Herbert Marcuse und David Copper auf dem Dialectics of Liberation Congress, Transkripte einer Seminardiskussion (London, 1967); [Ausschnitte]

Herbert Marcuse: I am very happy to see so many flowers here, and that is why I want to remind you that flowers, by themselves, have no power whatsoever, other than the power of men and women who protect them and take care of them against aggression and destruction. As a hopeless philosopher from whom philosophy has become inseparable from politics, I am afraid I have to give here today a rather a rather philosophical speech and I must ask your indulgence for it. We are dealing with the dialectics of liberation. Actually redundant, because I believe that all dialectic is liberation, and not only liberation in an intellectual sense, but liberation involving the mind and the body, liberation involving the entire human existence. Now as to today and our own situation. I think we are faced with a novel situation in wisdom, because today we have to be liberated from a relatively well-functioning, rich powerful society. [...]

Herbert Marcuse und David Copper auf dem Dialectics of Liberation Congress, Transkripte einer Seminardiskussion (London, 1967); [Ausschnitte][1]

[Früherer Titel der Quelle: Dialectics of Liberation (1967)]

Herbert Marcuse: I am very happy to see so many flowers here, and that is why I want to remind you that flowers, by themselves, have no power whatsoever, other than the power of men and women who protect them and take care of them against aggression and destruction. As a hopeless philosopher from whom philosophy has become inseparable from politics, I am afraid I have to give here today a rather a rather philosophical speech and I must ask your indulgence for it. We are dealing with the dialectics of liberation. Actually redundant, because I believe that all dialectic is liberation, and not only liberation in an intellectual sense, but liberation involving the mind and the body, liberation involving the entire human existence. Now as to today and our own situation. I think we are faced with a novel situation in wisdom, because today we have to be liberated from a relatively well-functioning, rich powerful society. I am speaking here, and my main topic is, as you know, liberation from a the affluent society that is to say the advanced industrial societies, we are facing the problem, we are facing the need for liberation not from a poor society, not from a disintegrating society, not even in most cases from a cabalistic society, but from a society which develops to a great extent the material and even cultural needs of man, from a society to use the slogan which delivers the goods to a larger part of the population and that is, that implies, we are facing liberation from a society where liberation is apparently without a mass basis.

[...]

David Cooper: When we become conscious of our oppression we have to invent the strategy and tactics of our guerilla warfare. We de-racinated white intellectuals, we who are bourgeois and colonizing in essens [sic] even though some of us wear the spurious label of 'working class origin' – we must realize that we cannot pretend to engage in clandestine operations aimed at subverting the system because we have not been bred in that sort of struggle. Certainly, we may have to keep some secrets, but on the whole our scene is illuminated by all the forms of artificial lighting that issue from our culture. What we have to do quite simply is to deploy all our personal resources attacking the institutionalisation of experience and action in this society. We have one advantage over our rulers – we have a consciousness, although only marginal at times, of what is going on in the world; we see through their mystifications, the mystification that mystify the mystifiers but need no longer mystify us. By a transactional network of expertise, we can transform each institution – family, school, university, mental health, factory – each art form, into a revolutionary centre for a transforming consciousness.


[1] Archives of the Philadelphia Association, Dialectics of Liberation, transcript of the Seminar discussions.


Mapping antipsychiatry. Elemente für die Geschichte einer transnationalen Bewegung[1]

Von Benoît Majerus

Im Juli 1967 organisierten vier Psychiater – Ronald D. Laing, David Cooper, Aaron Esterson und Clancy Sigal – das zweiwöchiges Happening Dialectics of Liberation im Roundhouse, einem im nördlichen London gelegenen Kulturzentrum, das zu dieser Zeit ein wichtiger Ort der englischen Underground-Szene war. Auf dieser Tagung tratenzahlreiche Persönlichkeiten auf, die die politischen und akademischen Debatten der 1960er Jahren maßgeblich beeinflussten. Der Philosoph Herbert Marcuse, der Schriftsteller Allen Ginsberg, der Leader der Black Panther, Stokeley Carmicheal, der Theatertheoretiker Julian Beck und der Anthropologe Gregory Bateson debattierten über die Unfreiheit der Gesellschaften, sowohl in der westlichen Hemisphäre als auch in den früheren Kolonien. Zentrale Frage der zahlreichen Beiträge war, wie sich das Individuum aus den zahlreichen gesellschaftlichen Zwängen befreien könne. Der Schwerpunkt lag daher auf der Kritik an den modernen Institutionen, etwa an der Schule, dem Krankenhaus, der Religion oder der Fabrik. Es kam zu einer Vermischung mehrere Elemente der counter-culture der 1960er und 1970er Jahre (New Left, Hippie, Friedensbewegung).

Der Kongress Dialectis of Liberation war der erste Höhepunkt einer antipsychiatrischen Bewegung[2], die seit dem Ende der 1950er Jahre im englischsprachigen Raum einen immer größeren Einfluss erhielt. Kritik an asylären Strukturen begleitete die moderne Psychiatrie seit ihrem Bestehen am Anfang des 19. Jahrhunderts.[3] Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen sowohl in den USA als auch in Großbritannien Artikelserien und Bücher, die Missstände in den psychiatrischen Asylen anklagten: Unmenschliche Hierarchien, als brutal empfundene Therapieformen wie etwa den Elektroschock und die Reduzierung der Krankheiten auf deren biologische Aspekte waren nur einige der vielen Kritikpunkte.[4] Gleichzeitig entstand eine psychiatrische Reformbewegung (therapeutic community), die die Anstaltsstrukturen jedoch prinzipiell nicht in Frage stellte. Ihre Überlegungen sollten von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgegriffen werden: Somit kam es einerseits zu einer Legitimierung dieser Reformbewegung, andererseits zu ihrer Verbreitung außerhalb des britischen Raumes. Ende der 1950er Jahre versuchten sich dann mehrere Psychiater, die in Großbritannien arbeiteten, an grundlegenderen Veränderungen der psychiatrischen Versorgung, zuerst noch innerhalb des medizinischen Feldes. Am bekanntesten ist das Experiment Coopers mit jungen Schizophrenie-Kranken in der Villa 21. Diese Versuche wurden jedoch eher negativ rezipiert, was zu einer Radikalisierung der Reformer führte. Anfang der 1960er Jahre bauten diese dann eigene Strukturen außerhalb der Psychiatrie auf.

Am bekanntesten ist ohne Zweifel Kingsley Hall, eine Wohngemeinschaft im Londoner East End, die sich in den 1960er Jahren zu einem wahren Wallfahrtsort reformorientierter Psychiater aus ganz Westeuropa entwickelte. Mit der Autobiographie einer dort lebenden Patientin, Mary Barnes, lieferte die Kingsley Hall auch eine Ikone, die weit über die Grenzen Großbritanniens bekannt wurde.[5] Das Einreißen von Hierarchien, die Deinstitutionalisierung von psychiatrischen Strukturen und das Ausleben des „Wahnsinns“ implizierten für diese Gruppe auch das Ausbrechen aus der herkömmlichen medizinischen Logik. Es sollte jedoch nicht nur die Medizin, sondern auch die Gesellschaft, die den Wahnsinn hervorruft, grundlegend verändert werden. Deshalb organisierten die vier Psychiater die Tagung Dialectics of Liberation. Darüber hinaus wurde nach dem Kongress die Antiuniversity of London gegründet, die unter dem Motto „Black Power – Madness – Revolution“ ein „ongoing experiment in the development of conciousness“[6] versuchen wollte. Finanziert wurde sie von der Philadelphia Association, der Organisation, die auch Kingsley Hall unterstützte.

Bis Ende der 1960er Jahre blieb das englische Beispiel federführend in der Artikulierung der antipsychiatrischen Ideologie, auch wenn die Ausformungen und Chronologien in den einzelnen Ländern Westeuropas verschieden waren. In den Niederlanden wurden die Ideen aus Großbritannien sehr schnell rezipiert und in einigen Anstalten sogar in die Praxis umgesetzt. Mit Jan Foudraine und seinem Buch Wer ist aus Holz? bekam die niederländische Antipsychiatrie eine eigene Stimme.[7] In Frankreich konnte die Antipsychiatrie dagegen trotz der emblematischen Figur Michel Foucaults keinen großen Erfolg innerhalb der Psychiatrie erzielen. Dies liegt sicherlich einerseits daran, dass mit der in den 1950er Jahren einsetzenden sog. sectorisation“[8] und der psychothérapie institutionnelle“ Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung psychiatrischer Strukturen bestand. Andererseits existierte mit der Psychoanalyse, in Frankreich besonders stark vertreten, ein alternativer kritischer Diskurs. Mit Foucault, Deleuze, Guattari und anderen entstand jedoch eine einflussreiche intellektuelle Tradition, die die kritische Diskussion über die Psychiatrie bis heute am Leben gehalten hat. In Deutschland kam es schlussendlich zu einer zunehmenden Radikalisierung der Antipsychiatrie. An der Heidelberger Uniklinik gründete der Arzt Wolfgang Huber im März 1970 ein Patientenkollektiv, dessen zentrales Anliegen die politische Analyse des Wahnsinns und seiner Funktion in der Gesellschaft war. Die polizeiliche und gerichtliche Verfolgung des Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK) ein gutes Jahr nach dessen Gründung führte zu einer europaweiten Solidaritätsbewegung: In Belgien kam es zu einem Protestmeeting, in Frankreich zirkulierte eine Petition, die die Freilassung der SPK-Mitglieder forderte und unter anderem von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir unterschrieben war. Ein Teil des SPK sollte sich später in der Roten Armee Fraktion wiederfinden.

In sämtlichen Ländern wurde die Antipsychiatrie in den 1960er und 1970er hauptsächlich von kritischen Psychiatern und Sozialwissenschaftlern formuliert und getragen. Gemeinsam war diesen Bewegungen in Europa eine theoretische Ausrichtung, die sich stark auf drei zu Beginn der 1960er Jahre publizierte Bücher berief.

In Divided Self (1960) versuchte Ronald D. Laing die Psychiatrie durch eine kritische Analyse zu definieren, indem er die Behandlung von Menschen beschrieb, bei denen Schizophrenie diagnostiziert worden war. Laing sah das Problem nicht so sehr in der einzelnen Person, sondern eher in dem Beziehungsgeflecht in der Familie. Auf der anderen Seite betonte Laing die Bedeutung eines „ökologischen Selbst“: Der Mensch sollte nicht von einzelnen Spezialisten behandelt werden, sondern von Ärzten, die die Person als Ganzes betrachten. Stark von Philosophen wie Sartre beeinflusst, entwickelte Laing eine existentielle Psychologie und Psychiatrie, in der die subjektive Erfahrung berücksichtigt werden sollte. Laing versuchte die Erfahrungen, die Patienten ihm erzählten, als sinnvoll zu lesen und nicht als Ausdruck einer psychischen Krankheit abzutun. Laings Analyse blieb auf die Familie bezogen und ging kaum zu einer darüber hinausführenden gesellschaftlichen Kritik über.

In Folie et déraison (1961) stellte Michel Foucault die Frage des Wahnsinns in einem viel breiteren Rahmen. Er gab der Antipsychiatrie historische Tiefe, indem er sie als eine Gegenerzählung zur fortschrittsoptimistischen Meistererzählung der Medizin erklärte. Foucault zufolge gab es noch vor der Aufklärung einen Dialog zwischen Verstand und Unvernunft. Doch im 17. Jahrhundert hätte der Verstand die Unvernunftgemeistert. Foucault drehte damit die klassische Interpretation der Geschichte im Allgemeinen und der Geschichte der Wissenschaft insbesondere um, die von einer allmählichen Verbesserung des Wissens und der Menschheit ausgeht. Für viele Historiker war die Aufklärung eine zentrale Zeit in dieser teleologischen Vision. Für Foucault hingegen wurde die Aufklärung zum „dunklen Mittelalter“: Der Aufstieg der Vernunft habe die Macht nicht in Frage gestellt, sondern sie legitimiert. Er beschrieb die Zeit vor der Aufklärung als ein Moment, in dem Wahnsinn noch nicht als etwas radikal „Anderes“ angesehen wurde. Der Zeitraum zwischen 1650 und dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts wurde als die Periode des grand enfermement beschrieben. Foucault zufolge war diese Veränderung des Status der Wahnsinnigen eng mit der Geburt des Kapitalismus verbunden, der die notwendigen flexiblen Arbeitskräfte in den Anstalten fand. Das Einsperren habe die Entfremdung produziert.

Mit dem Konzept der „totalen Institution“ gab Goffmans Asylums (1961) der Antipsychiatrie das zentrale Stichwort in ihrem Kampf gegen die Asyle. Goffmann zufolge sind „totale Institutionen“ durch mehrere Elemente gekennzeichnet: Zunächst würden die traditionellen Grenzen zwischen Schlaf-, Freizeit-und Arbeitsräumen vollständig aufgelöst. Der Raum sei reduziert und multifunktional. Zweitens komme es mit der Einlieferung zu einem bürgerlichen Tod des Patienten: Zahlreiche Attribute, die sein Leben außerhalb des Krankenhauses definierten, würden ihm genommen: seine Kleider, sein Privatleben, seine persönlichen Sachen. Er erhalte eine neue Identität, die nicht mehr viele Gemeinsamkeiten mit dem Leben außerhalb der Anstalt habe. Drittens sei der Alltag durch Zeremonien charakterisiert, die ständig an den Gegensatz zwischen Insassen und Personal erinnern würden. Die meisten dieser Prozesse seien dabei nicht auf psychiatrische Kliniken beschränkt, sondern gälten ebenso für andere Institutionen wie Klöster, Kasernen, Gefängnisse, Schiffsbesatzungen und – Goffman zufolge – auch für die nationalsozialistischen Konzentrationslager und die sowjetischen Gulags.

In einer psychiatrischen Klinik lassen sich damit nach Goffman zwei Phänomene beobachten: Erstens, das Verhalten eines Patienten in der Anstalt würde als Teil seiner Krankheit interpretiert. Verhaltensweisen, die von der Gesellschaft akzeptiert werden, solange der Handelnde nicht als psychisch krank betrachtet wird, erhielten einen neuen Sinn in der Anstalt. Zweitens läge es im Wesen der Krankenhäuser – die räumliche Organisation, die Behandlung der Patienten, das Einschließen –, dass der Aufenthalt im Asyl zu einer Verschlechterung des Zustandes des Patienten führe. Die Entfremdung im Asyl verstärke die geistige Entfremdung, die wiederum die soziale Entfremdung verstärke.

Alle drei genannten Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, erschienen oft in einflussreichen Buchreihen[9] und erreichten zahlreiche Neuauflagen. Neben den genannten drei Autoren beeinflussten noch zahlreiche andere Strömungen aus den Vereinigten Staaten die europäische Anti-Psychiatrie, sei es in der theoretischen Überlegung (Gregory Bateson, Thomas Szasz), sei es in der Veränderung psychiatrischer Praxis (Free Clinics). Allgemein wurde der Wahnsinn dabei als stark sozial konstruiert und gesellschaftlich bedingt angesehen. Das Asyl als Institution, in der sogenannte „psychisch Kranke“ aufbewahrt werden, wurde oft als pathogen beschrieben und sollte deshalb mittelfristig abgeschafft werden. Schließlich wurde die Psychiatrie auch immer wieder als soziales Kontrollorgan dargestellt.

Gemeinsam war diesen Bewegungen ebenfalls das Streben, die Probleme der Psychiatrie in einen breiteren Interpretationsrahmen zu stellen. So flossen zahlreiche verschiedene Errungenschaften der Kultur- und Sozialwissenschaften der 1960er und 1970er Jahre mit in die Analyse ein: Freudo-Marxismus, Kommunikationstheorie, epidemiologische Arbeiten, Labeling-Theorie, soziologische Untersuchungen, Phänomenologie etc. Die Antipsychiatrie suchte immer wieder Anschluss an andere Bewegungen, die ähnliche gesellschaftliche Fragen stellten. Damit bettete sich die Psychiatriekritik einerseits in eine breitere Diskussion um die Folgen einer immer weitergehenden Medikalisierung ein, die unter anderem von Ivan Illich in seinem Buch Nemesis der Medizin artikuliert wurde. Andererseits entstanden Projekte in einem breiten Rahmen: Die Psychiatrie stellte in dieser Perspektive eine Art Werkzeugkasten dar, mit dem aktuelle soziale Fragen beantwortet werden sollten. In Frankreich entwickelten sich dabei enge Verbindungen zwischen der GIP (Groupe dinformation sur les prisons) und der GIA (Groupe Information Asiles). In Belgien arbeitete die GIA mit Gewerkschaften zusammen, um psychisch Kranke in den Betrieben zu begleiten. In Barcelona gab es Ende der 1960er Jahre innerhalb der linken außerparlamentarischen Opposition auch eine Arbeitsgruppe, die sich mit der Psychiatrie in Spanien beschäftigte.[10]

Insgesamt kann die Antipsychiatrie als Teil von „1968“ betrachtet werden, eine Chiffre, die eine Vielzahl sozialer Bewegungen zusammenfasst, die ihren Anfang Ende der 1950er Jahren nahmen und einen ersten Abschluss Mitte der 1970er Jahre fanden.[11] Auch wenn ihr Einfluss in den einzelnen Ländern unterschiedlich groß war, gab es doch zahlreiche Berührungspunkte: das Interesse für marginalisierte Gesellschaftsgruppen, für die Selbstverwaltung, das Infrage stellen der Autorität, ein kritisches Hinterfragen des Fortschrittsgedanken, der Skeptizismus gegenüber der Medikalisierung. Die positive Bewertung des Wahnsinns, des Unbändigen, des Unkontrollierten war omnipräsent. Die Psychiatrie erschien in diesem Kontext als Paradebeispiel einer totalen Machtausübung, die in diesen Jahren in Frage gestellt wurde. Sprüche wie „Ouvrons les portes des asiles, des prisons et autres facultés“ (Nanterre) zeugen von diesen gemeinsamen Anliegen der verschiedenen Gruppen.

Sieht man von einigen lokalen Experimenten (Brinkgreven-Krankenhaus in den Niederlanden, Deligny und Mannoni in Frankreich etc.) ab, konnte sich die Antipsychiatrie jedoch bis Ende der 1960er Jahre nirgendwo in Europa im medizinischen Feld durchsetzen. Mit der Psichiatria Democratica[12]entstand dann allerdings in Italien ein zweiter Referenzort, der einen ähnlich starken Einfluss auf Westeuropa ausübte wie Kingsley Hall zehn Jahre früher und von dem wichtige Anstöße zur Reform der Psychiatrie in Italien ausgingen.

Seit 1961 versuchte der italienische Psychiater Franco Basaglia im nordöstlichen gelegenen Gorizia die Anstaltsstrukturen aufzulockern. Mit dem 1968 publizierten L’istituzione negata, eine erste Bilanz dieser Reformbemühungen, wurde Basaglia bekannt. 1971 wechselte er nach Triest, das sich schnell zu einem Mekka der Antipsychiatrie entwickelte. Viele kritisch eingestellte Psychiater aus Westeuropa versuchten wenigstens einige Wochen oder Monate in der norditalienischen Stadt zu verbringen. Im Gegensatz zu den anderen antipsychiatrischen Bewegungen gelang es der Gruppe um Basaglia das Thema dauerhaft in der Gesellschaft und im politischen Tagesgeschehen zu verankern, so dass eine Reform der Psychiatrie zu einem gesellschaftlich breit getragenen Anliegen wurde. Unter anderem wurde die Kommunistische Partei zur Verfechterin einer grundlegenden Psychiatriereform in Italien. 1978 kam es dann zu dem sogenannten „Gesetz 180“, das vorsah sämtliche psychiatrische Asyle mittelfristig zu schließen.[13] Asyle sollten keine neuen Patienten mehr aufnehmen und versuchen die Anzahl ihrer Insassen zu reduzieren. Neue akute Fälle wurden kurzfristig in allgemeinen Krankenhäusern betreut.

Im Gegensatz zu vorher erwähnten Strömungen stellten die Psychiater um Basaglia den Nutzen der Psychiatrie nicht grundsätzlich in Frage. In sämtlichen westeuropäischen Ländern galt Italien daher den Anhängern der Bewegung als Beispiel für die Reformierbarkeit der Psychiatrie. Italien blieb jedoch eine Ausnahme: sicherlich kam es in allen Ländern zu Reformen, in denen Teile der antipsychiatrischen Ideen einflossen, grundlegend prägten diese die Veränderungen jedoch nicht. Inwieweit die Antipsychiatrie die heutige Praxis der Psychiatrie beeinflusst hat, bleibt daher weiterhin sehr umstritten. Im psychiatrischen Feld wird sie heute noch vor allem durch die von der Psychiatrie Betroffenen getragen. Wesentliche Kritikpunkte der Antipsychiatrie fanden jedoch Eingang in die Unterhaltungskultur, in Theater, Musik, Kunst oder Film. Als Bespiel seien hier nur One Flew Over the Cuckoo’s Nest von Milos Forman (1975) oder La Meglio gioventu von Marco Tullio Giordana (2003) genannt. Vielleicht mehr noch als die theoretischen Schriften haben sie das öffentliche Bild der Psychiatrie entscheidend beeinflusst.


[1] Essay zur Quelle: Herbert Marcuse und David Copper auf dem Dialectics of Liberation Congress, Transkripte einer Seminardiskussion (London, 1967); [Ausschnitte].

[2] Der Begriff Antipsychiatrie popularisierte sich erst mit dem 1967 von David Cooper verfassten Buch „Psychiatry and Anti-Psychiatry“ und wurde von vielen hier beschrieben Bewegungen nicht als Eigenbenennung genutzt. Der Prefix „Anti“ verweist auf eine breitere, sich zu dieser Zeit entwickelnden Bewegung: Antiliteratur, Antiimperialismus, Antiuniversität...

[3] Schmiedebach, Heinz-Peter, Eine „antipsychiatrische Bewegung“ um die Jahrhundertwende, in: Dinges, Martin (Hg.), Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich (ca. 1870-1933) (Medizin, Gesellschaft und Geschichte 9), Stuttgart, 1996, S. 127-159.

[4] Grob, Gerald N., From Asylum to Community. Mental Health Policy in Modern America, Princeton 1991, S. 70-92.

[5] Barnes, Mary, Mary Barnes: two accounts of a journey through madness, London 1971. Das Buch wurde in siebzehn Sprachen übersetzt.

[6] Archives of the Philadelphia Association, flyer of the Antiuniversity.

[7] Foudraine, Jan, Wie is van hout ... een gang door de psychiatrie, 27. Aufl., Bilthoven 1975.

[8] Ab den 1960er Jahren kam es in Frankreich zu einer Psychiatriereform, in der die ärztliche Versorgung hauptsächlich außerhalb des Krankenhauses und nach geographischen Prinzipien, den sogenannten „secteurs“, organisiert wurde.

[9] So erscheint Goffmans „Asylums“ in Frankreich in der Reihe „Le sens commun“, die von Pierre Bourdieau bei „Les éditions de minuit“ herausgegeben wird.

[10] Seidel-Diaz, Freddy, Antipsychiatrie approche historique et critique, PhD, Paris XII, 2000, 282-283.

[11] Gilcher-Holtey, Ingrid, Die 68er Bewegung: Deutschland, Westeuropa, USA, Mu¨nchen 2001.

[12] Diese Bewegung fand im Post-Franco Spaniens eine direkte Nachfolge in der „Psiquiatria Democratica“: Sedgwick, Peter, Psycho politics: Laing, Foucault, Goffman, Szasz, and the future of mass psychiatry, New York 1982, 135-136.

[13] Die Umsetzung des Gesetzes hing von den jeweiligen lokalen und regionalen Behörden ab, so dass es große Unterschiede gab. Im nördlichen Italien wurde das Gesetz weitestgehend umgesetzt, während es im südlichen Italien bis heute noch große asyläre Strukturen gibt.

Literaturhinweise:

  • Blok, Gemma, Baas in eigen brein: „antipsychiatrie“ in Nederland, 1965-1985, Amsterdam 2004.
  • Brink, Cornelia, Radikale Psychiatriekritik in der Bundesrepublik. Zum Sozialistischen Patientenkollektiv in Heidelberg, in: Kersting, Franz-Werner (Hg.), Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahren, Paderborn 2003, S. 165-179.
  • Coffin, Jean-Christophe, Ronald Laing et l’antipsychiatrie, in: Les années 68 un monde en mouvement. Nouveaux regards sur une histoire plurielle (1962-1981), Paris 2008, S. 332-344.
  • Crossley, Nick, Contesting psychiatry social movements in mental health, London 2006.
  • Gijswijt-Hofstra, Marijke; Porter, Roy (Hgg.), Cultures of psychiatry and mental health care in postwar Britain and the Netherlands, Amsterdam 1998.
  • Legrand, Michel, La psychiatrie alternative italienne, Toulouse 1988.

Quelle zum Essay
Mapping antipsychiatry Elemente für die Geschichte einer transnationalen Bewegung
( 2010 )
Zitation
Herbert Marcuse und David Copper auf dem Dialectics of Liberation Congress, Transkripte einer Seminardiskussion (London, 1967); [Ausschnitte], in: Themenportal Europäische Geschichte, 2010, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28403>.
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