Landschaften der Barbarei. Mensch und Natur im zivilisatorischen Blick der Spätaufklärung

Mit dem Begriff ‚Zivilisierungsmission’ hat die transnationale Geschichte einen griffigen Ausdruck für den quasi-religiösen und aufklärerischen Drang europäischer Staaten und Akteure gefunden, ‚andere’ als weniger oder noch nicht ‚zivilisiert’ geltende Völker zu unterwerfen, zu beherrschen und zu erziehen. Dabei ging es weniger um die Verbesserung der Lebensbedingungen ‚unzivilisierter’ oder ‚unterentwickelter’ Völker, als um die eigene europäische Identität. Diese ließ sich im Gegensatz von Zivilisation und Barbarei, von Kulturvölkern und Naturvölkern, von entwickelten und unterentwickelten Gebieten, Regionen, Völkern oder Staaten und letztendlich von Fortgeschrittenen und Zurückgebliebenen besonders gut produzieren, bestätigen und verbreiten.[...]

Landschaften der Barbarei. Mensch und Natur im zivilisatorischen Blick der Spätaufklärung[1]

von Richard Hölzl

Mit dem Begriff ‚Zivilisierungsmission’ hat die transnationale Geschichte einen griffigen Ausdruck für den quasi-religiösen und aufklärerischen Drang europäischer Staaten und Akteure gefunden, ‚andere’ als weniger oder noch nicht ‚zivilisiert’ geltende Völker zu unterwerfen, zu beherrschen und zu erziehen.[2] Dabei ging es weniger um die Verbesserung der Lebensbedingungen ‚unzivilisierter’ oder ‚unterentwickelter’ Völker, als um die eigene europäische Identität. Diese ließ sich im Gegensatz von Zivilisation und Barbarei, von Kulturvölkern und Naturvölkern, von entwickelten und unterentwickelten Gebieten, Regionen, Völkern oder Staaten und letztendlich von Fortgeschrittenen und Zurückgebliebenen besonders gut produzieren, bestätigen und verbreiten.[3]

Die Akteure der europäischen Aufklärung, zumeist Gelehrte und Staatsbeamte bürgerlicher oder adeliger Herkunft, entwickelten ein spezifisches Selbstbewusstsein als Avantgarde eines historischen Entwicklungsprozesses. Wobei die Beherrschung der natürlichen Ressourcen häufig mit politischem und moralischem Fortschritt gleich gesetzt wurde. Im Vergleich mit anderen Völkern, der seit dem 18. Jahrhundert über Reiseberichte und Zeitschriften innerhalb der europäischen ‚Gelehrtenrepublik’ allgemein verfügbar wurde, lag der Ursprung des Fortschrittsgedankens. Reinhart Koselleck formulierte dies folgendermaßen: „Ein ständiger Impuls zum progressiven Vergleich wurde aus dem Befund gezogen, daß einzelne Völker oder Staaten, Erdteile, Wissenschaften, Stände oder Klassen den anderen voraus seien, so daß schließlich – seit dem 18. Jahrhundert – das Postulat der Beschleunigung oder – von Seiten der Zurückgebliebenen – des Ein- oder Überholens formuliert werden konnte. [...] Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, zunächst eine Erfahrung der überseeischen Ausbreitung, wurde zum Grundraster, das die wachsende Einheit der Weltgeschichte seit dem 18. Jahrhundert auslegte.“[4] Dieses historische, räumlich wie sozial wirksame Raster beanspruchte universale Geltung und konstruierte die globale Realität aus der Perspektive einer bestimmten räumlich auf Europa und sozial auf die adelig-bürgerlichen Schichten bezogenen Gruppe neu.[5] Je mehr diese Akteure Einfluss und Glaubwürdigkeit erlangten, desto stärker wirkte ihre 'Wirklichkeit' in die Lebensrealitäten anderer sozialer Gruppen und Bevölkerungen hinein.

Der Begriff ‚Zivilisierungsmission’ bezeichnet nicht nur eine Beziehung zwischen europäischen und außereuropäischen Akteuren. Die neue Vorstellung von Fort- und Rückschrittlichkeit wirkte in die jeweiligen europäischen Gesellschaften selbst hinein. Teile der ‚eigenen’ Bevölkerung wurden als unterentwickelt oder barbarisch deklariert. Wenn diese sich nicht den aufgeklärten Entwicklungskonzepten unterwarfen, galten sie als innovationsfeindlich, so ein moderner, anachronistischer Begriff für die zeitgenössische Rede vom ‚Eigensinn’ und der ‚Sturheit’ des ‚Landmannes’.[6] Die Aufklärung entdeckte die 'Barbarei' im Innern, in der nächsten Umgebung der Universitäten, Residenzen und der urbanen Zentren Europas. Es war häufig die Landbevölkerung, die mit diesem Attribut belegt wurde. Neben der Reorganisation des Handwerks, des Gesundheitswesens oder der religiösen Praktiken der Bevölkerung stand die ‚Verbesserung’ der Land- und Forstwirtschaft im Programm jener Aufklärer, die sich der Verbreitung nützlichen Wissens zum allgemeinen Wohl widmeten.[7]

Ein anschauliches Beispiel für diese Art der Wirklichkeitsdeutung, die auf das Engste mit der Identitätenproduktion und sozialen Verortung gesellschaftlicher Eliten verschränkt war, stellt der zweibändige „Katechismus der baierischen Landes-Kulturgesetze“ aus den Jahren 1804 und 1806 dar.[8] Verfasst wurde der Text von dem bayerischen Spitzenbeamten Joseph von Hazzi (1768-1845). Hazzi wurde in der niederbayerischen Landstadt Abensberg als Sohn eines Maurermeisters geboren und zunächst im Augustiner Chorherrnstift Rohr als 'Singknabe' unterrichtet. Mit 11 Jahren kam er nach München, wo er das ehemalige Jesuitengymnasium und das angeschlossene Lyzeum besuchte.[9] Nach einem kurzen Praktikum am Abensberger Pfleggericht stieg Hazzi schnell zu einem führenden Beamten der Münchner Regierung auf, befasste sich mit der Reform der Forstverwaltung und wurde 1799 mit dem Regierungsantritt Maximilian IV. Joseph in das oberste Regierungsgremium, die General-Landesdirektion, berufen. Zwar hatte Hazzi nach eigenen Angaben Mitte der 1790er Jahre eine kurze Rundreise nach Wien, Ungarn, Böhmen und Sachsen unternommen. Als weit gereist konnte er sich jedoch nicht bezeichnen – ungewöhnlich für einen Mann seiner Bildung und Stellung. Dies änderte sich als Napoleon 1800 in Bayern einmarschierte. Hazzi wurde Marschkommissar der französischen Armee, bereitete deren Vorrücken, ihre Kriegskarten und Verpflegung vor und machte noch einmal Karriere. Zunächst brach er auf Veranlassung General Moreaus zu einer halbjährigen Bildungsreise nach Frankreich, der Schweiz und Italien auf, wo er sich über die Reformen in der Landwirtschaft und im Steuerwesen informierte.[10] Im Jahr 1806 wurde er Staatsrat des Herzogtums Berg, das von Napoleons Vertrautem Joachim Murat regiert wurde. Hazzi begleitete Murat auf dem Feldzug gegen Preußen und sollte die Polizeiverwaltung der besetzten Gebiete übernehmen. Nach dem Frieden von Tilsit 1807 wurde er erneut nach Düsseldorf beordert, um die Einführung des Code Napoléon zu organisieren. 1812 trat er aus dem französischen Dienst aus und kehrte nach Bayern zurück, wo er nach einigen Jahren Wartezeit als Vorsitzender der Baukommission wieder in den Verwaltungsapparat eintrat.

Hazzis 'Katechismus der baierischen Landes-Kulturgesetze' wendet sich in der Tradition der 'Volksaufklärung' an die Landbevölkerung als Adressaten der aufgeklärten Reformen.[11] Die Gestaltung des Texts erinnert an die eines, allerdings fiktiven, Interviews. Abschnitte werden durch einfache Fragen unterteilt, die Hazzi in der Manier eines Experten beantwortet.[12] Das zweibändige Werk ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil befasst sich mit den Inhalten und der Begründung der Reformgesetzgebung im Agrar- und Forstbereich seit dem Regierungsantritt des neuen Kurfürsten. Die beiden anderen Teile stellen eine Einführung in die reformierte Land- und Forstwirtschaft dar.

Der erste Teil, dem ein Kupferstich vorangestellt ist, gibt Einblicke in das Geschichts- und Menschenbild der Reformer der Spätaufklärung. Er verdeutlicht auch die eng damit verzahnten Auffassungen vom optimalen Umgang mit der natürlichen Umwelt und ihren Ressourcen. Das Titelkupfer zeigt einen Ochsen vor einen einscharrigen Pflug gespannt. An den Hörnern wird er von zwei chinesischen Beamten gehalten. Dahinter erhebt sich eine Pagode. Der Pflug wird von einem würdigen Mann in fein bestickten Kleidern geführt. Das Bild zeigt den chinesischen Kaiser, der zum Fest des Ackerbaus rituell die erste Furche in den Acker zieht.

Hazzi wählte dieses Motiv nicht aus einer modischen Laune heraus. Bewusst setzte er die Erfahrungen und Erzählungen über fremde Völker ein, die von den Reisenden des späten 18. Jahrhunderts nach Europa gebracht wurden,[13] um eine politische Botschaft in die Öffentlichkeit zu bringen: die bayerische Wirtschaft sei in vielen Teilen rückständig und keineswegs auf der Höhe ihrer Zeit. Auf die Frage, was denn die Reformgesetze eigentlich bezweckten, antwortet Hazzi: „Dass sie nur den wirklich bebauten, oder kultivirten Boden in Schutz nehmen, und den wilden Hirtenstand verbannt wissen wollen“. Und er führt weiter aus: „[Der Hirtenstand] ist noch ein Überbleibsel der vorigen Barbarey der Menschen und Völker. Ehe die Menschen sich feste Wohnungen bauten, und also zu mehr Ruhe und Bequemlichkeit in gewissen Gegenden niederließen, wanderten sie immer hin und her, [... ]: sie waren daher blos wilde Jäger und Hirten, das ist, Barbaren, wie es noch heut zu Tage in unkultivierten Ländern solch herumziehende, und also noch in der Barbarey steckende Völker in Menge giebt.“[14] Auch in Bayern lasse sich diese Form der Rückständigkeit finden, was alleine die Existenz zahlreicher ungenügend, d.i. extensiv genutzter Flächen belegte: „[D]aher in mehreren Ländern es dergleichen öde Gründe gar nicht mehr giebt, oder nur sehr wenige – folglich nur seltene Überbleibsel des ehemaligen wilden Hirtenstandes angetroffen werden. Eben darum sagt man auch in Beurtheilung der Länder: dieses Land ist mehr, jenes weniger kultivirt. Baiern gehörte bisher […] zu den weniger kultivirten Ländern. Die Hälfte seines Bodens bestand aus Möosern, Filzen, Weidenschaften, und Wäldern ohne alle Kultur“.[15] Der Vergleich mit ‚barbarischen Nomadenvölkern’ einerseits und der Hochkultur China andererseits ermöglicht es Hazzi, die ‚Ungleichzeitigkeit’ der extensiv bewirtschafteten Flächen des eigenen Landes wie auch der Bewohner desselben klar herauszustellen. In einer Zeit, in der Europa seine 'Zivilisierungsmission' entdeckte und überall und jederzeit zum Vergleich zwischen Ländern, Völkern und Nationen bereit war, untermauerten transnationale Anspielungen die Glaubwürdigkeit politischer Aussagen und die Notwendigkeit der gesetzlichen Maßnahmen zur Agrar- und Forstreform.

Hazzis polemisches Kulturstufenmodell, das den Übergang von Jägern und Sammlern zu sesshaften Ackerbaugesellschaften beschreibt, ist teleologisch und fortschrittsoptimistisch und reiht sich so in die Aufklärungsbewegung als Ganzes ein. Geschichte war nicht nur dauernder Wandel, sondern eine sprunghafte Entwicklung hin zu einer immer höheren Kultur der Gesellschaft. Kultur bedeutete im konkreten Fall die Verbesserung der Natur durch den Menschen und die bessere Nutzung der natürlichen Rohstoffe, die die Natur bereitstellte.[16] Noch einmal Hazzi: „Zudem lernten die Menschen auch von der Natur durch viele Beobachtungen, daß, wenn man der Natur nachhilft, den Boden locker macht, ihn mit einer Art Same besaet, er die Früchte davon reichlich wiedergebe […]. Der Ackerbau legte also den Grund zu aller Sittlichkeit der Menschen und Völker – sein höherer Betrieb vermehrt und erhöht die Sittlichkeit wie den Wohlstand eines Volkes, oder einer Nation.“[17] Dahinter stand die einfache Gleichung, je intensiver die Kultivierung und Bewirtschaftung des Bodens desto größer der Ertrag und desto höher die Zivilisationsstufe. In einem fast zeitgleich zum 'Katechismus' erschienenen Werk bezeichnet Hazzi die Wälder mit beinahe süffisanten Bezügen auf die biblische Schöpfungsgeschichte als Urzustand und „Chaos“ der Erdgeschichte, „aus dem die Kultur wie eine neue Schöpfung hervorging“ und urteilte: „Die Kultur steht daher auf einer um so höheren Stufe, je weniger von diesem Chaos noch übrig ist.“[18] Dass die Aufklärungsbewegung für Hazzi in quasi-religiöser Manier die Avantgarde dieser ordnenden und zivilisierenden Tendenz der Geschichte darstellte, ist evident.

Hazzi wandte das universalhistorische Modell fort- und rückschrittlicher Zivilisationen auf die eigene Gesellschaft an – und diagnostizierte die Rückständigkeit Bayerns. Dass er dabei das Präteritum verwendete, ergab sich schon aus seiner politischen Stellung und bedeutete eine Referenz an den Kurfürsten. Mit dem Blick des Forschungsreisenden entdeckte Hazzi die Barbarei im Innern des eigenen Landes. ‚Hirten’ wurden zu Barbaren, die auf dem Niveau von Jägern und Sammlern agierten.[19] Damit waren nicht nur die eigentlichen Hirten gemeint, die das Vieh auf die Weide führten. Hazzi bezog sich auf weite Teile der Landbevölkerung, die ihren Lebensunterhalt auf die eine oder andere Art mit Viehzucht bestritten. Die verbreitete Weideviehhaltung wird so zum Zeichen mangelnder Zivilisation. Viele Elemente der Kulturlandschaft, Moore, Heiden oder Wälder, die im Rahmen extensiver Beweidung in das dörfliche Leben und Wirtschaften miteinbezogen waren, markierten diese Barbarei in der Landschaft. Für den Aufklärer genügte ein Blick aus dem Fenster der Kutsche, um zu sehen, wie zivilisiert Bewohner und wie kultiviert die Natur eines Landstrichs war.[20]

Hazzis Ausführungen sind in zahlreiche Kontexte eingebettet. Drei davon sollen hier herausgegriffen werden, um den Quellentext einzuordnen. Der erste Kontext, der für das Verständnis der Form und des Inhalts von Hazzis 'Katechismus' wichtig ist, liegt im landesgeschichtlichen Bereich. Mit dem Regierungsantritt Max' IV. Joseph 1799 trat das Kurfürstentum Bayern, das 1806 zum Königreich von Napoleons Gnaden erhoben wurde, in eine Phase verstärkter Reformen ein. Neben Verwaltung, Militär und Rechtswesen betrafen diese den Agrar- und Forstbereich. Joseph von Hazzi zählte zum inneren Kreis der regierungsamtlichen Reformkräfte. Er vertrat eine dezidiert liberale Position: Weiderechte und Brache sollten abgeschafft, Moore trocken gelegt und 'Ödländereien kultiviert' werden; die Bauern sollten auf den von ihnen bewirtschafteten Höfen und Gründen frei schalten und walten, wozu Allmenden und Mitnutzungsrechte aufgeteilt werden mussten; der Staat sollte sich von seinen landwirtschaftlichen Gütern, aber besonders von den Wäldern trennen. Mit anderen Worten, die Landnutzung musste intensiviert, komplexe Eigentums- und Nutzungsrechte entflochten werden.[21] Motor der gesellschaftlichen Entwicklung sollte das Prinzip des Privateigentums sein, das alleine den nötigen individuellen Anreiz zu Verbesserung der bäuerlichen Ökonomien bieten konnte.

Die liberale Position des schlanken Staates fand ihre Grenzen im Staatswald. Von Beginn an musste Hazzi sich für seine Privatisierungsvorschläge verteidigen. Der Vorschlag, alle Staatswälder zu veräußern, löste einen Sturmlauf innerhalb der Beamtenelite des Fürstentums aus.[22] Der 'Katechismus' war also Teil der politischen Auseinandersetzung um einen grundlegenden Umbau der Agrar- und Forstverfassung des Fürstentums Bayern. Er sollte eine breitere bürgerliche Öffentlichkeit gegen die Kritik aus dem Innern der Regierung mobilisieren.

Zum zweiten lässt sich ein biographischer Kontext erörtern. Hazzis Lebensdaten, wie sie den gängigen Nachschlagewerken zu entnehmen sind, seine ländlich-kleinbürgerliche Herkunft, seine Tätigkeit als Praktikant an einem niederbayerischen Pfleggericht, wie auch seine zahlreichen Reiseberichte lassen vermuten, dass hier ein Insider, ein Kenner der ländlich-bäuerlichen Lebenswelt Bayerns um 1800 spricht.[23] Ein autobiografisches Fragment Hazzis, das wahrscheinlich zwischen 1796 und 1799 entstand, ermöglicht jedoch einen genaueren Blick auf seine Sozialisation und sein Selbstbild.[24] Zentrales Motiv des autobiografischen Textes ist der frühe Wunsch nach Bildung und sozialem Aufstieg, der mit einer impulsiven Distanzierung vom ländlichen Umfeld des Autors einher geht. Hazzi wurde früh von seinen Eltern getrennt. Bereits im Alter von neun Jahren nahm ihn das Kloster Rohr als Singknaben auf. Zwei Jahre später trat er in das Münchner Jesuitengymnasium ein. Bauern und Landbürger erscheinen in Hazzis Jugenderinnerungen, die er als Mitzwanziger verfasste, als passive, unmündige Opfer adelig-klerikaler Willkür. Über seine Zeit in Rohr als Neun- bis Elfjähriger schrieb er: „Die Welt schien mir zunehmend sonderbarer. Ich sah mich mit Bürgern und Bauern in den Sklavenstand versetzt oder zum Futter der reißenden Tiere, der Tiger und Hyänen bestimmt, als welche ich die Adelichen, Prälaten und ihre Richter ansah.“[25] In den Vakanzen der Gymnasialzeit hielt sich Hazzi zumeist im Kloster Rohr auf. Besuche bei den Eltern werden kaum erwähnt. Der Abschnitt über seine Praktikantenzeit am Abensberger Gericht, dessen Beamten und die Petenten bzw. Delinquenten ist vergleichsweise kurz und ironisch-distanziert gehalten. Von einem typischen Gerichtstag berichtete er: „Ich glaubte unter Teufeln zu sein. Mir taten Augen und Ohren weh. Das meiste waren Injurien und Raufhändel, Schwangerschaften, Streitigkeiten zwischen Eltern und Kindern wegen nicht entrichtetem Austrag [Leibrente; R.H.], Oetz- und Grentzhändel, Benachteiligung der Früchte durch Weidvieh, Zaun-, Mühl- und Feuermängel, Polizeistunden.“[26]

Ohne zu detailliert auf charakterliche oder psychologische Besonderheiten Hazzis eingehen zu wollen – dies ist aufgrund des wenigen Quellenmaterials kaum zu machen – zeigt sich doch eines. Von den Rahmendaten seiner Biographie auf eine automatischen 'Nähe', einen 'unverstellten Blick' auf die Lebensverhältnisse und Probleme der Landbevölkerung zu schließen, wäre verfrüht. Vielmehr führte die strenge, abgeschlossene Ausbildung in Kloster und Seminar, wo großer Wert auf musische Erziehung und Lateinunterricht gelegt wurde, zu einer frühen inneren Distanzierung gegenüber den Eltern und dem ländlichen Umfeld der frühen Kindheit.

Strukturbildend für die in Hazzis 'Katechismus' dargelegte Wirklichkeitsbeschreibung war ein dritter Kontext. Als bildungshungriger, belesener und reisender Staatsbeamter orientierte er sich an der zivilisatorischen Perspektive der Spätaufklärung. Die Hauptelemente dieser Form der Konstruktion von Wirklichkeit und Wahrheit waren, erstens, Rationalität im Sinne einer modernen wissenschaftlichen Betrachtung von Natur, zweitens, Nützlichkeit im Bezug auf die natürlichen Ressourcen und, drittens, Fortschritt, der sich aus der rationellen und effizienten Ausbeutung der natürlichen Ressourcen ergab. Die Beziehung zwischen Natur und Kultur wurde in eine lineare Entwicklungsperspektive überführt. Beherrschung und Kultivierung der rohen Natur waren Voraussetzung und Kennzeichen der Zivilisation. Bevölkerungsgruppen, die sich dieser Perspektive nicht unterwarfen, etwa die Aufgabe der Allmenden, der Viehweide oder der Brache verweigerten und weiterhin auf extensive Formen der Naturnutzung setzten, galten als 'Barbaren', als rückständig und eigensinnig.

Die hier am Beispiel Joseph von Hazzis dargestellten Auffassungen von Natur und Kultur waren konstruierte Wirklichkeiten, die der Teilperspektive einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe entstammten. Sie beanspruchten dennoch den Status gültiger Wahrheit und objektiv erworbenen Wissens. Die Konzepte der aufgeklärten Reformbewegung waren in der öffentlichen Debatte erfolgreich, weil sie von autorisierten Sprechern, von glaubwürdigen Orten aus und über Medien verbreitet wurden, die das Vertrauen der entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit besaßen.[27] Daraus entstanden Reformkonzepte, die nach 1800 in der Fläche umgesetzt werden sollten. Unter dem Motto der 'Kultivierung' der Natur wurden Moore ausgetrocknet, Flüsse begradigt, Wälder aufgeforstet, Allmenden aufgelöst, Besitzrechte entflochten, die Brache abgeschafft, die flächendeckende Stallfütterung und ackerbauliche Monokulturen durchgesetzt.

Die Produktionssteigerung, die ohne Zweifel die wachsende Bevölkerung des 19. Jahrhunderts von Hungerkrisen unabhängiger machte, war teuer erkauft. Der „Vorstoß zu den letzten Reserven“ (J. Radkau) produzierte heftige gesellschaftliche Konflikte, etwa die Auseinandersetzung um den Zugang zu den Wäldern, die sich in hunderttausenden Forstfrevelfällen ausdrückte.[28] Zugleich engte sie die Möglichkeiten ein, auf Eigenlogiken und Dynamiken natürlicher Prozesse adäquat zu reagieren. Vor den Kräften der Natur zurückzuweichen, war nicht mehr möglich. Die intensive Naturnutzung war auf ständige und zunehmende ökologische Kontrolle mit Hilfe technologischer Lösungen angewiesen. Die Grenzen dieses Ansatzes wurden früh deutlich, als das europäische Modell auf die Gesellschaften und Öko-Systeme außerhalb Europas angewendet werden sollte.[29] Die Zunahme von Naturgefahren und ökologischer Krisen nicht erst seit der Klimadebatte haben ihn auch in Europa selbst in die Kritik geraten lassen.


[1] Essay zur Quelle: Joseph Hazzi: Ein 'Katechismus' der Agrar- und Forstreformen um 1800.

[2] Vgl. Osterhammel, Jürgen: „The Great Work of Uplifting Mankind“. Zivilisierungsmission und Moderne, in: Boris Barth, Jürgen Osterhammel (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 363-425.

[3] Besonders die postcolonial studies haben auf diese Form der Konstruktion kollektiver, kultureller und politischer Identitäten hingewiesen. Vgl. Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 184-237.

[4] Koselleck, Reinhart: ‚Neuzeit’. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/M. 1979, S. 300-348, hier: 324, 336.

[5] Vgl. zur Konstruktion von Realität Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 19. Auflage, Frankfurt/M. 2003.

[6] Vgl. die treffende Interpretation des Attributs „eigensinnig“ bei Lüdtke, Alf: Geschichte und Eigensinn, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 139-153.

[7] Vgl. Holenstein, André; Stuber, Martin; Gerber-Visser, Gerrendina: Einleitung, zu: Dies. (Hg.), Nützliche Wissenschaft und Ökonomie im Ancien Régime. Akteure, Themen, Kommunikationsformen (Cardanus. Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte 7), Heidelberg 2007, S. 7-16.

[8] Vgl. Hazzi, Joseph: Katechismus der baierischen Landes-Kulturgesetze sammt einem Unterricht der Landwirthschaft für das Landvolk, auch zum Gebrauch für Richter und Rechtsanwälde, Volks- und Schullehrer, 2 Bde., München 1804-1806.

[9] Vgl. zur Biografie Hazzis Greipl, Egon Johannes; Heydenreuter, Reinhard: Die Jugenderinnerungen des Joseph von Hazzi, in: Ackermann, Konrad; Schmid, Alois; Volkert, Wilhelm (Hg.), Bayern vom Stamm zu Staat. Festschrift für Andreas Kraus zum 80. Geburtstag, München 2002, S. 143-203 und Fröhlich, Marion: Leben und Werk Joseph von Hazzis – sein Einfluß auf die Forstwirtschaft (Mitteilungen aus der Staatsforstverwaltung 45), München 1990, S. 1-86. Zwischen 1786 und 1789 studierte Hazzi in Ingolstadt Jura und schloss mit Lizentiat und Staatsprüfung ab.

[10] Genauere Angaben zu Hazzis Reise liegen nicht vor. Vgl. Bell, Peter: Josef Hazzi I. Teil 1768-1806, Diss. TH München 1920, S. 15.

[11] Vgl. zum Genre der Volksaufklärung: Böning, Holger, Popularäufklärung – Volksaufklärung, in: van Dülmen, Richard; Rauschenbach, Sina (Hg.), Die Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 563-581.

[12] Hazzi lehnt sich damit an die Textstruktur des kirchlichen Katechismus an, der häufig in Dialogform die wichtigsten Glaubenslehren für breite Bevölkerungsschichten zusammenfasste. Hazzi suggeriert damit auch, dass Landeskultur als Teil des menschlichen Zivilisationsprozesses, an die Stelle religiöser Sinnstiftung treten solle.

[13] Vgl. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Wissen und außereuropäische Erfahrung im 18. Jahrhundert, in: van Dülmen u.a., Macht des Wissens, S. 629-653 und Osterhammel, Jürgen: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 300-304. Hazzi dürfte die Vorstellung von den chinesischen Kaisern über Johann Heinrich Gottlob von Justi rezipiert haben. Justi zeichnete mit Bezug auf jesuitische Quellen ein positives Bild einzelner Herrscher, während gegen Ende des Jahrhunderts ein zunehmend negatives Bild Chinas unter europäischen Literaten auftrat.

[14] Hazzi, Katechismus, Bd. 1, S. 5-6.

[15] Hazzi, Katechismus, Bd. 1, S. 13-14.

[16] Vgl. dazu auch Beck, Rainer: Ebersberg oder das Ende der Wildnis. Eine Landschaftsgeschichte, München 2003, S. 134-135: „Der aufklärerische Umbau der Natur zum Zwecke des menschlichen Nutzens geschah unter den Vorzeichen einer ökologischen Ratio, die über weite Strecken von drei Zielen oder Prinzipien bestimmt scheint: einer ‚Beseitigung des Unbrauchbaren’, ‚Trennung des Vermischten’ und ‚Homogenisierung des Getrennten’.“

[17] Hazzi, Katechismus, Bd. 1, S. 7-8.

[18] Hazzi, Joseph von: Die echten Ansichten der Waldungen und Förste: [1. Band] gegenwärtig über ihre Purificationen, samt der Geschichte des Forstwesens im Allgemeinen, vorzüglich in Baiern, München 1805, S. 5.

[19] Vgl. zur Entwicklung und zum Wandel des europäischen Perspektive auf Sesshaftigkeit und Nomadismus im 18. Jahrhundert, Osterhammel, Entzauberung Asiens, S. 264-270.

[20] Vgl. zu Reiseberichten Joseph von Hazzis durch das bayerische Oberland, Beck, Ebersberg oder das Ende der Wildnis, S. 19-21 und 194.

[21] Vgl. Beck, Ebersberg oder das Ende der Wildnis, S. 149-160.

[22] Vgl. Georg Grünberger, ebenfalls Mitglied der General-Landesdirektion und Forstprofessor in München warf Hazzi unerträgliche Polemik und die Verwendung falscher Statistiken vor (Grünberger, Georg, Einige Ansichten von dem Forstwesen in Baiern mit Bemerkungen über die echten Ansichten der Waldungen und Förste des Landesdirektionsraths Joseph v. Hazzi, München 1805). Vgl. auch die Kritik des Forsttaxators G. W. Neebauer (Neebauer, Georg Wolfgang, Das Forstwesen in Beziehung auf den Staat, dem Zeitbedürfnisse gemäß erläutert, München 1805) und des bekannten, späteren Religionsphilosophen Franz von Baader (von Baader, Franz, Der Holzbau im Grossen ist ein Staatsgewerbe und das Forstregal ein natürliches unveräusserliches Regal, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, ND der Ausgabe Leipzig 1851, Aalen 1963, S. 201-212, zuerst erschienen 1802 in Rudolph Zacharias Beckers Reichsanzeiger).

[23] Vgl. etwa ADB Bd. 11, S. 165-169. Die Reiseberichte sind in Hazzis bekanntestem Werk „Statistische Aufschlüsse über das Königreich Baiern aus ächten Quellen geschöpft. Ein allgemeiner Beitrag zur Länder- und Menschenkunde“ (vier Bände, Nürnberg 1801-1808) versammelt.

[24] Das Dokument wurde 2002 nach einer Abschrift des Abensberger Heimatpflegers Alois Listl ediert. Das Original wurde nicht gefunden. Vgl. Greipl; Heydenreuter: Jugenderinnerungen des Joseph von Hazzi, S. 143f.

[25] Greipl; Heydenreuter, Jugenderinnerungen des Joseph von Hazzi, S. 167.

[26] Greipl; Heydenreuter, Jugenderinnerungen des Joseph von Hazzi, S. 188-189.

[27] Vgl. dazu Michel Foucaults Ausführungen zur Macht in gesellschaftlichen Diskursen (Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1981, S. 100).

[28] Vgl. Hölzl, Richard: Die Kultur einer ökologischen Reform. Konflikte um den Wald in Deutschland 1760-1860, Diss. Univ. Göttingen 2008.

[29] Vgl. für einen Forschungsüberblick Hölzl, Richard; Hünniger, Dominik: Global denken - lokal forschen. Auf der Suche nach dem ‚kulturellen Dreh’ in der Umweltgeschichte. Ein Literaturbericht, in: WerkstattGeschichte 2008 (Heft 48) [im Druck].



Literaturhinweise:

  • Beck, Rainer: Ebersberg oder das Ende der Wildnis. Eine Landschaftsgeschichte, München 2002.
  • Blackbourn, David: Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2007.
  • Radkau, Joachim: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München Neuauflage 2002.
  • Scott, James C.: Seeing Like a State. How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed, New Haven und London 1998.Thomas, Keith: Man and the Natural World. Changing Attitudes in England 1500-1800, London 1984.

Ein „Katechismus“ der Agrar- und Forstreformen um 1800[1]

Erklärung des Kupfers.

Unter dem ältesten und größten Volke – den Chinesen – hat sich auch ihr erstes und ältestes Fest – das Fest des Ackerbaues, oder der Kultur der Erde – bis auf unsere Zeiten erhalten. Sobald die Jahreszeit eintritt, die zum Anbau der Erde einladet, erscheint der Kaiser in vollem Ceremoniel unter Pfeifen und Trommeln unter einer großen Menge Volkes auf dem freyen Felde, legt selbst Hand an den Pflug, und zieht damit die ersten Furchen. Zween Mandarinen führen die dem Pfluge vorgespannten Ochsen, deren Hörner vergoldet, und die Rücken mit Teppichen belegt sind. Der Kaiser spricht unter dieser Ceremonie: Wir feiern heute wiederum den wichtigsten Tag des Jahres – das Fest des Ackerbaues. Es soll die Erinnerung in uns tief einprägen, daß von der Bebauung der Erde alles kömme, und der Stand des Landbebauers der erste und edelste ist!

Frage. Was heißt Kultur in Bezug auf ein Land, oder Landes-Kultur?

Antwort. Kultur heißt hier die Bebauung des Bodens, daß er diese oder jene Frucht hervorbringe. Je nachdem dieß nur auf die einfache Art durch den Pflug, oder sonst ohne vielen Fleiß und Speculation geschieht, wird eine solche Kultur, oder die durch dieselbe getriebene Wirthschaft die gemeine oder erste Kultur – gemeine Landwirthschaft genennt.

Wird aber zu so einem Grunde nicht nur der Pflug, sondern auch die Hacke oder Haue (ein Garten-Instrument) gebraucht; wird darein gepflanzt, vorzügliche Sorge und Speculation darauf verwendet, so heißt sie höhere Kultur, Hackenwirtschaft [...]

Erstes Kapitel: Von den allgemeinen Grundsätzen und allgemeinen Gesetzen bey noch öden Gründen.

Frage. Und was sagen hierüber die Landesgesetze (Kultur des Bodens)?

Antw. Daß sie nur den wirklich bebauten, oder kultivirten Boden in Schutz nehmen, und den wilden Hirtenstand verbannt wissen wollen, welches der Hauptgrundstein aller hieher gehörigen Kulturgesetze ist.

Frage. Was versteht man unter dem wildem Hirtenstande?

Antw. Er ist noch ein Überbleibsel der vorigen Barbarey der Menschen und Völker. Ehe die Menschen sich feste Wohnungen bauten, und also zu mehr Ruhe und Bequemlichkeit in gewissen Gegenden niederließen, wanderten sie immer hin und her, weil sie die wilden Thiere jagen, und für die schon zahmgemachten stets eine bessere Weide suchen mußten: sie waren daher blos wilde Jäger und Hirten, das ist, Barbaren, wie es noch heut zu tage in unkultivierten Ländern solch herumziehende, und also noch in der Barbarey steckende Völker in Menge giebt.

Fr. Was war denn die Hauptveranlassung, daß solche wilden Völker ihre Wanderungen aufgaben, und aus wilden Jägern und Hirten gesittete, das ist, civilisirte Menschen und Völker wurden wie wir nun die meisten Völker von Europa, jedoch in einem bald höhern, bald niedrigern Grade, antreffen?

Antw. Diese Hauptveranlassung war der Ackerbau, oder die Kultur des Bodens, worauf die Menschen nothwendig gerathen mußten. Sie vermehrten sich immer mehr, und drängten sich also bey ihrem Herumziehen; dies verursachte Zank und Streit, Gewaltthätigkeiten und Kriege. Zudem lernten die Menschen auch von der Natur durch viele Beobachtungen, daß, wenn man der Natur nachhilft, den Boden locker macht, ihn mit einer Art Same besaet, er die Früchte davon reichlich wiedergebe: müde also von des mit so viel Gefahr und Ungemach verbundenen Herumziehens, aufgeklärt dass man durch die Bebauung des Bodens ein bequemeres Leben führen könne, entschlossen sich einige Völker, sich in einer gewissen Gegend niederzulassen, daselbst Wohnungen herzustellen, und das Land zu bebauen, das ist, weil Brod das erste und Hauptbedürfniß war, den gemeinen Ackerbau zu betreiben. Der Ackerbau legte also den Grund zu aller Sittlichkeit der Menschen und Völker – sein höherer Betrieb vermehrt und erhöht die Sittlichkeit wie den Wohlstand eines Volkes, oder einer Nation.

Fr. Warum ist aber noch nicht alles Land in Baiern kultivirt, da doch die Baiern schon über 2000 Jahre zurück ein civilisirtes Volk, oder eine gesittete Nation vorstellen?

Antw. In der Natur geht alles Schritt für Schritt. Brod war das erste Bedürfniß; daher entstanden bloß allein Ackerfelder, wozu man um die Wohnungen herum die Wälder ausrottete, und diese Ackerfelder wurden von einer ganzen Gesellschaft, von einer Ansiedlung zusammen, was man jetzt Dorf heißt, bestellt, die Früchte geärntet und vertheilt. Erst nach und nach wachte hierbey die Erfahrung, daß es besser ist, und weniger Streitigkeiten veranlaßt, wenn von dem ganzen Platze jeder einen Theil Grundes besonders nimmt, und selbst bebauet als wenn der ganze Platz in Gesellschaft bauet, gemeinschaftlich eingeärntet, und hierauf die Frucht vertheilet wird. Aus diesen Absonderungen bildete sich dann das Eigenthum der Gründe, eigene Felder.

[...]

Der Platz außerhalb dieser Feldkultur diente nun dem Vieh zur Weide, und um Holz daraus zu hohlen. Viel später fand man erst nützlich, kleinere Plätze von der Weide auszuschließen, und das Gras zum Futter für das junge Vieh nach Hause zu bringen, oder daß man für die vergrößerte Feldarbeit mehr Vieh zu Hause behalten müßte. So entstanden also die Wiesen, und das Eigenthum von Wiesengründen. Und noch viel später, als sich die Ansiedlungen in den Wäldern umher zu ihrer Ausrottung immer mehr vermehrten, und daher die Weiden und Waldungen zwischen den Ansiedlungen kleiner wurden, dachte man auf Abscheidungen und Gränzen der Waldungen, auch auf einzelne Zueignungen von mehr Wiesen, und selbst von kleinen Holzdistrikten; es erhielt also jedes Dorf, Flecken, oder Stadt nach und nach abgegränzte Weideplätze und Waldungen, die, weil sie von dieser oder jener Gemeinde benützt wurden, die Gemeinde-Viehweide z. B. von Allersbach x. [etc.], das Gemeindholz von Spitzheim x. genennt wurden.

Diese Gemeindeplätze bleiben also im übrigen noch sich selbst überlassen, und wurden nicht bebauet, sondern dienten nur für Weide und Holzbedarf, nach Art des allgemeinen, oben bemerkten wilden Hirtenstandes; und heut zu Tage bestehen unsere Weideplätze noch aus Moos und Waldung, gehören also noch ganz zu dem öden, unkultivierten Boden, der bisher in kein besonders, d. i. Privateigentum, übergegangen ist. In anderen Ländern wo die Bevölkerung schneller Anwuchs, und die Früchte der Landwirtschaft mehr Absatz hatten, ist schon früher der Zeitpunkt eingetreten, daß man auch auf diese unkultivirte Gründe mehr aufmerksam wurde. Vielfältige Erfahrungen hatten gelehret, daß die Weide selbst dem Vieh schädlich ist; das man drei bis viermal mehr Vieh, und in besserem, gesünderem Zustande halten kann, wenn man die Weideplätze kultivirt.

Da die Gemeinschaft der Holzbenutzung zu viel Holzabschwendung und Verwirrung verursachte, so fühlte man nach und nach die Lücken, sah, daß die Waldungen theils zu Licht wurden, theils für ihren zu großen Raum zu wenig ertrugen, auch mit mehr Sorgfalt nachgezogen, oder die Gründe anderst benützet werden mußten, und so kamen auch diese Weidplätze und Waldungen zur Abtheilung und wurden Privateigentum; daher in mehreren Ländern es dergleichen öde Gründe gar nicht mehr giebt, oder nur sehr wenige – folglich nur seltene Überbleibsel des ehemaligen wilden Hirtenstandes angetroffen werden. Eben darum sagt man auch in Beurtheilung der Länder: dieses Land ist mehr, jenes weniger kultivirt. Baiern gehörte bisher zu den letztern zu den weniger kultivirten Ländern. Die Hälfte seines Bodens bestand aus Möosern, Filzen, Weidenschaften, und Wälder ohne alle Kultur; Bayern zählt daher auch jetzt noch auf einer Quadratmeile, oder einem Flächenraume von 16000 Tagwerk im Durchschnitt nur über tausend Seelen, da hingegen in anderen mehr kultivirten Ländern 3 – 4000 und noch mehr auf so einem Flächenraume sich nähren. Auch noch andere Umstände, als immerwährende Kriege, das zu sehr begünstigte Jagdwesen, die zu große Beschränkung des Heirathens der Landleute, die Getreidsperren, und hundert dergleichen politische Fehler hinderten in Baiern den Aufschwung der Landwirtschaft und Bevölkerung. Seine wenigen Bewohner hatten ohnehin Gründe genug; auf Kultur öder Gründe zu denken, und hierüber Zeit und Geld verschlingende Prozesse abzustreiten, verlohnte nicht besonders da die Getreidepreise so gering waren, auch sonst jede Spekulation unterdrückt wurde.

Fr. Warum ist jetzt in Baiern die Kultur so sehr aufgewacht? Warum will jetzt alles nach diesen öden Gründen greifen.

Antw. Theils weil gleiche Bedürfnisse wie in den anderen Ländern eingetreten sind, theils weil man immer mehr von der Schädlichkeit der Weide überzeugt wird, weil alle Hindernisse, die bisher der Kultur solcher Gründe im Weg standen, gehoben sind, weil die immer höheren Fruchtpreise immer mehr zur Kultur reitzen, und endlich, weil die Gesetze nunmehr, anstatt die Kultur dieser Gründe zu verhindern, auf allen Seiten hierzu ermuntern.

Fr. Was sagen die Kulturgesetze im allgemeinen über diese Gründe?

Antw. Das sie zum allgemeinen Eigenthum des Landes, der Nation gehören; daher hat in vorigen Zeiten die oberste Gewalt der Nation, der Fürst, mit selben nach Gefallen gehandelt, hat Klöster und Unterthanen nach und nach ansiedeln, und diese Gründe urbar machen lassen. Endlich mit Anfang der 18. Jahrhunderts wurden sie im ganzen Lande öffentlich an den Meistbietenden von einer Churfürstlichen Kommission verkauft, worüber dann das erste Kultur-Mandat vom 30ten July 1723 erfolgte. [...] Dieses stellte die nämlichen Grundsätze auf: diesem Mandate gemäß wurden alle derley Gründe auf Gerechtigkeiten, besonders an Leerhäusler, oder sonst neue Ansiedler verliehen, und auf keine Weidenschaft Rücksicht genommen. [...] Im gleichen Sinne spricht auch noch die allgemeine Kulturverordnung von 1762. Diese erhielt aber nach und nach durch neuere Kulturmandate die Milderung und Abänderung, daß zwar jeder Fremde diese Gründe zu Kultur begehren kann; jedoch haben diejenigen Gemeinden,oder Unterthanen den Vorzug [...], welche bisher die Weidenschaft ausgeübt haben, und sich selbst zur Abtheilung und Kultur derselben erklären, welches auch gegenwärtig noch die Grundlage aller Kulturen und Kulturprozesse ist.

Fr. Kann also jeder, wer er immer sey, diesen oder jenen Weideplatz, Moos, oder sonst öden Platz zur Kultur verlangen, und wie wird hier verfahren?

Antw. Jeder Fremde, wer er auch sey, kann so einen Grund im Lande zur Kultur bey der General-Landes-Direktion nachsuchen. Diese giebt dann seine Vorstellung an jene Gerichtsstelle hinaus, in derer Bezirk der Platz liegt [...] und zwar mit dem Auftrage, diesen Gegenstand in Zeit 14 Tagen zu untersuchen, und unter den Interessenten entweder auszugleichen, oder zu verbscheiden [!]; und somit eröfnet sich ein sehr schnelles, abgekürztes, gerichtliches Verfahren, oder ein Kultursprozeß im Allgemeinen.


[1] Hazzi, Joseph: Katechismus der baierischen Landes-Kulturgesetze sammt einem Unterricht der Landwirthschaft für das Landvolk, auch zum Gebrauch für Richter und Rechtsanwälde, Volks- und Schullehrer, München 1804, Bd. 1, S. 2-19.


Für das Themenportal verfasst von

Richard Hölzl

( 2008 )
Zitation
Richard Hölzl, Landschaften der Barbarei. Mensch und Natur im zivilisatorischen Blick der Spätaufklärung, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2008, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1460>.
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