Maßnehmen am Europäer Wissenschaft und Militarismus im Spiegel der Musterungen, etwa 1890 bis 1914

In der populären Vorstellungswelt des Militarismus vor dem Ersten Weltkrieg nahm die Militärdienstzeit in allen europäischen Ländern einen wichtigen Raum ein. In den Biografien der männlichen Staatsbürger spielte die Aufnahme ins Militär in der Regel eine gewichtige Rolle als rite de passage, ob sie nun einen Kristallisationspunkt militaristischer Euphorie darstellten oder Anlass zur Artikulation eines gewissen Nonkonformismus boten. Gerade im Zeichen des wachsenden Militarismus vor dem Ersten Weltkrieg wurde das Militär in vielen Ländern aber auch zum Spiegel gesellschaftlicher Modernisierung, in der neue Formen von Wissenschaftlichkeit eine Schlüsselrolle einnahmen.[...]

Maßnehmen am Europäer. Wissenschaft und Militarismus im Spiegel der Musterungen, etwa 1890 bis 1914[1]

Von Heinrich Hartmann

In der populären Vorstellungswelt des Militarismus vor dem Ersten Weltkrieg nahm die Militärdienstzeit in allen europäischen Ländern einen wichtigen Raum ein.[2] In den Biografien der männlichen Staatsbürger spielte die Aufnahme ins Militär in der Regel eine gewichtige Rolle als rite de passage, ob sie nun einen Kristallisationspunkt militaristischer Euphorie darstellten oder Anlass zur Artikulation eines gewissen Nonkonformismus boten.[3] Gerade im Zeichen des wachsenden Militarismus vor dem Ersten Weltkrieg wurde das Militär in vielen Ländern aber auch zum Spiegel gesellschaftlicher Modernisierung, in der neue Formen von Wissenschaftlichkeit eine Schlüsselrolle einnahmen.[4] Diese beiden Elemente werden reflektiert in einer populären sozialen Praxis: kurz nach Ihrer Musterung sendeten die Rekruten Postkarten an Verwandte und Freunde, in denen sie das Ergebnis der Untersuchung und ihre Eindrücke festhielten.[5]

Die Motive dieser Karten zeigen aber auch, mit welchen wissenschaftlichen Diskursen sich die Musterung verknüpfte und reflektieren die Verbindung der Musterung und ihrer Wahrnehmung mit statistischen, demografischen und anthropologischen Wissensbeständen. Die Verstrickungen zwischen vermeintlich objektiven Wissenschaften und der Konstruktion nationalistisch und rassistisch aufgeladener Feindbilder wird an solchen Quellen in besonderem Maße sichtbar. Mit der Musterung verband sich mehr, als nur die rein individuelle Entscheidung über „tauglich“ oder „nicht tauglich“. Das komplexe Wechselspiel zwischen Militarismus, entstehender demografischer Wissenschaft und Feindwahrnehmung wird in den folgenden Abschnitten an Hand der zirkulierenden Diskussionen über demografische Wissenschaft und Musterung in verschiedenen europäischen Ländern vor 1914 dargestellt. Die Quelle, deren Kontext hier erörtert wird, ist Teil einer entsprechenden Sammlung von Musterungspostkarten und wurde in der Zeit um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs aufgelegt. Sie entstammt einer größeren Sammlung solcher Musterungspostkarten aus dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg, die Teil der Postkartensammlung des Deutschen Historischen Museums ist. Auf nahezu allen diesen Postkarten spielen die Vermessungs- und Untersuchungspraktiken bei der Musterung eine entscheidende Rolle. Im Kontext der Konfrontationen im Sommer 1914 blieb es nicht mehr alleine bei der Darstellung der Vermessung; die Postkarten verwiesen zusätzlich auf rassistische und biologistische Stereotypisierungen, wie im vorliegenden Fall gegenüber den als minderwertig dargestellten Franzosen, Briten, Russen und Japanern.

Armeen und europäische Bevölkerungen

Gerade die Erfahrung, dass auch die vermeintlich modernen, hochgerüsteten Massenarmeen, wie sie sich seit der Zeit der napoleonischen Kriege entwickelt hatten, in den Konflikten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts Niederlagen erleben konnten, konfrontierte das zeitgenössische Denken mit neuen Fragen. In Frankreich wurden die Gründe schon nach dem verlorenen Krieg von 1870/71 auch im Rückgang der nationalen „Wehrkraft“ gesucht. Russland reformierte aus ähnlichen Gründen sein Wehrsystem nach der Niederlage im Krimkrieg von 1856. In Großbritannien wurde der Burenkrieg von 1899 bis 1902 zum Auslöser einer Debatte um die Degeneration der britischen Bevölkerung und um die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Und auch in der multiethnischen k. und k.-Monarchie wurde die Frage problematisiert, welche Volksgruppen „Grundlage der Wehrkraft“ waren und welche als militärisch „untauglich“ zu gelten hatten.[6]

Gleichzeitig zeigte das Datenmaterial der Wissenschaftler in den neu entstehenden demografischen Wissensfeldern erhebliche Lücken auf. Für ihre ambitionierten Interessen waren die Daten der üblich gewordenen Volkszählungen oft nicht mehr hinreichend. Die Sozialingenieure des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts benötigten große Mengen gerade auch medizinischer Daten über die Bevölkerung.[7] Die einzige Form von Massenuntersuchungen, auf die dabei zurückgegriffen werden konnte, war die militärische Musterung, sowohl in den Ländern mit allgemeiner Wehrpflicht, als auch in denjenigen, in denen nur die Freiwilligen zur Untersuchung kamen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich hieraus eine breite Forschungslandschaft, die im Militär eines der interessantesten Untersuchungsfelder für die Erfassung demografischer Dynamiken identifizierte. Die Musterungsuntersuchungen ermöglichten nicht nur einen quantitativen Zugriff auf das neue wissenschaftliche Objekt „Bevölkerung“, sondern erlaubten auch qualitative Aussagen über den Untersuchungsgegenstand.

Die wissenschaftliche Bedeutung der Musterung wurde von einzelnen Wissenschaftlern früh erkannt. Schon 1863 führte Rudolf Virchow auf dem Vorbereitungstreffen des Statistischen Kongresses aus: „Der Kongress erkennt in der Rekrutirung eine der wichtigsten Gelegenheiten, um über den physischen Zustand eines grossen Bruchteils der männlichen Bevölkerung zuverlässige statistische Beobachtungen zu sammeln, welche nicht blos für die Gewinnung erfahrungsgemässer Grundlagen des Rekrutirungswesens, sondern namentlich für die Beurtheilung des Wohlergehens der Bevölkerung überhaupt sichere Anhaltspunkte gewähren können. […] Zusammengehalten mit der Rekrutirungsstatistik kann eine derartige Darstellung der Grundlage einer eingehenden Kenntnis von dem körperlichen Entwicklungsleben unserer Nation werden.“[8]

Virchow skizzierte damit eine wissenschaftliche Entwicklung, die in anderen europäischen Ländern bereits begonnen hatte, und deren entscheidende Ergebnisse im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts publiziert wurden. Der österreichische Militärarzt Fröhlich leitete schon 1870 aus den Musterungsbeobachtungen ab, dass es in Europa unterschiedliche Soldaten- und damit Menschentypen gäbe. Dabei begründete er diese Unterschiede durch Sonneneinstrahlung, Luftdruck, Wind, Magnetismus, Nähe zum Äquator etc., die die verschiedenen europäischen Menschen in ihrer Wehrkraft determinierten.[9] Ein weiteres prominentes Beispiel bot auch der italienische Militärarzt Ridolfo Livi, der in seiner Antropometria Militare mittels der Rekrutenstatistiken aus den 1850er Jahren eine Übersicht über die verschiedenen in Italien vertretenen Bevölkerungsgruppen zu erstellen versuchte.[10] Ein entscheidender Hintergrund seiner Forschung war dabei, die rassistischen Einteilungen, die zeitgleich verstärkt in der europäischen Anthropologie en vogue waren,[11] auf Italien zu übertragen und nach dem Kriterium der Wehrkraft eine Binnendifferenzierung des Landes vorzunehmen.

Andere Wissenschaftler arbeiteten dagegen an feingliedrigen und statistisch unterfütterten, medizinischen Studien zur Reaktion individueller Wehrtauglichkeit auf Klimaschwankungen. Diese Studien verweisen nicht nur auf die Antagonismen der entstehenden Industriegesellschaft, sondern bilden ebenso die Einflüsse der kolonialen Kontexte ab, mit denen sich viele europäische Armeen konfrontiert sahen. Der ebenfalls aus Italien stammende Physiognom Angelo Mosso etwa, der sein Studium in Deutschland und Frankreich absolviert hatte, schrieb 1894: „Unsere Lebensweise hat eine künstliche Luft geschaffen, die den Lebensnerv des Volkes schwächt. Die Lebensverhältnisse in den Städten sind so naturwidrig, daß die Körperstärke und die Widerstandskraft gegen die Temperaturverhältnisse allmählich mehr und mehr abnehmen. Wir dürfen nicht vergessen, daß manche Beschwerden, die das Leben der Naturvölker kennzeichnen, zur physischen Erziehung der Jugend unumgänglich notwendig sind. Deshalb dürfen wir nicht versäumen, auf die Landleute zu achten, weil wir an ihnen den Einfluß der von außen einwirkenden Kräfte und der Arbeit im Freien und in der Sonne erkennen, die sie fähig machen, die Entbehrungen und die Anstrengungen des Soldatenlebens zu ertragen.“[12]

Mosso lenkte damit das Interesse auf den Zusammenhang zwischen Soldatentauglichkeit und sozialen Lebensumständen und damit auf ein Untersuchungsgebiet, das zwangsläufig auf das Interesse der Sozialingenieure in den verschiedenen europäischen Ländern traf.

Die Nationalisierung des Rekruten

Besonders breiten Zuspruch erfuhren solche Thesen im Deutschen Reich. Die demografische und anthropologische Forschung in Deutschland entwickelte erst verhältnismäßig spät ein akzentuiertes Interesse an Fragestellungen der Militärstatistik, entdeckte dann aber schnell die außerordentliche Sprengkraft, die in diesen Fragen lag. Zunächst fest überzeugt von der grundsätzlichen militärischen Überlegenheit, kamen in Deutschland erst in den 1890er Jahren Zweifel an den „Grundlagen der Wehrkraft“ auf. Die Initialzündung lieferte hierfür der Nationalökonom Max Sering, der in einer Rede vor dem Deutschen Landwirtschaftsrat 1892 zum Schluss kam, dass die zunehmende Verstädterung unweigerlich zu einem Rückgang der deutschen Volksgesundheit und damit der Wehrkraft führe.[13] Der Bund der Landwirte, der um den Bedeutungsverlust des Bauernstandes im zunehmend freihandelsorientierten deutschen Wirtschaftssystem fürchtete,[14] sah hierin die Chance, auf einer ganz neuen Ebene die Landwirtschaft als Pfeiler der deutschen Gesellschaft ins öffentliche Bewusstsein zurückzubringen.

Mit einer Verspätung von einigen Jahren gingen diese modernisierungskritischen Prognosen seitens Max Sering sowie der Agrarlobby wie ein Schock durch die deutsche Gesellschaft und führten zu einer heftigen Kontroverse, in der verschiedene Wissenschaften Antworten auf die Frage suchten, wie sich die deutsche Bevölkerung und Armee künftig zu entwickeln hatten. Am unmittelbarsten reagierten dabei die Kollegen Serings aus dem Verein für Socialpolitik, allen voran Lujo Brentano. Gemeinsam mit seinem Doktoranden Robert Réné Kuczynski widersprach er in den Jahren zwischen 1897 und 1905 wiederholt Serings Thesen.[15] Dabei stellte er immer wieder dessen unzureichende statistische Methoden dar, die von den mangelhaft belegten Daten über die deutsche Bevölkerung nicht gedeckt seien. Doch auch Kuczynski und Brentano gelang es nicht, mit den vorhandenen Zahlen und Methoden Serings These nachhaltig zu widerlegen. Die Diskussion bot somit auch weiterhin Platz für Spekulationen und für die Profilierung neuer wissenschaftlicher Methoden, die sich in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg und darüber hinaus an Serings pessimistischer Vision abarbeiteten. In besonderem Maße galt dies für Mediziner und Anthropologen, die hier eine willkommene Gelegenheit fanden, ihren wissenschaftlichen Forschungen politische Aussagekraft zu verleihen. Es ist mithin nicht erstaunlich, dass das Militär – ohnehin schon Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Befindlichkeiten – auch in das Blickfeld der jungen anthropologisch orientierten Wissenschaften rückte. Spät, aber deutlich artikulierte sich dieses Interesse in Deutschland, wo sich 1904 die Anthropologische Gesellschaft für die Musterungen interessierte. Sie beantragte beim Reichskanzler die Erlaubnis, die Musterungen systematisch um eine eigene Untersuchung an den Rekruten erweitern zu können. Es ging der Gesellschaft darum „nachdem u.a. Frankreich, Italien und Schweden genaue Angaben über die Zusammensetzung ihrer Bevölkerung ermittelt haben […] die voraussichtlich in Deutschland vertretenen beiden Rassen (nordische und alpine) […] nach ihren Merkmalen und Verbreitungsgebiet zu bestimmen.“[16] Die zunächst anders gelagerten Debatten unter den Statistikern wurden in diesem Sinne funktionalisiert und neue Formen biologistisch-rassistischer Klassifikationen angetestet. Die Rekruten wurden somit zunehmend zu Datenlieferanten für neue Wissenschaftsformen und deren ambitiöse Legitimationsstrategien. Die Quelle verdeutlicht, dass dieser Zusammenhang zwischen der Musterungsuntersuchung einerseits und einer anthropologischen Erfassung des „Volkskörpers“ keinesfalls ein wissenschaftsinterner Prozess war. Den Rekruten schien die Verbindung zwischen individueller Wehrtauglichkeit und der biologistischen Konstruktion ethnischer und rassischer Differenz sehr bewusst.

Transnationale Normierung des Rekruten

In vielen europäischen Ländern, wurden die Ergebnisse der Musterungen schon länger in aggregierter Form publiziert[17] und standen für eine statistische und anthropologische Auswertung der Forschung zur Verfügung. Sie eröffneten auch auf der Ebene internationaler Vergleiche einen wichtigen wissenschaftlichen Zugang zu dem Wissen über europäische Bevölkerungen im Spiegel der Rekrutenstatistiken. Sie ließen neue Erklärungsmuster entstehen, in denen Ärzte, Biologen, Statistiker und Mediziner die ungeheuren Datenmengen mit breiteren sozialhygienischen Fragen zu verbinden versuchten. Gleichzeitig stellten sie die Forscher vor neue Fragen hinsichtlich der Bewertung dieser Datensammlungen. Dadurch wurden aber auch Probleme der transnationalen Vergleichbarkeit von Musterungsdaten und der Kommunikation zwischen den nationalen Wissenschaftsschulen virulent.[18]

Kaum ein anderes Moment beleuchtet die Transnationalität solcher Problemkonfigurationen so gut wie die Themen, die auf internationalen Kongressen verhandelt wurden. Bereits seit 1853 fanden internationale statistische Kongresse statt, seit 1878 auch die „Internationalen Kongresse für Hygiene und Demographie“, auf denen sich Statistiker, Hygieniker und Demografen über die Erkenntnisse und Methoden ihrer Wissenschaften austauschten.[19] Anlässlich des demografischen Kongresses von Budapest im Jahre 1894 gerieten die Probleme der Militärstatistik in einem solchen Maße in den Blickpunkt der Forscher, dass man sich auf die Einrichtung einer eigenständigen „Internationalen Kommission für Militär-Sanitätsstatistik“ verständigte, die von nun an parallel zu den Internationalen Kongressen für Medizin tagte.[20] 1907 wurde Berlin zum Tagungsort dieses Kongresses und mit dieser Ortswahl erlangte auch der Austausch mit den Militärstatistikern und -medizinern anderer Nationen eine größere Bedeutung in der deutschen Wissenschaftslandschaft. Im Rahmen des Kongresses engagierte sich der Vorsitzende der Berliner militärärztlichen Gesellschaft Heinrich Schwiening für eine internationale Sektion zur „Rekrutenstatistik“. Auch wenn derartige Plattformen mehr den Charakter einer „Leistungsschau“ der jeweiligen nationalen wissenschaftlichen Schulen hatten, als dass sie auf einen effektiven methodischen Austausch ausgerichtet waren, legen sie doch nahe, dass Fragen der Rekrutenstatistik in immer größerem Maße zu einer gemeinsamen Grundlage der europäischen Bevölkerungswissenschaft wurden.

Diese Gemengelage von Wissenschaftlichkeit und militarisierten Diskursen sowie zwischen Nationalisierung und internationalen Wissensnetzwerken blieb nicht ohne Auswirkung auf die Entscheidungsprozesse, durch die die Tauglichkeit von jungen Rekruten festgestellt wurde. In Deutschland, in Frankreich, in der Schweiz, in Österreich und in vielen anderen europäischen Staaten rückten die Militärärzte und ihre Musterungspraxis um 1900 in den Mittelpunkt politisch hoch aufgeladener Wissenschaftsdiskurse. Für Deutschland stellte Alfons Fischer etwa fest: „Bevor wir uns [dem] Zusammenhang von Militärtauglichkeit und Industriestaat […] zuwenden können, müssen wir uns über die Bedeutung des keineswegs einheitlichen Begriffes ‚Militärtauglichkeit’ klar sein.“[21] Die Frage nach der nationalen Wehrkraft wurde zur Frage nach der individuellen Wehrtauglichkeit. Doch wie war der einzelne Soldat qualitativ zu umschreiben? Politische Kontexte trugen in entscheidendem Maße zur Definition des Normsoldaten bei. Die Vermessung des Soldaten – seine Körpergröße, sein Brustumfang und sein Gewicht – wurden zum Politikum. Vermeintlich harte Kategorien, wie etwa die Feststellung einer einheitlichen Körpergröße, zeigten hier eine erstaunliche Plastizität. Für Frankreich spiegeln sich etwa die politischen Krisen des 19. Jahrhunderts in der Definition der Mindestgröße des Soldaten, die in Friedenszeiten bei 1,70m und in Kriegszeiten bei 1,52m liegen konnte.[22]

Doch waren die Bemühungen der Militärärzte um eine Definition international gültiger Standards ebenso ein Instrument, sich gegen die Vereinnahmung der Musterung durch die Politik zu wehren und die eigene wissenschaftliche Autonomie zu verteidigen. Die daraus resultierende Definition von Normabweichungen war gleichzeitig die entscheidende Basis für eine vermeintlich wissenschaftliche Stereotypisierung der europäischen Nationen untereinander, wie sie durch das Motiv der vorliegenden Postkarte gespiegelt wird. Normgrößen und Maße wiesen den Weg hin zu einer mehr und mehr rassistisch aufgeladenen Wahrnehmung des Rekruten und der durch ihn verkörperten Volkskraft. Auch auf einem Großteil der angesprochenen Musterungspostkarten wurde auf die Vermessung als Differentiationsmerkmal angedeutet. Häufig war auch der Verweis auf den Juden, den „kleinen Cohn“, enthalten, der durch seine mangelnde Körperlänge als nichtdeutsch ausgewiesen war.[23]

Wissenschaft und Militarismus haben sich im Europa vor dem Ersten Weltkrieg in ihrer Bewegung gegenseitig bedingt. Die positiven Erklärungsmuster der jungen statistischen Wissenschaften, aber auch neuer medizinischer Methoden trugen dazu bei, eine Idee vom Normalsoldaten zu etablieren. Gleichzeitig entwickelte sich in diesem Untersuchungsfeld eine Dynamik, die sich weder von nationalisierten Diskursen noch von einer innerdisziplinären Suche nach immer umfassenderen Deutungsmustern freisprechen konnte. Der Rekrut wurde somit zum Gegenstand wissenschaftlicher Debatten und Spekulationen, in deren Verlauf er zunehmend auch zu einem Objekt rassistischer Klassifizierung wurde. Die modernsten medizinischen Untersuchungen und demografischen Rasterbildungen vermischten sich in vielen europäischen Nationen vor dem Ersten Weltkrieg mit stereotypisierten und populären Wissensbeständen über die Differenz der europäischen Rassen. Wissenschaftlich letztlich nicht feststellbare anthropomethrische Unterscheidungsmerkmale wurden durch populäre Feindkonstrukte überdeckt und flossen ihrerseits als Vorannahmen wieder in die Musterungsprozesse ein. Diese Gemengelage verweist eindrucksvoll auf die eigenen Dynamiken zwischen den Disziplinen, aber auch auf die nationalisierten Topoi, auf die in der Etablierung eines neuen Wissensfeldes um die statistische Erfassung der Militärdiensttauglichkeit Bezug genommen wurde.



[1] Essay zur Quelle: Rekrutenmusterung in Deutschland. Eine Postkarte von 1914.

[2] Vogel, Jakob, Nationen im Gleichschritt. Der Kult der Nationen in Waffen in Deutschland und Frankreich im Vergleich, 1871-1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 118), Göttingen 1997, S. 129ff. Vogel, Jakob, Lernen vom Feind. Das Militär als Träger des deutsch-französischen Kulturtransfers im 19. Jahrhundert, in: Aust, Martin; Schönpflug, Daniel (Hgg.), Vom Gegner Lernen. Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M 2007, S. 95-113.

[3] Gerade letzteres wird durch eine Vielzahl literarischer Quellen belegt. Verwiesen sei nur auf die anekdotenhaften Beschreibungen von Thomas Manns Felix Krull oder Alphonse Allais’ Guy de La Hurlotte.

[4] Wehler, Hans-Ulrich, Der Aufbruch in die Moderne 1860 bis 1890. Armee, Marine und Politik in Europa, den USA und Japan, in: Epkenhans, Michael; Groß, Gerhard P. (Hgg.), Das Militär und der Aufbruch in die Moderne 1860 bis 1890. Armeen, Marinen und der Wandel von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Europa, den USA sowie Japan, München 2003, S. XXI-XIX; Becker, Frank, Synthetischer Militarismus. Die Einigungskriege und der Stellenwert des Militärischen in der deutschen Gesellschaft, in: Ebd., S. 125-142. Frevert, Ute, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001; Frevert, Ute, Das jakobinische Modell: Allgemeine Wehrpflicht und Nationsbildung in Preußen-Deutschland, in: Frevert, Ute (Hg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 17-46; Leonhardt, Jörn, Die Nationalisierung des Krieges und der Bellizismus der Nation: Die Diskussion um Volks- und Nationalkrieg in Deutschland, Großbritannien und den Vereinigten Staaten seit den 1860er Jahren, in: Jansen, Christian (Hg.), Der Bürger als Soldat. Die Militarisierung europäischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert: ein internationaler Vergleich, Essen 2004.

[5] Konkret wird hier Bezug genommen auf eine Sammlung solcher Musterungspostkarten, die sich im Besitz des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Berlin befindet. Auch die hier vorgestellte Postkarte gehört zu dieser Sammlung.

[6] Benecke, Werner, Militär, Reform und Gesellschaft im Zarenreich. Die Wehrpflicht in Russland 1874-1914, Paderborn u.a. 2006, S. 32ff; Soloway, Richard A., Demography and Degeneration. Eugenics and the Declining Birthrate in Twentieth-Century Britain, Chapel Hill/London 1990, S. 41ff. Adams, Ralph J. Q.; Poirier, Philip P., The Conscription Controversy in Great Britain 1900-18, Basingstoke 1987. Lagneau, Gustave, Considérations médicales et anthropologiques sur la réorganisation de l'armée en France. Mémoire lu à l'académie de médecine le 18 juillet 1871, Paris 1871. Hassinger: Statistischer Bericht über die Resultate der Assentirung im Stellungsjahre 1869, 1870.

[7] Desrosières, Alain, La politique des grands nombres. Histoire de la raison statistique, Paris 1993, besonders S. 289ff.; Vom Bruch, Rüdiger (Hg.), „Weder Kommunismus noch Kapiatlismus“. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, München 1985.

[8] Zitiert nach Fröhlich, Zur Musterungsstatistik, o.O. 1870. Noch weiter gingen die Ambitionen des französischen Militärarztes Morache: „Die Rekrutierung, durch die die gesamte männliche Bevölkerung gezwungen ist, vor der Musterungsbehörde zu erscheinen, wäre eine einzigartige Gelegenheit eine große Menge von Fragen zu stellen, die nur durch die Untersuchung einer großen Zahl einzelner Fälle beantwortet werden kann; so könnte die Ethnologie hier eine Vielzahl von Indikatoren über rassische Zusammensetzung Frankreichs erhalten; der Physiologie würden die zahlreichen Verbindungen zwischen den äußeren Erscheinungen des menschlichen Körpers zu Gute kommen; die Moralwissenschaften und die Sozialstatistik würden hier nicht weniger wertvolle Studien zur intellektuellen Entwicklung der Bevölkerung anstellen können.“ Morache, Considérations sur le recrutement de l'armée et sur l'aptitude militaires dans la presse francaise, Paris 1873, S. 60.

[9] Fröhlich, (wie Anm. 8).

[10] Livi, Ridolfo, Antropometria Militare, Rom 1896.

[11] Rippley William, Races of Europe, Boston 1900; Vacher de Lapouge, Georges, L’Aryen. Son rôle social. Cours libre de science politique, Paris 1899.

[12] Mosso, Angelo, Die körperliche Erziehung der Jugend, Hamburg, Leipzig 1894 (übersetzt von Johanna Glinzer), S. 82.

[13] Sering, Max, Rede vor dem Deutschen Landwirtschaftsrat, in: Archiv des Deutschen Landwirtschaftsrates, 1892.

[14] Vascik, George, Agrarian Conservatism in Wilhelmine Germany. D. Hahn and the Agrarian League, in: Jones, Larry Eugene; Retallack, James N. (Hgg.), Between Reform, Reaction, and Resistance. Studies in the History of German Conservatism from 1789 to 1945, Providence 1992, S. 229-260; Eley, Geoff, Anti-Semitism, Agrarian Mobilization, and the Conservative Party: Radicalism and the Containment in the Founding of the Agrarian League 1890-93, in: Ebd., S. 187-228.

[15] Brentano, Lujo, Die heutige Grundlage der deutschen Wehrkraft, Stuttgart 1900; Kuczynski, Robert René, Der Zug nach der Stadt. Statistische Studien über die Bevölkerungsbewegungen im Deutschen Reich, Stuttgart 1897; Kuczynski, Robert René, Ist die Landwirtschaft die wichtigste Grundlage der deutschen Wehrkraft?, Berlin 1905.

[16] Brief der Anthropologischen Gesellschaft an den Reichskanzler, Februar 1904. Bundesarchiv Reichskanzlei, R 43/2070.

[17] Für Frankreich ab den 1880er Jahren in den „Comptes Rendus sur le recrutement de l’armée“, vollständig erhalten in Akten des Etat major/premier bureau – effectifs, Service historique de l’armée de terre, Vincennes, 7 N 125ff; auch Frocard, Aptitude militaire des contingents francais, Paris 1911. Für Österreich Fröhlich (wie Anm. 8).

[18] Bischoff, Über die Brauchbarkeit der in verschiedenen europäischen Staaten veröffentlichten Resultate des Recrutirungsgeschäfts zur Beurtheilung der Entwickelungs- und Gesundheitszustandes der Bevölkerung, München 1867.

[19] Desrosières (wie Anm. 7).

[20] Brief Kriegsministerium an Minister für auswertige Angelegenheiten, 2.3.1907, BArch R 1501 111 163.

[21] Fischer, Alfons, Militärtauglichkeit und Industriestaat (Kultur und Fortschritt, Nr. 432/433), Leipzig 1912, S.7f.; für Frankreich etwa: Barthélemy, Adrien-Jules-Charles, L'examen de la vision devant les conseils de revision et de réforme dans la marine et dans l'armée et devant les commissions des chemins de fer, Paris 1889; Dumas, Alphonse, Le conseil de révision. Ce qu'il est, ce qu'il devrait être, Montpellier 1891.

[22] Morache (wie Anm. 8), S. 43.

[23] Als prägnantes weiteres Beispiel aus der angesprochenen Sammlung des DHM sei verwiesen auf die Signaturnummer PK 96/455.


Literaturhinweise

  • Jansen, Christian (Hg.), Der Bürger als Soldat. Die Militarisierung europäischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert: ein internationaler Vergleich, Essen 2004.
  • Desrosières, Alain, La politique des grands nombres. Histoire de la raison statistique, Paris 1991.
  • Foerster, Roland G. (Hg.), Die Wehrpflicht. Entstehung, Erscheinungsformen und politisch-militärische Wirkung, München 1994.

Die Veröffentlichung dieser Abbildung erfolgt mit Unterstützung und freundlicher Genehmigung des Deutschen Historischen Museums (DHM), Berlin. © 2007 Copyright DHM.


Für das Themenportal verfasst von

Heinrich Hartmann

( 2007 )
Zitation
Heinrich Hartmann, Maßnehmen am Europäer Wissenschaft und Militarismus im Spiegel der Musterungen, etwa 1890 bis 1914, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1448>.
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