion an den französischen Universitäten lassen sie als oberflächliche Irritation erscheinen, was durchaus auch auf die Entnazifizierung der deutschen Universi­täten nach 1945 zutrifft, vor allem in den westlichen Besatzungszonen, aber in einem relativ beträchtlichen Ausmaß auch in der Sowjetischen Besatzungszone. Auf beiden Seiten des Rheins blieb die Säuberung begrenzt und wurde sehr bald von einer Welle von Amnestien und Wiedereingliederungen abgelöst, die den politischen und sozialen Zusammenhalt stärkte, eine tiefgehende Erneuerung der Universität dagegen behinderte. So reizvoll und vielfältig die Parallelen auch erscheinen, plädiert Defrance doch dafür, die Unterschiedlichkeit der Personalpo­litik an den deutschen und französischen Universitäten nach 1945, deren Akteure und deren Größenordnung nicht aus den Augen zu verlieren.

Zum zweiten großen Themenkomplex in diesem Sammelband – Inhalte und Ziele des Lernens und Lehrens – bietet Philippe Alexandre einen grundlegend komparativ angelegten Beitrag über die Rolle des Patriotismus in der Schule in Deutschland und Frankreich zwischen 1871 und 1914. Methodisch weit gefasst geht es ihm um die Frage, wie in beiden Ländern die Schule die Jugend ‚nationa­lisierte‘ und sie in einem gemeinsamen, größtenteils idealen Bezugsrahmen integ­rierte. Nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 bezweckte die Erzie­hung zum Patriotismus eine Stärkung der nationalen Einheit und zugleich die Legitimierung des jeweils neuen politischen Regimes. In den 1890er Jahren konstatiert Philippe Alexandre dann allerdings für Frankreich einen reflektierten Patriotismus im Zuge des Internationalismus. In Deutschland dagegen entwickelte sich gegenüber den Bedrohungen durch die organisierte Arbeiterbewegung, die nicht nur in den Augen des Kaisers den inneren Zusammenhang des Landes zu sprengen schien, ein eher introvertierter, selbstbezogener Patriotismus. Nicht Ideale, sondern Feindbilder und Hass bestimmten zunehmend den Schulunterricht. Schließlich erlebten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sowohl Frankreich als auch Deutschland eine deutliche Krise des Patriotismus in der Schule, die wichtige Elemente zur Analyse des berühmten ‚Geistes‘ vom August 1914 und der darauf folgenden Mobilisation liefert.

Jeannie Bauvois Cauchepin untersucht, wie man in der deutschen und der französischen Demokratie der ersten Nachkriegszeit lernen sollte, Bürger zu sein. Dazu stellt die Verfasserin die moderne nationalstaatlich geprägte Konzeption des Staatsbürgers der universalen Idee von Bürgerschaft im alten Griechenland gegen­über. Es sind zwei Logiken, die aufeinander prallen: einerseits eine Logik der sozialen Stabilisierung und andererseits eine Logik der Aufklärung, die von einer Utopie des gesellschaftlichen Wandels getragen wird. Wie gingen Frankreich und Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die frühen 1950er Jahre in ihrer jeweiligen Schulpolitik mit diesem Widerspruch um? Wie wurden Ausbil­dungsaufgaben mit dem oftmals vorrangigen Ziel einer politischen im Sinne einer staatsbürgerlichen Bildung vereinbart? Die Analyse der schulischen Kultur, der Inhalte im Schulunterricht und insbesondere in der Staatsbürgerkunde dieser Zeit zeigt die Schule beiderseits des Rheins gleichermaßen im Spannungsverhältnis dieser konkurrierenden Logiken und enthüllt wichtige Elemente der politischen Kultur beider Gesellschaften.

Einem noch verstärkten Gegensatz zwischen pragmatischen Ausbildungszie­len und politischer Indoktrinierung sahen sich die Französischlehrer in der DDR ausgesetzt, denen sich Ulrich Pfeil widmet. 1946 brachte das Gesetz zur Demo­kratisierung der deutschen Schule im Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone zunächst einmal die Einheitsschule für alle. Freilich ging im Untergrund der Kampf um die Bedeutung der lebenden und toten Fremdsprachen weiter. Der Romanist Werner Krauss kämpfte um 1950 gegen verstärkten Englischunterricht mit dem Argument, dass doch gerade in Frankreich der Marxismus besonders stark sei. In den Jahren nach dem Mauerbau, als die DDR sich außenpolitisch stärker zu fühlen begann, wurde deutlich, dass sie eine wachsende Anzahl auch in französischer Sprache geschulte Fachkräfte für den Einsatz in den frankophonen Ländern der Dritten Welt benötigte. Die Bildungsreform der DDR im Jahre 1965 stellte nach dem obligaten Russisch als zweite zu erlernende Fremdsprache die Wahl zwischen Englisch und Französisch frei. Im Ergebnis stieg der Anteil der Französisch Lernenden von einem Prozent der Schüler auf immerhin 4,5 Prozent. Dennoch blieb es eine kleine Minderheit, die sich mit der französischen Sprache befasste. In ihrer Praxis wurden Französischlehrer in der DDR von vorne herein mit grundlegenden Widersprüchen konfrontiert. Als Land der großen Revolutio­nen, aber auch des kapitalistischen Imperialismus musste Frankreich zugleich geliebt und gehasst werden. Viele Lehrer durchkreuzten das angestrebte Ziel der politischen Indoktrinierung, indem sie eigene Unterrichtsmaterialen verwendeten und bestimmte Inhalte sehr kursorisch abhandelten.

An einem auf den ersten Blick unscheinbaren Beispiel, den in der Schule verwendeten Landkarten, arbeitet Manuel Meune ähnlich wichtige Merkmale der ideologischen Überlagerung im Schulunterricht der DDR heraus. Mit dem Ziel, anschaulich zu werden, begab sich die DDR in einen „Krieg der Karten“. Die Entwicklung der Kartografie nach 1945 und der Schulatlanten in den 1980er Jahren zeigt, dass der Kalte Krieg auch ein Krieg der Namen, der Zeichen und der Farben gewesen ist. Heimatbilder zur besseren Identifikation mit der DDR, Her­vorhebung der „roten Grenze“, übergenaue Zeichnung der staatlichen Grenzen und Entgermanisierung von Namen ehemals deutscher Städte sind einige Instru­mente, zu denen ostdeutsche Geografen gegriffen haben, wenn sie über die Vermittlung von größtenteils soliden wissenschaftlichen Inhalten hinaus die geo­grafischen Realitäten in den Schullandkarten mit den neuen politischen Anfor­derungen in Einklang zu bringen versuchten.

Zum dritten Themenkomplex – Kulturtransfer in und durch Universitätslehrer und Universitäten – untersucht Fritz Taubert das „Staatslexikon“ von Rotteck und Welcker im Blick darauf, wie in diesem Hauptwerk des frühen deutschen politi­schen Liberalismus Fragen der Erziehung behandelt werden. Unter den Stichwor­ten, die sich mit Erziehungsfragen beschäftigen, werden die Artikel „Kleinkinder­schulen“ von Karl Buchner, „Schulwesen, Volksschulen“ von Georg Friedrich Kolb sowie „Schulen (Mittelschulen)“ von Anton Baumstark näher behandelt. Zu diesen Themen gaben die Autoren ihren Lesern praktische Informationen, mach­ten Reformvorschläge und regten zu weiterem eigenständigem Nachdenken an. Das liberalere Frankreich, seine schulpolitischen Erfahrungen und Institutionen spielten in diesen Texten jedoch eine erstaunlich geringe Rolle, wenn man be­denkt, dass die Autoren des Staatslexikons sich als Vorreiter des Liberalismus im vormärzlichen Deutschland verstanden. Eine Modellfunktion des Nachbarlandes kann somit nicht konstatiert werden.

Ob Seminar und Vorlesung als typische Lehrformen der deutschen Universität des 19. Jahrhunderts je eine Rolle als Vorbild für Reformen in Frankreich gespielt haben, ist die Kernfrage des Beitrages von Gabriele Lingelbach. Der verglei­chende Blick in das Nachbarland macht deutlich, dass es sehr auf die rezeptieren­den Institutionen und ihre Zielsetzungen ankam, ob und mit welcher Intensität diese deutschen Lehrformen übernommen wurden. Am Beispiel des Faches Geschichte zeigt Gabriele Lingelbach, dass die rein examensvorbereitenden, berufsorientierten grandes écoles wie die École des Chartes dies ebenso wenig taten wie die École Normale Supérieure, die viel stärker auf einen synthetisieren­den Überblick ausgerichtet war. Auch an den universitären Fakultäten spielte die Forschung keine Rolle für Lehre und Unterricht. Als die 1868 gegründete École Pratique des Hautes Études jedoch die deutschen Lehrformen, insbesondere das Seminar übernahm, hatte das die paradoxe Folge, dass es die französischen Uni­versitäten nicht veränderte, sondern ihnen einfach nur Forscherpotenzial entzog. Daran zeigt sich sehr deutlich die besondere Pfadabhängigkeit des Bildungswe­sens, sein überwiegendes Verharren in den eigenen Traditionen und Identitäten.

Im Anschluss setzt sich Eberhard Demm mit dem Lernen durch das „diskuta­tive Prinzip“ auseinander, einer emanzipatorischen Lehrmethode, die er am Bei­spiel der Universität Heidelberg in den Jahren um 1910 verfolgt, als dort ein „ewiges Gespräch“ kultiviert wurde. Ein Verfechter dieser neuen Ausrichtung in der Hochschuldidaktik war der Nationalökonom und Kulturwissenschaftler Alfred Weber. Der von ihm so genannte „Geist von Heidelberg“ entstammte der deut­schen Reformpädagogik und der Jugendbewegung, in der der Lehrer nicht als Autorität über den Schülern stehen sollte, sondern sich als ihr älterer Freund verstand. Einen Nachklang seiner emanzipatorischen Lernmethode konnte man 1968 wahrnehmen, als Heidelberger Studenten das Erbe Alfred Webers einfor­derten und das Ideal selbstbewusster, ihre Freiheitsrechte verteidigender Studie­render formulierten.

Pierre Ayçoberry gibt einen Überblick über Forschungsaufenthalte französi­scher Universitätslehrer in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war ein Aufenthalt in Deutschland, besonders in Preußen, vor allem noch eine klassische Bildungsreise, wenn man von einzelnen Chemikern und Medizinern absieht. Auch wenn ihre Aufenthalte im Nachbarland mit dem Verlust so mancher aus der Ferne genährten Illusion einhergingen, waren sie für viele Gelehrte dennoch eine Bereicherung und trugen zu einer intensiveren Rezeption der deutschen Wissenschaft in Frankreich bei. Später änderte sich dieses Bild, als die Verantwortlichen in der französischen Erziehungsbürokratie durchaus die Bedeutung berühmter deutscher Universitäten wie Berlin, Leipzig oder Heidelberg erkannten. Sie entsandten systematisch junge Historiker nach Deutschland, die dort ihre Studien ergänzen und vervollkommnen sollten. Nach dem Krieg von 1870/71 nahm diese Bewegung sogar noch zu; ihre Bedeutung wird allerdings von Fach zu Fach unterschiedlich eingeschätzt. Die jungen franzö­sischen Forscher beobachteten – zunehmend beunruhigt – wachsende nationalisti­sche Strömungen bei den großen Lehrern, doch erst nachdem die deutsche Wis­senschaft im Ersten Weltkrieg durch ihre kriegerischen Töne und ihre Ausrich­tung an der herrschenden Politik aufgefallen war, galt sie in den Augen der jungen französischen Universitätslehrer als kompromittiert.

Zum Schluss zeichnet Roland Höhne die Entstehungsgeschichte der romanis­tischen Landeswissenschaft zu Beginn der 1970er Jahre und ihre schwierige Etablierung als Teil der Romanistik an den deutschen Universitäten nach. Sie entsprang dem Bestreben junger Romanisten, Historiker und Politologen, den deutschen Romanistikstudenten neben der philologischen Ausbildung auch auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften wissenschaftlich fundierte Kenntnisse der romanischen Länder, insbesondere Frankreichs, zu vermitteln. Dort wo die her­kömmliche Landeskunde des Faktizismus, der Beliebigkeit oder gar der Theorie­losigkeit bezichtigt wurde, sollte die Integration sozialwissenschaftlicher Ele­mente in die Lehrprogramme zur Erneuerung der Romanistik beitragen und zugleich eine adäquate Antwort auf die Nachfrage nach Länderspezialisten in verschiedenen Bereichen der Berufswelt geben. In der Praxis stieß diese Initiative auf den heftigen Widerstand der meisten Philologen, die eine „Entphilologisie­rung“ der Romanistik fürchteten. An einzelnen Universitäten konnten dennoch in den 1970er und 1980er Jahren berufsbezogene landeswissenschaftliche Diplom­studiengänge innerhalb der Romanistik eingerichtet werden. Heute wird die Lan­deswissenschaft zunehmend von den Kulturwissenschaften bedrängt.

Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes sind anlässlich eines Kolloqui­ums des Deutsch-Französischen Historikerkomitees in Pont-à-Mousson vom 15.–19. September 2002 entstanden und stehen zumeist auf dem Forschungsstand von 2003. Zusätzlich zur gewöhnlichen redaktionellen Arbeit durch die Herausgeber haben jedoch die Verfasser im Jahre 2006 sämtliche Fußnoten aktualisiert und auch einige Aufsätze überarbeitet. Den Herausgebern bleibt die angenehme Auf­gabe, den Autoren und Autorinnen dieses Bandes herzlich zu danken, die unser leider langwieriges Unternehmen mit viel Engagement und Geduld unterstützt haben. Unser Dank gilt auch der ASKO EUROPA-STIFTUNG in Saarbrücken und ihrem Geschäftsführer Dr. Michael Meimeth sowie dem seinerzeitigen Be­vollmächtigten der Bundesrepublik Deutschland für Kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Vertrages über die Deutsch-Französische Zusammenarbeit, Herrn Ministerpräsident Kurt Beck in Mainz für ihre großzügige Förderung der Druck­legung dieses Bandes. Ein besonderer Dank gebührt Frau Jutta Hergenhan in Berlin, die rasch und kompetent den einzelnen Beiträgen eine druckreife Form gegeben hat. In technischen Fachfragen hatten wir schließlich in Frau Dipl.-Ing. Wera Veith-Joncic von der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaf­ten Speyer eine stets hilfsbereite Gesprächspartnerin.

Unser Kollege Marcel Spivak, der wegen seiner schweren Krankheit an der Tagung in Pont-à-Mousson schon nicht mehr persönlich teilnehmen konnte, ver­starb kurz danach. Er war ein geschätztes und treues Mitglied unseres Komitees. Seinem Andenken widmen wir diesen Band.

Speyer/Nancy, im November 2006



[1] Stellvertretend für viele vergleichende Werke seien genannt: Messerli, Alfred; Chartier, Roger (Hg.), Lesen und Schreiben in Europa 1500–1900. Vergleichende Perspektiven – Perspectives comparées – Perspettive comparate, Basel 2000; Schmale, Wolfgang; Dodde, Nan L. (Hg.), Revolution des Wissens? Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung (1750–1825). Ein Handbuch zur europäischen Schulgeschichte, Bochum 1991; Heinemann, Manfred (Hg.), Umerziehung und Wiederaufbau. Die Bildungspolitik der Besatzungsmächte in Deutschland und Österreich, Stuttgart 1981; Ringer, Fritz K., Felder des Wissens. Bildung, Wissenschaft und sozialer Aufstieg in Frankreich und Deutschland um 1900, Weinheim 2003; Luc, Jean-Noël (Hg.), L’École maternelle en Europe. XIXe–XXe siècle, in: Histoire de l’Éducation 82 (1999). Einen Überblick zur deutschen und französischen Bildungsgeschichte geben das Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bde 3–6, München 1987–1998, so­wie Mayeur, Françoise, Histoire générale de l’enseignement et de l’éducation en France. De la révolution à l’école républicaine, Paris 2003; Prost, Antoine, Histoire générale de l’enseignement et de l’éducation en France depuis 1930, Paris 2004.

[2] Deutsches PISA-Konsortium (Hg.), PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich, Opladen 2001; Dass. (Hg.), PISA 2000. Die Länder der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Opladen 2002.

Für das Themenportal verfasst von

Stefan Fisch Stefan Fisch / Chantal Metzger und Florence Gauzy Chantal Metzger und Florence Gauzy

( 2007 )
Zitation
Stefan FischStefan Fisch / Chantal Metzger und Florence Gauzy Chantal Metzger und Florence Gauzy , Einleitung Lernen und Lehren in Frankreich und Deutschland - Apprendre et enseigner en Allemagne et en France, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1435>.
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