Vom Ständestaat zur konstitutionellen Monarchie: Der Ort der polnischen Maiverfassung von 1791 in der europäischen Geschichte

Am 3. Mai 1791 verabschiedete der Vierjährige Reichstag in Warschau die erste kodifizierte Verfassung Europas. Dieses Ereignis ist bis heute kaum ins europäische Geschichtsbewusstsein vorgedrungen. Die amerikanische Verfassung von 1789 und die französische Verfassung vom 3. September 1791 gelten als die zentralen Meilensteine in der Geschichte der konstitutionellen Bewegung. Die polnische Maiverfassung hingegen ist außerhalb von Polen nur wenigen bekannt. Wie die amerikanische und die französische Verfassung, so ist auch die Maiverfassung ein Produkt der europäischen Aufklärung. Inspiriert von Montesquieu und John Locke verkündete sie die Souveränität der Nation und führte die Gewaltenteilung ein. Die Exekutive bestand aus dem König sowie einer aus Kronrat und Ministern bestehenden Regierung. Die Legislative bildete ein nach dem Mehrheitsprinzip entscheidender Reichsrat. Die Judikative lag in der Hand von Magistraturen, deren Richter gewählt wurden. [...]

Vom Ständestaat zur konstitutionellen Monarchie: Der Ort der polnischen Maiverfassung von 1791 in der europäischen Geschichte[1]

Von Jörg Ganzenmüller

Am 3. Mai 1791 verabschiedete der Vierjährige Reichstag in Warschau die erste kodifizierte Verfassung Europas. Dieses Ereignis ist bis heute kaum ins europäische Geschichtsbewusstsein vorgedrungen. Die amerikanische Verfassung von 1789 und die französische Verfassung vom 3. September 1791 gelten als die zentralen Meilensteine in der Geschichte der konstitutionellen Bewegung. Die polnische Maiverfassung hingegen ist außerhalb von Polen nur wenigen bekannt.[2] Wie die amerikanische und die französische Verfassung, so ist auch die Maiverfassung ein Produkt der europäischen Aufklärung. Inspiriert von Montesquieu und John Locke verkündete sie die Souveränität der Nation und führte die Gewaltenteilung ein. Die Exekutive bestand aus dem König sowie einer aus Kronrat und Ministern bestehenden Regierung. Die Legislative bildete ein nach dem Mehrheitsprinzip entscheidender Reichsrat. Die Judikative lag in der Hand von Magistraturen, deren Richter gewählt wurden. Die Maiverfassung verlieh den Städtern bürgerliche Rechte, und obwohl der katholische Glaube zur Staatsreligion erklärt wurde, gewährte sie den anderen Konfessionen eine freie Entfaltungsmöglichkeit.[3]

Doch wie kam es, dass ausgerechnet in Polen die erste moderne Verfassung Europas entstand? Noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts hätte niemand mit einer derartigen Entwicklung gerechnet. Die Verfasstheit der polnischen Adelsrepublik galt vielmehr als überholt und nicht reformierbar. Der Doppelstaat Polen-Litauen war in seinem Selbstverständnis eine Adelsdemokratie, tatsächlich herrschten jedoch wenige magnatische Familien, die ihren Einfluss auf weit verzweigte Klientelsysteme stützen konnten. Die monarchische Macht war in dieser Oligarchie vergleichsweise schwach ausgeprägt. Der polnische König verfügte weder über einen weitläufigen Beamtenapparat, mit dessen Unterstützung er den Staatsausbau hätte voranbringen können, noch über ein schlagkräftiges stehendes Heer, das er gegen das Militärpotential seiner Nachbarn Preußen, Russland und Österreich hätte ins Feld führen können. Es fehlte auch eine Schicht von Kaufleuten und Unternehmern, wie sie der früh entfaltende Kapitalismus etwa in England hervorgebracht hat. Und dennoch bahnten sich in Polen seit 1764 Reformen an, die nach der ersten Teilung des Landes 1772 an Fahrt gewannen und im „Großen Reichstag“ mündeten, der 1791 schließlich die Maiverfassung verabschiedete.[4]

Die ältere Historiographie hat den Niedergang der Adelsrepublik und die Teilungen Polens durch Preußen, das russische Zarenreich und die Habsburgermonarchie stets als eine Erfolgsgeschichte des landesfürstlichen Absolutismus beschrieben. Die hoffnungslos veraltete Adelsrepublik habe den militärisch schlagkräftigen und streng rational organisierten Nachbarstaaten nichts entgegenzusetzen gehabt. Eine überzogene ständische Mitbestimmung, wie man sie im Prinzip der Einstimmigkeit von Reichstagsbeschlüssen erkannte, habe zur innenpolitischen Selbstblockade der Adelsrepublik geführt, da der Reichstag seit der Mitte des 17. Jahrhunderts aufgrund des Einspruchs einzelner Landboten wiederholt zu keiner politischen Beschlussfassung fand. Die Adelsrepublik sei deshalb in erster Linie an ihrer inneren Schwäche gescheitert.[5]

Die neuere Forschung folgt dieser politischen Legitimation der Teilungsmächte nicht mehr. Inzwischen herrscht ein weitgehender Konsens darüber, dass die Adelsrepublik durch die aggressive Expansionspolitik seiner Nachbarn zerstört wurde. Die späteren Teilungsmächte förderten bereits seit dem beginnenden 18. Jahrhundert aktiv die Souveränitätskrise der Adelsrepublik durch eine „negative Polenpolitik“, wie Klaus Zernack die systematische Behinderung souveräner Machtentscheidungen durch die starken Nachbarmächte bezeichnet hat.[6] Und die drei Monarchen griffen stets dann zum Mittel der Teilung, wenn sich die Adelsrepublik anschickte, durch Reformen im Inneren die Souveränitätskrise zu überwinden und den Einfluss der Nachbarstaaten einzudämmen. Die Adelsrepublik hatte sich also sehr wohl als reformfähig erwiesen, doch die Nachbarstaaten verfolgten das Kalkül, Reformen, die zur inneren Konsolidierung führten, zu verhindern.[7]

Die Adelsrepublik zeigte sich nicht nur in der Lage, ihre innere Verfasstheit zu modifizieren und die Ursachen für die Souveränitätskrise zu beheben. Am Ende dieses 1764 einsetzenden Reformprozesses stand im Mai 1791 die erste kodifizierte Verfassung Europas. Damit hatte sich Polen an die Spitze jener konstitutionellen Entwicklung gesetzt, welche in Preußen erst 1848, in der Habsburgermonarchie 1849 und im Zarenreich nie zu einer Verfassung führen sollte. In ihren Bestimmungen über ein parlamentarisches Regierungssystem war die Maiverfassung ihrer Zeit voraus und ging auch weiter als viele spätere europäische Verfassungswerke. Wie kam es dazu, dass ausgerechnet in der als rückständig geltenden polnischen Adelsrepublik die bis dahin modernste Konstitution Europas entstand. Welche historische Konstellation machte die Maiverfassung möglich? Und welchen Stellenwert hat sie in der europäischen Verfassungsgeschichte?

Die Verabschiedung der Maiverfassung war nur in einer spezifischen innen- und außenpolitischen Konstellation möglich. Die Ausgangslage im Inneren war von einem Konflikt zweier Parteien geprägt. Auf der einen Seite standen die Reformkräfte, welche die Zentralgewalt des Königs stärken wollten, und auf der anderen Seite die selbst ernannten Verteidiger der „Goldenen Freiheit“ des polnischen Adels. Der frühneuzeitliche Dualismus zwischen Krone und Adel hatte wie in Böhmen und Ungarn auch in Polen eine Adelskultur hervorgebracht, die von einem egalitären Freiheitsdenken geprägt war. Jedem Adligen standen die gleichen Rechte zu, und der Adel vertrat auf dem Reichstag das Land gegenüber dem König.[8] In Polen-Litauen gingen die Rechte des Adels noch weiter als in anderen ständestaatlichen Ordnungen Ostmitteleuropas: Der polnische Adel wählte den König und seit dem Ende des 15. Jahrhunderts waren die politischen Beschlüsse des Reichstages für den Monarchen bindend. Seit dem Reichstag von 1652 etablierte sich das liberum veto als neue politische Praxis. Man legte das Privileg der „freien Stimme“ jedes Landboten in dem Sinne aus, dass Reichstagsbeschlüsse nur noch einvernehmlich getroffen werden konnten. Formal konnte fortan jeder Landbote mit seiner Gegenstimme einen politischen Beschluss des Reichstages zu Fall bringen, und im 18. Jahrhundert führte die immer häufiger eingesetzte Praxis des „Zerreißens“ von Land- und Reichstagen zu einer tief greifenden Verfassungskrise der Adelsrepublik.[9] Seit dem 17. Jahrhundert fiel es dem König immer schwerer, seine Macht gegenüber dem Adel zu behaupten, geschweige denn diese auszubauen. Stattdessen gewannen die Magnaten an Bedeutung, die den Kleinadel in Klientelsysteme einbanden und so ihre eigenen oder regionalen Interessen gegenüber der Krone durchsetzten. Gleichzeitig waren die Magnaten darauf bedacht, einen Ausbau der monarchischen Herrschaft zu verhindern.[10]

Aus der Verfassungskrise resultierte eine „Souveränitätskrise“ der Adelsrepublik. Durch politische Überzeugungsarbeit oder mittels Bestechung einzelner Landboten gewannen die europäischen Höfe Einfluss auf die Gestaltung der inneren Angelegenheiten Polens. Die Adelsrepublik wurde so zu einem Objekt der politischen Steuerung durch die Nachbarmächte. Insbesondere das Russische Reich betrachtete Polen als unmittelbares Vorfeld des eigenen Herrschaftsbereiches und wirkte darauf hin, die innere Schwäche des Unionsstaates zu erhalten.[11] Somit war eine neue außenpolitische Konstellation die zweite Voraussetzung für die Verabschiedung der Maiverfassung. Der erste Reformversuch von 1764 war noch an einer militärischen Intervention gescheitert und schließlich in die erste Teilung Polens gemündet. Ein erneuter Anlauf konnte nur dann Aussichten auf Erfolg haben, wenn das Zarenreich bereit war, die Reformen zu akzeptieren. Eine solche außenpolitische Konstellation war in den Jahren 1787 bis 1792 gegeben. Russland und Österreich waren durch den gemeinsamen Krieg gegen das Osmanische Reich gebunden und Preußen hatte kein Interesse an einem weiteren russischen Machtzuwachs in Ostmitteleuropa. Das Einvernehmen der Teilungsmächte war gestört, und für die Adelsrepublik bot sich somit die Chance, sich durch eine Reform im Inneren auch aus der politischen Umklammerung St. Petersburgs zu befreien. Als sich die Krise im preußisch-russischen Verhältnis 1790 zuspitzte, ließ der Vierjährige Sejm alle Rücksichten fallen und beschloss, das stehende Heer mit einem Schlag zu vervierfachen. Mit der Überführung des Ständischen Rates in Ministerien, der Reform der Landtage und der Neuordnung der Städte begründete man einen neuen Staat, der mit der Verfassung vom 3. Mai geradezu im Handstreich vollendet wurde und Polen in eine Erbmonarchie umwandelte.[12]

Zur Verabschiedung der Maiverfassung bedurfte es neben den innen- und außenpolitischen Voraussetzungen noch einen dritten Faktor, der die Ereignisse entscheidend vorantrieb: die Französische Revolution. Die Ereignisse in Paris übten einen großen Einfluss auf die Arbeit des Vierjährigen Reichstages aus, denn auch in Warschau verfolgte man die Einschränkung der französischen Monarchie und die Ablösung der ständischen Gesellschaftsordnung mit großer Aufmerksamkeit. Im Juli 1789 hatte die bäuerliche Gewalt gegen den französischen Landadel eine Emigrationswelle ausgelöst, und im August wurden sämtliche adligen Privilegien einschließlich der bäuerlichen Leibeigenschaft abgeschafft. Die Ereignisse in Frankreich stärkten die polnischen Republikaner. Schon nach der ersten Teilung Polens von 1772 hatten einzelne Reformpublizisten wie Stanislaw Staszic oder der Rektor der Universität Krakau, Hugo Kollataj, dafür plädiert, die „Adelsnation“ für andere Schichten zu öffnen und schrittweise in eine ständeübergreifende Gesellschaft zu transformieren. Zunächst setzten sich die polnischen Republikaner nur aus einer kleinen Bildungselite zusammen, doch seit der französischen Revolution gewannen diese schnell an Boden. Zur Reformpartei des Königs und dem konservativen Landadel trat also 1789 eine dritte politische Kraft hinzu, die sowohl anti-absolutistisch eingestellt war als auch die alten Privilegien der Szlachta beschneiden wollte.

Nicht nur die politische Konstellation verschob sich infolge der Französischen Revolution. Auch die Bedeutung eines zentralen Begriffs in der innenpolitischen Debatte der Adelsrepublik war einem Wandel unterzogen: der Freiheitsbegriff. Ursprünglich gehörte „Freiheit“ zum argumentativen Repertoire der Reformgegner. Die Vorstellung einer spezifischen „Polnische Freiheit“ war in der Mitte des 16. Jahrhunderts aufgekommen und war eine zutiefst ständische Freiheitsvorstellung, da Stadtbürger und Bauern von den adligen Privilegien wie der Steuerfreiheit oder der wirtschaftlichen Niederlassungs- und Gewerbefreiheit ausgeschlossen blieben.[13] Die republikanischen Kräfte versuchten nun, den Freiheitsbegriff neu zu besetzen und für ihre Zwecke zu vereinnahmen. Stanislaw Staszic gab etwa zu bedenken, dass es für die Stärkung der Macht Polens besser sei, „die Freiheit der anderen Mitbewohner zu vergrößern, als sich Tag und Nacht vor dieser schrecklichen Stunde zu fürchten, in der ein Mächtigerer alle für unfrei erklärt.“[14] Staszic kritisierte hier zum einen die Angst der Szlachta vor einem allzu mächtigen König, zum anderen spielte er auf die außenpolitische Bedeutung der „polnischen Freiheit“ an. Noch wichtiger erscheint allerdings, dass er dafür plädierte, „die Freiheit der anderen Mitbürger zu vergrößern“. Als Gegenentwurf zur Adelsnation trat er für eine Gesellschaft freier Bürger ein, die Verantwortung für das gesamte Staatswesen übernehmen sollten. Staszic stellte die Freiheit der Republik also über die ständische Freiheit, und erklärte zugleich die Freiheit ihrer Bürger zur Garantie der Adelsrepublik. Die Reformkräfte griffen in dieser Argumentation jenen egalitär-demokratischen Freiheitsbegriff auf, der auf Rousseau zurückging und sich durch die Idee der Volkssouveränität auszeichnete. Diese Freiheitsvorstellung stellten sie dem privilegiert-ständischen Freiheitsbegriff der Szlachta gegenüber, der um die persönliche Freiheit und individuelle Unabhängigkeit des einzelnen Adligen kreiste.[15]

Damit hatte sich für die Reformgegner die politische Herausforderung gewandelt. Die größte Gefahr ging jetzt nicht mehr vom Machtstreben des Königs, sondern vom Gleichheitsstreben der Unterprivilegierten aus. Die Entwicklung in Frankreich hatte gezeigt, dass nicht nur das liberum veto auf dem Spiel stand, sondern sämtliche Adelsprivilegien. Jan Dekkert, der ehemalige Präsident der Stadt Warschau, hatte die Zeichen der Zeit erkannt, als er den adligen Delegierten des Reichstages mit einer Revolution drohte, sollten diese die Bürger weiterhin von der Gesetzgebung ausschließen.[16] Und Ignaz Potocki, der zu den Reformkräften um den König gehörte, kündigte an, das Bürgertum gegen den Adel zu mobilisieren und die Leibeigenschaft abzuschaffen, wenn der Reichstag der Einführung einer Erbmonarchie nicht zustimmen sollte.[17]

In dieser neuen politischen Konstellation fand sich auch der König in einer veränderten Lage wieder. Auf einmal stand er zwischen den republikanischen Reformern und dem konservativem Landadel. Seine Chance bestand darin, zum Mittler dieser divergierenden Interessen zu werden. Stanislaw II. August gab in dieser Situation sein bis dahin nicht zuletzt mit Blick auf Russland vorsichtiges Taktieren auf. Unter dramatischen Umständen setzten er und seine Getreuen am 3. Mai 1791 die Verabschiedung der Verfassung im Sejm durch. Er übernahm mit seiner Initiative die Führung der Reformbewegung und nahm ihr zugleich ihre politische Spitze.[18]

Schließlich blieb die Maiverfassung jedoch hinter den Ideen der französischen Revolution zurück. Sie etablierte zwar die Gewaltenteilung, doch fehlte eine Proklamation von Grundrechten und der bürgerlichen Gleichheit, wie sie in der wenig später verabschiedeten französischen Verfassung und in den Verfassungen einiger amerikanischer Bundesstaaten enthalten waren. Und statt die Glaubensfreiheit festzuschreiben, erklärte die Maiverfassung die Priorität der katholischen Religion. Der Übertritt zu einem anderen Bekenntnis galt als strafbare Handlung.[19] Nicht die Volkssouveränität wurde zur Grundlage des polnischen Staates, sondern die Freiheiten und Privilegien des Adels bestätigt, der in Artikel 2 als „wahrhaftes Band der Gesellschaft, als den Augapfel der bürgerlichen Freiheit“ und zur „ersten Stütze der Freiheit und der gegenwärtigen Verfassung“ erklärt wurde.[20] So ist es letztlich nicht verwunderlich, dass auch die Bauern nicht befreit wurden, sondern die Leibeigenschaft erhalten blieb. Neue Legitimationsstrukturen eines modernen Verfassungskonzeptes sind in der Maiverfassung nicht enthalten, stattdessen schrieb sie die Strukturen einer mittelalterlichen Ständegesellschaft fest.

War die Maiverfassung letztlich also nur eine ständische Einhegung der Ideen der französischen Revolution? War sie eine defensive Reform der Adelsrepublik, deren eigentliches Ziel es war, die altständische Gesellschaftsordnung Polens zu bewahren und allenfalls mit den Erfordernissen der Zeit in Einklang zu bringen?[21] Oder war die Maiverfassung aus dem Geist der Aufklärung geboren und schuf etwas Neues, wenn auch nicht durch einen radikalen Umbruch, sondern in der Form einer „kontrollierten Revolution“?

Die Leistungen der Maiverfassung liegen zweifellos in der Konstituierung eines handlungsfähigen, sich als politische Einheit verstehenden Staatsgebildes, das nach außen abwehrbereit und nach innen entscheidungs- und durchsetzungsfähig gewesen wäre. Zudem schrieb sie den Elitenumbau fest, den die beiden wenige Wochen zuvor beschlossenen Gesetze über die Landtage und die Städte vollzogen hatten. Politische Rechte waren fortan nicht mehr an Herkunft, sondern weitgehend an Besitz gebunden. Während bislang alle Adligen das aktive und passive Wahlrecht besaßen, wurde nun neben der adligen Abstammung Grundbesitz zu einem weiteren Kriterium für das Wahlrecht erhoben. Damit waren die besitzlosen Adligen fortan von den Wahlen ausgeschlossen. Von insgesamt rund 700.000 polnischen Adligen verloren auf diese Weise etwa 300.000 ihre politischen Rechte. Daneben gewährte das Gesetz über die freien Städte den Stadtbewohnern den Anspruch, eine begrenzte Zahl von Abgeordneten auf den Reichstag zu wählen.[22] Da zudem der Weg zur Nobilitierung für vermögende Bürger erleichtert wurde, erhielt die Adelsrepublik eine neue soziale Grundlage: Nicht mehr die Szlachta bildete die politische Elite des Staatswesens, sondern die grundbesitzenden Adligen und vermögenden Bürger. Damit hatte man die Aufstiegskanäle für wohlhabende Städter geöffnet und zugleich den besitzlosen Kleinadel von der politischen Partizipation ausgeschlossen. Diese Reformen bedeuteten zweifellos den Einstieg in eine Gesellschaft von Staatsbürgern, doch stellte sie noch keine grundsätzliche Abkehr von der ständischen Ordnung dar.[23]

Bettet man den polnischen Reformprozess in die europäische Geschichte ein, dann ist die Maiverfassung ein Beleg dafür, dass der Weg zu einer konstitutionellen Monarchie nicht nur aus dem Absolutismus heraus möglich war. Davon zeugt zum einen die Entwicklung Großbritanniens, zum anderen die Reformära unter dem letzten polnischen König Stanislaw II. August.[24] Die Reformen der späten Adelsrepublik sind ein Beispiel für eine Staatsbildung jenseits des landesfürstlichen Absolutismus. Hier formulierten aufgeklärte Reformer vielmehr den Anspruch, ständisch verfasste Freiheit und landesfürstliche Obrigkeit miteinander zu verbinden. Eine konstitutionelle Staatlichkeit erwuchs aus den Traditionen korporierter Selbstregulierung und ständischer Freiheit. Die Genese der Maiverfassung verdeutlicht, dass der moderne Verfassungsstaat auch aus einer Ständeordnung auf evolutionärem Weg erwachsen konnte.



[1] Essay zur Quelle: Die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791.

[2] Zur Maiverfassung als polnischer Erinnerungsort im 19. und 20. Jahrhundert vgl. Kusber, Jan, Vom Projekt zum Mythos. Die polnische Maiverfassung 1791, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), S. 681–699.

[3] Vgl. Die Verfassung vom 3. Mai 1791, in: Gosewinkel, Dieter; Masing, Johannes (Hgg.), Die Verfassungen in Europa 1789–1949. Wissenschaftliche Textedition unter Einschluß sämtlicher Änderungen und Ergänzungen sowie mit Dokumenten aus der englischen und amerikanischen Verfassungsgeschichte, München 2006, S. 377–384. Zu den einzelnen Bestimmungen und der Verfassungspraxis vgl. Tenzer, Eva; Pleitner, Berit, Polen, in: Brandt, Peter; Kirsch, Martin; Schlegelmilch, Arthur (Hgg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Institutionen und Rechtspraxis im gesellschaftlichen Wandel. Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006, S. 546–600. Siehe auch: Fiszman, Samuel (Hg.), Constitution and Reform in Eighteenth-Century Poland. The Constitution of 3 May 1791, Indianapolis 1997.

[4] Vgl. den Problemaufriss von Schramm, Gottfried, Reformen unter Polens letztem König. Die Wandlungsfähigkeit eines Ständestaates im europäischen Vergleich (1764–1795), in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 1996/1, S. 203–215, hier S. 206.

[5] Zur Historiographie der Teilungen Polens siehe Müller, Michael G., Die Teilungen Polens 1772 – 1793 – 1795, München 1984, S. 65–87.

[6] Vgl. Zernack, Klaus, Negative Polenpolitik als Grundlage deutsch-russischer Diplomatie in der Mächtepolitik des 18. Jahrhunderts, in: Liszkowski, Uwe (Hg.), Russland und Deutschland. Festschrift für Georg von Rauch, Stuttgart 1974, S. 144–159; Zernack, Klaus, Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte, Berlin 1994, S. 256.

[7] Den besten Überblick über den Weg zu den Teilungen Polens findet sich bei Müller, Die Teilungen Polens, S. 26–55. Siehe außerdem: Lukowski, Jerzy, The Partitions of Poland 1772, 1793, 1795, London 1999; Freiherr von Aretin, Karl Otmar, Tausch, Teilung und Länderschacher als Folgen des Gleichgewichtssystems der europäischen Großmächte. Die Polnischen Teilungen als europäisches Schicksal, in: Zernack, Klaus (Hg.), Polen und die polnische Frage in der Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1701–1871, Berlin 1981, S. 53–68.

[8] Vgl. Puttkamer, Joachim von, Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, München 2010, S. 6.

[9] Die ältere Historiographie hat die innenpolitische Blockade durch das „liberum veto“ allerdings stark überzeichnet. In der Praxis ging es häufig um die Organisation von Mehrheiten, vgl. Müller, Michael G., Polen zwischen Preußen und Russland. Souveränitätskrise und Reformpolitik 1736–1752, Berlin 1983, S. 112–151.

[10] Vgl. Jaworski, Rudolf; Lübke, Christian; Müller, Michael G., Eine kleine Geschichte Polens, Frankfurt am Main 2000, S. 169f.

[11] Vgl. Zernack, Polen und Russland, S. 276–295.

[12] Zu den Umständen ihrer Verabschiedung vgl. Kalinka, Valerian, Der vierjährige Reichstag 1788 bis 1791, 2 Bde., Berlin 1898, Bd. 2, S. 725–744; Lukowski, Jerzy, Liberty’s Folly. The Polish-Lithuanian Commonwealth in the Eighteenth Century, 1697–1795, London, New York 1991, S. 247–252; ders., The Partitions of Poland, S. 138–141; Zamoyski, Adam, The Last King of Poland, London 1992, S. 326–340; Daniel Stone, Polish Politics and National Reform 1775–1788, New York 1976, S. 277–282.

[13] Vgl. Bömelburg, Hans-Jürgen, „Polnische Freiheit“ – Zur Konstruktion und Reichweite eines frühneuzeitlichen Mobilisierungsbegriffs, in: Schmidt, Georg; Gelderen, Martin van; Snigula, Christopher (Hgg.), Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400–1850), Frankfurt am Main u.a. 2006, S. 191–222, hier S. 193.

[14] Staszic, Stanislaw, Bemerkungen zum Leben Jan Zamoyskis, in: Libera, Zdzislaw (Hg.), Polnische Aufklärung. Ein literarisches Lesebuch, Frankfurt am Main 1989, S. 302–307, hier S. 302.

[15] Zu den Freiheitsbegriffen im Europa jener Zeit vgl. Hahn, Hans-Werner, Die alte Freiheit und der Beginn der Moderne. Überlegungen zur Bedeutung der „deutschen Freiheit“ in den politischen Formierungsprozessen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Schmidt, Georg; Gelderen, Martin van; Snigula, Christopher (Hgg.), Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400–1850), Frankfurt am Main u.a. 2006, S. 515–535, hier S. 516.

[16] Merkwürdiges Schreiben des Herrn Johann Dekkert, weiland Präsident der alten Stadt Warschau, an den Reichstags- und Kronconföderations-Marschall, Stanislaus Malachowski, in: Historisch-Politisches Magazin 1790, Nr. 8, S. 559–564, hier S. 562f.

[17] Vgl. Kalinka, Der vierjährige Reichstag, S. 701.

[18] Vgl. Zamoyski, The Last King of Poland, S. 332f.

[19] Vgl. Olszewski, Henryk, Die Maikonstitution als Krönung der Reformbewegung in Polen im 18. Jahrhundert, in: Jaworski, Rudolf (Hg.), Nationale und internationale Aspekte der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791, Frankfurt am Main 1993, S. 24–42, hier S. 35f.

[20] Verfassung vom 3. Mai 1791, Artikel 2, S. 378.

[21] So Schramm, Reformen unter Polens letztem König, S. 207.

[22] Vgl. Lukowski, Liberty’s Folly, S. 246; Zamoyski, The Last King of Poland, S. 336. Die beiden Gesetze sind in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Jaworski, Rudolf (Hg.), Nationale und internationale Aspekte der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791, Frankfurt am Main u. a. 1993, S. 144–169.

[23] Vgl. Müller, Michael G., Adel und Elitenwandel in Ostmitteleuropa. Fragen an die polnische Adelsgeschichte im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 50 (2001), S. 497–513, hier S. 503.

[24] Die englische Verfassung hatte auch einen maßgeblichen Einfluss auf Stanislaw II. August und die polnische Maiverfassung, vgl. Butterwick, Richard, Poland’s Last King and English Culture. Stanislaw August Poniatowski, 1732–1798, Oxford 1998.



Literaturhinweise

  • Bömelburg, Hans-Jürgen, "Polnische Freiheit" – Zur Konstruktion und Reichweite eines frühneuzeitlichen Mobilisierungsbegriffs, in: Schmidt, Georg; Gelderen, Martin von; Snigula, Christoph (Hgg.), Kollektive Freiheitsvorstellungen im frühneuzeitlichen Europa (1400–1850), Frankfurt am Main 2006, S. 191–222.
  • Fiszman, Samuel (Hg.), Constitution and Reform in Eighteenth Century Poland. The Constitution of 3 May 1791, Indianapolis 1997.
  • Schramm, Gottfried, Reformen unter Polens letztem König. Die Wandlungsfähigkeit eines Ständestaates im europäischen Vergleich (1764–1795), in: Berliner Jahrbuch für Osteuropäische Geschichte 1996,1, S. 203–215.
  • Stone, Daniel, Polish Politics and National Reform 1775-1788, New York 1976.
  • Zamoyski, Adam, The Last King of Poland, London 1992.

Die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791[1]

Stanislaus Augustus von Gottes Gnaden und durch den Willen der Nation von Großherzog von Litthauen u. s. f. zugleich mit den in verdoppelter Zahl die polnische repräsentirenden conföderirten Ständen.

Da Wir überzeugt sind, daß unser aller gemeinschaftliches Schicksal einzig und allein von der Gründung und Vervollkommnung der Nationalverfassung abhängt, und durch eine lange Erfahrung die verjährten Fehler unserer Regierungsverfassung kennen gelernt haben; da wir die Lage, worin sich befindet, und den zu Ende eilenden Augenblick, der uns wieder zu uns selbst gebracht hat, zu benutzen wünschen; da wir frei von den schändenden Befehlen auswärtiger Uebermacht, die äußere Unabhängigkeit und innere Freiheit der Nation, deren Schicksal unseren Händen anvertraut ist, höher schätzen, als unser Leben und unsere persönliche Glückseligkeit; da wir uns zu gleicher Zeit auch die Segnungen, und die Dankbarkeit unserer Zeitgenossen und der künftigen Geschlechter zu verdienen wünschen; so beschließen wir, ungeachtet der Hindernisse, welche bei uns selbst Leidenschaft entgegen stellen könnte, der allgemeinen Wohnfahrt wegen, zur Gründung der Freiheit, zur Erhaltung unseres Vaterlandes und seiner Grenzen, mit der festesten Entschlossenheit unseres Geistes gegenwärtige Verfassung, und erklären sie durchaus für heilig und unverletzbar, bis die Nation in der gesetzlich vorgeschriebenen Zeit, durch ihre ausdrückliche Willenserklärung, die Abänderung dieses oder jenes Artikels für nothwendig erachten wird. Eben dieser Verfassung sollen auch alle fernere Beschlüsse des jetzigen Reichstages in jeder Rücksicht angemessen seyn.

1. Herrschende Religion

Die herrschende Nationalreligion ist und bleibt der heilige römisch-katholische Glaube mit allen seinen Rechten. Der Uebergang von dem herrschenden Glauben zu irgend einer andern Confession wird bei den Strafen der Apostasie untersagt. Da uns aber eben dieser heilige Glaube befielt, unsern Nächsten zu lieben; so sind wir deshalb schuldig, allen Leuten, von welchem Bekenntnisse sie immer auch seyn mögen, Ruhe in ihrem Glauben und den Schutz der Regierung angedeihen zu lassen. Deshalb sichern wir hiemit, unsern Landesbeschlüssen gemäß, die Freiheit aller religiösen Gebräuche und Bekenntnisse in den polnischen Landen.

2. Edelleute, Landadel

Mit Hochachtung des Andenkens unsrer Vorfahren, der Stifter unsers freien Staats, sichern wir dem Adelstande aufs feierlichste alle seine Freiheiten und Prärogativen, und den Vorrang im Privatleben und öffentlichen Leben. Insonderheit aber bestätigen und bekräftigen wir, und erklären für unverletzbar, die diesem Stande von Casimir dem Großen, Ludwig von Ungarn, Wladislaus Jagiello, und dessen Bruder Wittold, Großherzog von Litthauen, wie auch von den Jagiellonen Wladislaus und Casimir, von den Gebrüdern Johan Albrecht, Alexander und Sigismund I., von Sigismund August, den letzten von der jagiellonischen Linie, rechtmäßig und gesetzlich ertheilten Rechte, Statuten und Privilegien. Die Würde des Adelstandes in Polen erklären wir für völlig gleich mit allen den verschiedenen Graden des Adels, die nur irgendwo gebräuchlich sind. Wir erkennen die Edelleute unter sich für gleich, und zwar nicht bloß in Rücksicht der Bewerbung um Aemter und Verwaltung solcher Dienste im Vaterlande, die Ehre, Ruhm und Vortheil bringen, sondern Rücksicht des gleichen Genusses der Privilegien und Prärogativen des Adelstandes. Mehr als alles aber wollen wir die Rechte der persönlichen Sicherheit und Freiheit, des beweglichen und unbeweglichen Eigenthums, eben so heilig und unverletzlich, als sie seit Jahrhunderten einem zu statten gekommen, bewahrt und beibehalten haben, und verbürgen uns auf das feierlichste, daß wir keine Veränderung noch Ausnahme im Gesetze gegen das Eigenthum irgend Jemandes gestatten wollen: ja die höchste Landesgewalt soll sich unter Vorschützung der jurium regaliurn, oder irgend einem andern Vorwande, auch nicht die allergeringsten Ansprüche auf das Eigenthum der Bürger, weder im Ganzen noch theilweise, erlauben. Daher verehren, verbürgen und bestätigen wir die persönliche Sicherheit und alles irgend zukommende als das wahrhafte Band der Gesellschaft, als den Augapfel der bürgerlichen Freiheit, und wollen sie auch als solche für die künftigen Zeiten verehrt, verwahrt und unverletzt erhalten haben.

Den Adel erkennen wir für die erste Stütze der Freiheit und der gegenwärtigen Verfassung. Die Heiligkeit dieser Verfassung empfehlen wir der Verehrung jedes rechtschaffenen, patriotischen, ehrliebenden Edelmannes, und ihre Dauer seiner Wachsamkeit. Sie ist ja der einzige Schutz unseres Vaterlandes und unserer Freiheiten!

3. Städte und Städter

Das auf diesem Reichstage unter dem Titel: Unsere freien königlichen Städte in den Staaten der Republik gegebene Gesetz, wollen wir nach seinem ganzen Inbegriffe bestätigt wissen, und erklären es, da es ein Gesetz ist, welches dem freien polnischen Adel zur Sicherheit seiner Freiheiten, und Erhaltung des gemeinschaftlichen Vaterlandes eine neue, zuverlässige und wirksame Macht und Hülfe giebt, für einen Theil der gegenwärtigen Verfassung.

[…]

6. Der Reichstag, oder die gesetzgebende Gewalt

Der Reichstag oder die versammelten Stände sollen sich in zwei Stuben theilen, in dieLandbotenstube und die Senatorenstube, unter dem Vorsitze des Königs.

Die Landbotenstube soll, als Repräsentant und Inbegriff der Souverainetät der Nation, das Heiligthum der Gesetzgebung seyn; daher soll auch zuerst in der Landboteustube über alle Projecte decidirt werden, und zwar 1) in Rücksicht der allgemeinen, das heißt der politischen Zivil und Criminalgesetze, und der Anwendung fester Abgaben. Unter diesen Materien sollen die den Woywodschaften, Bezirken und Kreisen vom Throne zur Prüfung übergebenen, und durch die Instructionen in die Stube gelangten Propositionen zuerst zur Entscheidung kommen. 2) In Rücksicht der Reichstagsbeschlüsse, das heißt der Beschlüsse über einstweilige Steuern, über den Münzfluß, über Staatsanleihen, über das Adeln und andere Gattungen zufälliger Belohnungen, über die Eintheilung der öffentlichen ordentlichen und außerordentlichen Ausgaben, über Krieg und Frieden, über die endliche Ratification der Allianz- und Handelstractate, über alle aufs Völkerrecht sich beziehende diplomatische Acten und Verabredungen, über das Quittiren der vollziehenden Magistraturen, und über ähnliche Hauptbedürfnisse der Nation betreffende Vorfälle. Unter diesen Materien sollen die vorn Throne geradezu an die Landbotenstube abzugebenden Propositionen zuerst vorgenommen werden.

Die Senatorenstube, die unter dem Vorsitze des Königs – der das Recht hat, einmal seine Stimme zu geben, und dann auch die Stimmengleichheit persönlich oder durch Uebersendung seiner Meinung an diese Stube zu heben – aus den Bischöfen, Wyworden, Kastellanen und Ministern besteht, hat folgende Verpflichtung auf sich: 1) jedes Gesetz, das nach seinem formellen Durchgange durch die Landbotenstube auf der Stelle an den Senat abgeschickt werden muß, entweder anzunehmen, oder durch die gesetzlich vorgeschriebene Stimmenmehrheit der fernern Deliberation der Nation vorzubehalten. Durch die Annahme wird das Gesetz Kraft und Heiligkeit bekommen; durch den Vorbehalt hingeben bloß bis zum künftigen ordinären Reichstage ausgesetzt bleiben, wo dieses vom Senate aufgeschobene Gesetz, wenn man zum zweitenmale darüber einig wird, angenommen werden muß. 2) Soll sie über jeden Reichstagsbeschluß über die oben angeführten Materien, der ihr von der Landbotenstube auf der Stelle überschickt werden muß, zugleich mit der Landbotenstube nah der Stimmenmehrheit decidiren. Die vereinigte, dem Gesetze gemäße, Stimmenmehrheit beider Stuben wird dn4 Ausspruch und Willen der Stände ausmachen.

Hierbei behalten wir uns vor, daß die Senatoren und Minister, bei den Materien über die Rechtfertigung ihrer Amtsführung im Staatsrathe oder in den Commissionen keine entscheidende Stimme im Reichstage haben, und alsdann bloß deshalb im Senat sitzen sollen, um auf das Begehren des Reichstages Auskunft zu geben. Der Reichstag soll stets fertig seyn, der gesetzgebende und ordinäre soll aller zwei Jahre seinen Anfang nehmen, bei dringenden Bedürfnissen berufene, Reichstag soll bloß über die Materien entscheiden, derentwegen er berufen wurde, aber auch über ein zur Zeit seiner Zusammenberufung sich ereignendes Bedürfniß. Kein Gesetz kann auf dem nämlichen ordniären Reichstage, auf welchem es gegründet wurde, aufgehoben werden. Der vollständige Reichstag soll aus der in einem folgenden Gesetze bestimmten Anzahl Personen in der Landboten- und Senatorenstube bestehen. Das auf dem jetzigen Reichstage gegründete Gesetz von den Landtagen wollen wir als die wesentliche Grundlage der bürgerlichen Freiheit feierlich sicher gestellt wissen.

Da nun aber die Gesetzgebung nicht von allen verwaltet werden kann, und sich die Nation durch freiwillig gewählte Repräsentanten oder Landboten derselben entledigt; so setzen wir deshalb fest, daß die auf dem Landtage erwählten Landboten, der jetzigen Verfassung zu Folge, bei der Gesetzgebung und bei allgemeinen Nationalbedürfnissen als Repräsentanten der ganzen Nation, als Inhaber des allgemeinen Zutrauens angesehen werden sollen.

7. Der König, die vollziehende Gewalt

Auch die vollkommenste Regierung kann ohne eine wirksame vollziehende Gewalt nicht bestehen. Das Glück der Nationen hängt von gerechten Gesetzen, die Wirkung der Gesetze von ihrer Vollziehung ab. Die Erfahrung hat zur Genüge gelehrt, daß die Hintansetzung dieses Theiles der Regierung, Polen mit Unglück aller Art erfüllt hat. Nachdem wir daher der freien polnischen Nation die Gewalt, sich selbst Gesetze zu geben, und die Macht, über jede vollziehende Gewalt zu wachen, ingleichen aber auch die Wahl der Beamten zu den Magistraturen vorbehalten haben; so übergeben wir die Gewalt der höchsten Vollziehung der Gesetze dem Könige in seinem Staatsrathe, der den Namen Wach der Gesetze (straz) führen soll.

Die vollziehende Gewalt ist aufs genaueste verbunden, über die Gesetze und ihre Erhaltung Obacht zu haben. Sie wird durch sich selbst thätig seyn, wo es die Gesetze erlauben, wo sie Aufsicht, Vollziehung und wirksame Hilfe erheischen. Ihr sind alle Magistraturen stets Gehorsam schuldig; in ihre Hände übergeben wir die Macht, ungehorsame und ihre Pflichten hintansetzende Magistraturen zu ihrer Schuldigkeit anzutreiben.

Die vollziehende Gewalt soll keine Gesetze weder geben noch erklären, keine Abgaben und Steuern, unter welchem Namen es auch sey, auflegen, keine Staatsanleihen machen, die vom Reichstage gemachte Eintheilung der Schatzeinkünfte nicht abändern, keine Kriege erklären, keinen Frieden, keinen Tractat und keine diplomatische Acten definitiv abschließen können. Es soll ihr bloß freistehen, einstweilige Unterhandlungen mit den auswärtigen Höfen zu pflegen, ingleichen einstweiligen und gemeinen Bedürfnissen zur Sicherheit und Ruhe des Landes abzuhelfen; aber hiervon ist sie verpflichtet, der nächsten Reichstagsversammlung Bericht zu erstatten.

Wir wollen und verordnen, daß der polnische Thron auf immer ein Familienwahlthron sein soll. Die zur Genüge erfahrnen Uebel der die Regierung periodisch zertrümmernden Zwischenreiche; unsere Pflicht, das Schicksal jedes Einwohners in Polen sicher zu stellen, und dem Einfluß auswärtiger Mächte auf immer zu steuern; das Andenken der Herrlichkeit und Glückseligkeit unseres Vaterlandes zu den Zeiten der ununterbrochenen regierenden Familien; die Nothwendigkeit, Fremde von dem Streben nach dem Throne zurückzuhalten, und dagegen mächtige Polen zur einmüthige Beschützung der Nationalfreiheit zurückzuführen, haben uns nach reifer Ueberlegung bewogen, den polnischen Thron nach dem Gesetze der Erbfolge zu vergeben. Wir verordnen daher, daß nah unserm der Gnade Gotes heimgestellten Ableben, der jetzige Churfürst von Sachsen in Polen König seyn soll. Die Dynastie der künftigen Könige von Polen wird also mit der Person Friedrich Augusts, jetzigen Churfürsten von Sachsen, ihren Anfang nehmen, dessen Nachkommen de lumbis männlichen Geschlechts wir den polnischen Thron bestimmen. Der älteste Sohn des regierenden Königs soll dem Vater auf dem Throne nachfolgen. Sollte aber der jetz8ige Churfürst von Sachsen keine Nachkommen männlichen Geschlechts erhalten; so soll, auf den Fall, der vom Churfürsten mit Genehmigung der versammelten Stände für seine Prinzessin Tochter gewählte Gemahl die Linie der männlichen Erbfolge auf dem polnischen Throne anfangen. Daher erklären wir nun auch die Maria Augusta Nepomucena, Prinzessin Tochter des Churfürsten, für die Infantin von Polen, behalten aber dabei der Nation das keiner Verjährung unterworfene Recht vor, nach Erlöschung des ersten Hauses auf dem Throne, ein anderes zu wählen.

Jeder König wird bei seiner Thronbesteigung Gott und der Nation den Eid leisten, auf die Erhaltung gegenwärtiger Verfassung, und auf die pacta conenta, die mit dem jetzigen Churfürsten von Sachsen, als ernannten Thronfolger, werden abgeschlossen worden seyn, und die ihn eben so, als die alten, verpflichten werden.

Die Person des Königs ist heilig und unverletzlich. Da er nichts für sich selbst thut; so kann er auch der Nathion für nichts verantwortlich seyn. Nicht Selbstherrscher, sondern Vater und Haupt der Nation soll er seyn; und dafür erkennt und erklärt ihn das Gesetz und die gegenwärtige Verfassung.

Die Einkünfte, wie sie in den pactis conventis werden bestimmt werden, und die dem Throne eigenthümlichen, dem künftig zu wählenden, durch diese Verfassung sicher vorbehaltenen Prärogativen sollen nie angetastet werden können.

Alle öffentlichen Acten, alle Tribunale, Gerichte und Magistraturen, alle Geldstempel müssen den Namen des Königs führen. Der König, der Macht haben soll Gutes zu thun, wird das Recht haben, die zum Tode Verdammten zu begnadigen, Staatsverbrecher allein ausgenommen. Dem Könige soll die höchste Herrschaft über die bewaffnete Landesmacht und die Ernennung der Anführer des Kriegsheeres zukommen, doch dabei die Abänderung derselben nach dem Willen der Nation vorbehalten bleiben. Seine Pflicht wird es auch seyn, die Officiere zu bestellen, Beamte nach der Vorschrift eines später folgenden Gesetzes zu erwählen, Bischöfe und Senatoren nach der Vorschrift dieses Gesetzes, ingleichen Minister als die ersten Beamten der vollziehenden Gewalt zu ernennen.

Der dem Könige zur Aufsicht, Erhaltung und Vollziehung der Gesetze zugegebene königliche Staatsrath (straz) soll bestehen: 1) Aus dem Primas, als dem Haupte der polnischen Geistlichkeit und Vorsitzer der Erziehungscommission. Seine Stelle im Staatsrathe kann durch den ersten Bischoff der Ordnung nach vertreten werden; aber weder jener noch dieser können Resolutionen unterschreiben. 2) Aus fünf Ministerien, nämlich dem Polizeiminister, dem Justizminister, dem Kriegsminister, dem Schatzminister und dem Minister für auswärtige Angelegenheiten. 3) Aus zwei Secretairen, von denen der eine das Protocoll des Staatsraths, der andere das Protocoll der auswärtigen Angelegenheiten führen wird, beide ohne entscheidende Stimme.

Der Thronfolger darf, wenn er mündig geworden ist, und den Eid auf die Verassung geleistet hat, bei allen Sitzungen des Staatsraths, doch ohne Stimme gegewärtig seyn.

Der Reichstagsmarschall, der auf zwei Jahre erwählt wird, soll mit zu der Zahl der im Staatsrathe sitzenden Personen gehören, doch ohne an dessen Resolutionen Theil zu nehmen, sondern blos deswegen, um unter folgenden Umständen den fertigen Reichstag zusammen zu rufen: wenn er nämlich bei Vorfällen, die das Berufen des fertigen Reichstages nothwendig erheischen, das wirkliche Bedürfniß desselben erkennen, der König hingegen sich weigern sollte, ihn zu berufen; alsdann soll dieser Marschall Kreisschreiben an die Landboten und Senatoren ergehen lassen, sie zum fertigen Reichstage berufen, und die Beweggründe dazu anzeigen.

Die Fälle, wo die Berufung des Reichstages nothwendig wird, sind blos folgende: 1) bei einem dringenden, auf das Völkerrecht sich beziehenden Bedürfnisse, insonderheit bei einem benachbarten Kriege. 2) Bei innerlichen Unruhen, die dem Lande mit einer Revolution, oder mit Collisionen zwischen den Magistraturen drohen. 3) Bei der augenscheinlichen Gefahr einer allgemeinen Hungersnoth. 4) Bei Verwaisung des Vaterlandes durch den Tod des Königs, oder bei einer gefährlichen Krankheit desselben.

Alle Resolutionen sollen im Staatsrathe von der oben auseinandergesetzten Personenzahl geprüft werden. Nach Anhörung aller Meinungen soll die Decision des Königs das Uebergewicht haben, damit es bei Vollziehung des Gesetzes nur eine Willensmeinung gebe. Daher soll auch keine Resolution anders aus dem Staatsrathe kommen, als unter dem Namen des Königs, und mit seiner eigenhändigen Unterschrift. Außerdem muß sie aber auch von einem der im Staatsrathe sitzenden Minister unterschrieben seyn. So unterschrieben soll sie erst zum Gehorsam verbinden und von den Commissionen oder irgend einer vollziehende Magistratur befolgt werden; doch blos in den Materien, die durch gegenwärtiges Gesetz nicht ausdrücklich ausgeschlossen sind. Auf den Fall, daß keiner von den Sitz und Stimme habenden Ministern die Decision unterschreiben wollte, soll der König von der Decision abstehen. Sollte er aber darauf bestehen; so wird bei diesem Ereigniß der Reichstagsmarschall um die Berufung des fertigen Reichstages bitten, und wenn der König diese Berufung verzögern sollte, ihn selbst berufen.

So wie der König das Recht hat, alle Minister zu ernennen; so hat er auch das Recht, einen von ihnen aus jeder Abtheilung der Regierungsverwaltung zum Staatsrathe zu rufen. Diese Berufung des Ministers zum Sitze im Staatsrathe soll auf zwei Jahre gelten, doch die weitere Bestätigung derselben dem Könige freistehen. Die zum Staatsrathe berufenen Minister sollen in keinen Commissionen sitzen.

In dem Falle hingegen, daß beide auf dem Reichstage vereinigten Stuben mit einer Mehrheit von zwei Dritteln geheimer Stimmen die Entfernung eines Ministers aus dem Staatsrathe oder aus seiner Stelle verlangten, soll der König gehalten seyn, sogleich einen andern an dessen Statt zu ernennen.

Da wir wollen, daß der Staatsrath, die Wache der Nationalgesetze, für jede Uebertretung derselben der genauesten Verantwortlichkeit bei der Nation unterworfen seyn soll; so verordnen wir, daß, wenn die Minister von der zur Prüfung ihrer Handlungen niedergesetzten Deputation, wegen Uebertretung der Gesetze, angeklagt werden, sie mit ihrer Person und ihrem Vermögen verantwortlich seyn sollen. Bei allen solchen Klagen sollen die versammelten Stände die angeschuldigten Minister durch die simple Stimmenmehrheit der vereinigten Stuben an die Reichsgerichte abschicken, wo ihnen entweder die gerechte, ihrem Verbrechen angemessene Strafe, oder bei erwiesener Unschuld, die Freisprechung von der Klage und Strafe zu Theil werden soll.

Der ordentlichen Ausübung der vollziehenden Macht wegen, verordnen wir besondere, mit dem Staatsrathe in Verbindung stehende, ihm zu Gehorsam verpflichtete Commissionen. Die Commissarien dazu werden vom Reichstage erwählt werden, und ihre Aemter die mim Gesetze vorgeschriebene Zeit hindurch verwalten. Diese Commissionen sind: 1) Die Erziehungs-, 2) die Polizei-, 3) die Kriegs-, 4) die Schatzcommission.

Die auf diesem Reichstage niedergesetzten woywodschaftlichen Ordnungscommissionen stehen gleichfalls unter der Aufsicht des Staatsraths, und werden die Befehle desselben mittelbar, durch die oben erwähnten Commissionen erhalten, respective auf die der Macht und den Pflichten eines jeden zukommenden Gegenstände.

[…]

11. Bewaffnete Macht der Nation

Die Nation ist es sich selbst schuldig, sich gegen Ueberfälle zu vertheidigen, und ihre Unverletztheit zu bewahren; folglich sind alle Bürger Vertheidiger der Unverletztheit und Freiheit der Nation. Die Armee ist nichts anderes, als eine aus der Gesammtmacht der Nation gezogene, bewaffnete und geordnete Macht. Die Nation ist ihrer Armee dafür, daß sie sich einzig und allein ihrer Vertheidigung weihet, Belohnung und Achtung schuldig. Die Armee ist der Nation schuldig, über die Grenzen und die allgemeine Ruhe zu wachen, kurz, für sie die mächtigste Schutzwehr zu seyn. Damit sie nun diese ihre Bestimmung wirklich erfülle; so hat sie die Pflicht auf sich, den Vorschriften des Gesetzes gemäß, ununterbrochen unter dem Gehorsam der vollziehenden Gewalt zu bleiben, und auf treue Ergebenheit gegen die Nation und den König, und auf die Vertheidigung der Nationalverfassung zu schwören. Die Nationalarmee kann folglich gebraucht werden: zur allgemeinen Landesvertheidigung, zur Bewahrung der Festungen und Grenzen, oder auch zur Unterstützung des Gesetzes, wenn Jemand der Vollziehung desselben nicht gehorsamen wollte.


[1] Auszüge der Verfassung vom 3. Mai 1791 aus: Gosewinkel, Dieter; Masing, Johannes (Hgg.), Die Verfassungen in Europa 1789–1949. Wissenschaftliche Textedition unter Einschluß sämtlicher Änderungen und Ergänzungen sowie mit Dokumenten aus der englischen und amerikanischen Verfassungsgeschichte, München 2006, S. 377–384.


Zugehöriger Essay:
Für das Themenportal verfasst von

Jörg Ganzenmüller

( 2012 )
Zitation
Jörg Ganzenmüller, Vom Ständestaat zur konstitutionellen Monarchie: Der Ort der polnischen Maiverfassung von 1791 in der europäischen Geschichte, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2012, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1572>.
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