Griechisch-orthodoxe antiwestliche und antieuropäische Kritik um die Wende zum 19. Jahrhundert

Die Auszüge, die hier als Quelle verwendet werden, stammen aus einer kleinen Schrift, die in griechischer Sprache in Triest 1802 unter einem Pseudonym veröffentlicht wurde. Der preußische Diplomat Jakob Ludwig Salomon Bartholdy (1779–1825) – aus der bekannten deutschen Familie – suchte diese während seiner Griechenlandreise (1803–1804) aus und übersetzte sie aus dem Griechischen ins Deutsche. Angeblich war ihr Verfasser ein Mönch namens Nathanael von Neokaisareia, der zu jener Zeit auf dem Heiligen Berg Athos als Hesychast in Zurückgezogenheit lebte – so die Titelseite. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde sie aber vom Hieromönch Athanasios Parios (1721–1813), das heißt von der ägäischen Insel Paros stammend, verfasst, der zu jener Zeit der osmanischen Herrschaft vielleicht der eifrigste Gegner der Einführung von Aufklärungsideen im griechischen Raum war. [...]

Griechisch-orthodoxe antiwestliche und antieuropäische Kritik um die Wende zum 19. Jahrhundert [1]

Von Vasilios N. Makrides

Die Auszüge, die hier als Quelle verwendet werden, stammen aus einer kleinen Schrift, die in griechischer Sprache in Triest 1802 unter einem Pseudonym veröffentlicht wurde. Der preußische Diplomat Jakob Ludwig Salomon Bartholdy (1779–1825) – aus der bekannten deutschen Familie – suchte diese während seiner Griechenlandreise (1803–1804) aus und übersetzte sie aus dem Griechischen ins Deutsche. Angeblich war ihr Verfasser ein Mönch namens Nathanael von Neokaisareia, der zu jener Zeit auf dem Heiligen Berg Athos als Hesychast in Zurückgezogenheit lebte – so die Titelseite. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde sie aber vom Hieromönch Athanasios Parios (1721–1813), das heißt von der ägäischen Insel Paros stammend, verfasst, der zu jener Zeit der osmanischen Herrschaft vielleicht der eifrigste Gegner der Einführung von Aufklärungsideen im griechischen Raum war.[2] Aufgrund seines Engagements war Parios in etliche Debatten und Konflikte mit verschiedenen ideologischen Gegnern verwickelt, wie zum Beispiel mit dem Arzt und Philologen Adamantios Korais (1748–1833). Letzterer verbrachte den größten Teil seines Lebens in Paris, ohne jedoch den Kontakt zu seinen Landsleuten und der griechischen Diaspora abzubrechen, und bemühte sich systematisch um die „Aufklärung“, die Regeneration und die Befreiung der griechischen Nation, sowohl von der osmanischen Herrschaft als auch von der intellektuellen Stagnation. An diesen Debatten und Konflikten beteiligte sich auch die Orthodoxe Kirche, vorwiegend repräsentiert durch das Patriarchat von Konstantinopel, deren Amtsträger mehrheitlich auf der Seite der Gegner der Aufklärung standen. An der Wende zum 19. Jahrhundert wurden diese Spannungen, in deren Kontext es zur Veröffentlichung der genannten Schrift kam, noch stärker und virulenter.

Wir kennen nicht alle Umstände, die zu dieser Schrift geführt haben, wie etwa, warum ihr Verfasser dieses besondere Pseudonym gewählt hatte und worauf er damit konkret abzielte. Überdies war es zu jener Zeit üblich, solche polemischen Schriften unter einem Pseudonym zu veröffentlichen. Der vermutliche Verfasser dieser Schrift, Athanasios Parios, hatte auch weitere seiner Werke entweder unter dem Schutz eines Pseudonyms oder einfach anonym veröffentlicht. Der konkrete Bezug auf den mönchischen Status des Verfassers dieser Schrift, insbesondere auf den Berg Athos, war offensichtlich als Mittel gedacht, seine Argumente mit der Aura eines in der orthodoxen Welt viel beachteten Ortes zu versehen. Eine völlig Gott und dem asketischen Leben gewidmete Person wie ein athonitischer Mönch konnte einfach nicht irren! Charakteristisch ist zudem der komplette Titel dieser Schrift, der im griechischen Original folgendermaßen lautete: ??t?f???s?? p??? t?? pa??????? ?????, t?? ?p? t?? ????p?? ????µ???? f???s?f??, de????sa, ?t? µ?ta???, ?a? ????t?? e??a? ? ta?a??sµ?? ?p?? ?????s? t?? ?????? µa?, ?a? d?d?s???sa p??a e??a? ? ??t??, ?a? ??????? f???s?f?a. ???t??? p??set???, ?a? pa?a??es?? ?fe??µ?t?t? p??? t??? ?de?? p?µp??ta? t??? ????? t?? e?? t?? ????p?? ????? p?a?µate?a?, das heißt „Gegenrede auf den unvernünftigen Eifer der aus Europa kommenden Philosophen, die zeigt, wie vergeblich und unsinnig ihre gegen unsere Nation vorgebrachte Klage ist, und die belehrt, welche die wirkliche und wahrhaftige Philosophie ist. Hinzugefügt wurde eine nützliche Ermahnung an diejenigen, die ihre Söhne ohne Furcht zu Handelsgeschäften nach Europa schicken“.

Dem Titel ist zu entnehmen, dass es sich bei dieser Propagandaschrift grundsätzlich um eine Replik auf den angeblich unmäßigen und unbegründeten Eifer der aus „Europa“ kommenden „Philosophen“ handelte. Gemeint waren hier diejenigen unter den damaligen Griechen, die in Westeuropa studiert oder gelebt hatten und die größtenteils von der Aufklärung beeinflusst waren. Vertraut mit den bahnbrechenden westeuropäischen Entwicklungen, plädierten sie für engere Kontakte zwischen Westeuropa und dem griechischen Raum und kritisierten die Rückständigkeit ihrer Heimat. Athanasios Parios beabsichtigte mit seiner Schrift, die angebliche Sinnlosigkeit und die Absurdität der von solchen „Philosophen“ gegen die orthodoxen Griechen vorgebrachten Vorwürfe und Klagen vor Augen zu führen. Darüber hinaus wollte er den Lesern die wahrhaftige „Philosophie“ demonstrieren, nämlich die orthodox-christliche, und nicht die unter dem Einfluss der Aufklärung stehende westeuropäische. Der Begriff „Philosophie“ erhielt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung, die hauptsächlich von der orthodox-christlichen Tradition geprägt war. Schließlich ermahnte er die orthodoxen Griechen, die ohne Bedenken und aus Unwissenheit ihre Kinder nach Westeuropa des Handels wegen schickten, dies zu überdenken und sich zurückzuhalten. Durch solche Reisen ermöglichten die betreffenden Eltern den unmittelbaren Kontakt der griechisch-orthodoxen Jugend mit einer scheinbar verderblichen und gefährlichen Welt.

Die ganze Debatte wies also einen deutlichen innergriechischen Charakter auf. Es ging letztlich um die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Befürwortern und den Gegnern der westeuropäischen Aufklärung in Bezug auf die Gestaltung der Zukunft Griechenlands. Als diese eskalierten, sah sich das Patriarchat von Konstantinopel zu wiederholten Interventionen gezwungen, um die Ausbreitung aufklärerischer Ideen im griechisch-orthodoxen Raum mit verschiedenen Mitteln wie Enzykliken, Zensur, Verbannungen und Verurteilungen zu behindern. Das Zielpublikum dieser Schrift war aller Wahrscheinlichkeit nach die damalige in Westeuropa lebende griechische Diaspora, die dem unmittelbaren Einfluss der Aufklärung ausgesetzt war. Zu jener Zeit gab es eine beträchtliche Zahl von Händlerfamilien in verschiedenen westeuropäischen Städten wie Wien, Triest, Budapest und Leipzig, deren Interessen zum Teil über wirtschaftliche Aktivitäten hinausgingen. Mitglieder dieser Familien fertigten beispielsweise Übersetzungen moderner westeuropäischer Werke ins Griechische an oder schickten ihre Kinder an westeuropäische Universitäten. Es ist daher kein Zufall, dass diese Schrift im habsburgischen Triest veröffentlicht wurde. In dieser Stadt gab es eine aktive, einflussreiche griechische wirtschaftliche und intellektuelle Gemeinde. Triest galt zudem als Tor für die Weiterreise in andere Städte der Habsburger Monarchie wie Wien und Budapest, wo ebenfalls zahlreiche Griechen lebten. An dieses griechische Publikum in der Diaspora war Athanasios Parios’ Schrift höchstwahrscheinlich gerichtet. Sie sollte den Landsleuten ins Gewissen reden und die bevorstehende, drohende Gefahr aus Westeuropa verdeutlichen.

Es ist durchaus möglich, dass diese Schrift auch im griechischen Raum unter osmanischer Herrschaft Verbreitung fand. Bartholdy, ein aufmerksamer Beobachter der damaligen Situation im griechischen Raum, wurde daher über den Inhalt dieser Schrift informiert und war offensichtlich beeindruckt von ihrem stark antiwestlichen Tenor. Deswegen übersetzte er einige Teile davon in seinem Reisebericht. Er äußerte sich insgesamt ziemlich kritisch in Bezug auf den intellektuellen Zustand der damaligen Griechen, der seiner Meinung nach von demjenigen ihrer berühmten Vorfahren in der Antike Lichtjahre entfernt war. Einige Jahre zuvor hatte nämlich der erwähnte Philologe Korais in Paris einen Vortrag mit dem Titel Mémoire sur l’état actuel de la civilisation dans la Grèce (Paris 1803) an der französischen Gelehrtengesellschaft Société des observateurs de l’homme gehalten, in dem er die intellektuelle Regeneration seiner unter fremder Herrschaft befindlichen Nation gepriesen hatte. Für Bartholdy dagegen, der sich seit 1801 ebenfalls mehrere Jahre in Paris aufgehalten hatte, war dies aber die bloße Beschönigung einer in der Tat desolaten Situation. Daher verwies er berechtigterweise auf die obige Schrift von Athanasios Parios. Bartholdys kritische Darstellung der intellektuellen Lage Griechenlands war später der Grund dafür, dass er den Zorn vieler zeitgenössischer Griechen auf sich zog, insbesondere derjenigen, die mit der westeuropäischen Aufklärung vertraut waren, wie etwa Adamantios Korais, Konstantinos Koumas (1771–1836) und Panajotis Kodrikas (1762–1827). Nicht nur in ihren Repliken, sondern auch generell wurde der Name „Bartholdy“ zum Inbegriff eines modernen „Griechenhassers“; dies umso mehr, als diese Griechen Schriften wie die des Athanasios Parios verheimlichten, um den Westeuropäern ein möglichst makelloses Bild ihrer Landsleute und ihrer Nation zu präsentieren.

An dieser Stelle geht es aber nicht darum, der einen oder anderen Seite Recht zu geben. Die Schrift von Athanasios Parios wies in der Tat einen ausgeprägten antiwestlichen Charakter auf. Der europäische Westen stellte aus der Sicht ihres Verfassers eine große Gefahr für das orthodoxe Griechenland dar und es galt, seinem zunehmenden Einfluss in Form aufklärerischer Ideen unbedingt Einhalt zu gebieten. Unter den westlichen Ideen verstand der Autor eine Vielfalt neuer Gedanken, Vorschläge und Entwicklungen, insbesondere revolutionärer Provenienz, die in Frankreich bereits zu dramatischen soziopolitischen Umwälzungen geführt hatten. Besonders die Französische Revolution hatte Athanasios Parios und seine Glaubensgenossen ebenso wie das Patriarchat von Konstantinopel und die osmanische Hohe Pforte alarmiert und zu Abwehrmaßnahmen veranlasst.[3] Aus orthodoxer Sicht gab es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen aufklärerischen Ideen, dem Umsturz der politischen Ordnung und dem Aufstieg des Antiklerikalismus und Atheismus in Frankreich. Politische Freiheit und Demokratisierung brachten in dieser Sicht die Gefahr der Vernachlässigung oder gar Verachtung der Gebote Gottes mit sich. Der Säkularisierungsprozess in Westeuropa, exemplifiziert an Frankreich, war für Athanasios Parios ein verabscheuungswürdiges Modell, welches das orthodoxe Griechenland auf keinen Fall nachahmen sollte. Aus diesem Unbehagen rührten auch sein Ärgernis sowie sein Erstaunen darüber, dass manche Griechen Westeuropa damals bewunderten und es sogar als nachahmungswürdiges Beispiel erachteten.

Bereits vor 1802 und auch danach betrieb Athanasios Parios seine gegenaufklärerische Kampagne. Abgesehen von seinen zahlreichen Schriften verfasste er unaufhörlich Briefe an seine Glaubensgenossen und bemühte sich, diese zu mobilisieren, um eine effektive geistige Abwehr gegen die Einflüsse Westeuropas zu bilden. Und er stand mit einer solchen Verteidigungsstrategie keineswegs allein da. Vielmehr existierte ein weites Netzwerk antiwestlich gesinnter Orthodoxer, die regelmäßig miteinander korrespondierten und ihre Aktionen sorgfältig planten. Ohne Zweifel gab es in Westeuropa zu jener Zeit ebenfalls Gegner der Aufklärung, wie zum Beispiel katholische Theologen und Priester, die Voltaire und seine religiösen Ansichten kritisierten. Dies war manchen griechisch-orthodoxen Gelehrten, die sich dem Gedankengut der Aufklärung selektiv bedienten, bekannt, zum Beispiel Nikephoros Theotokis (1731–1800), der ein französisches Werk gegen Voltaire ins Griechische übertrug und mit zusätzlichen Kommentaren anonym 1794 publizierte. Jedoch war dies weniger der Fall bei Athanasios Parios, für den die westeuropäische gegenaufklärerische Literatur nicht ausschlaggebend war und der hauptsächlich andere Motive für seine Kritik hatte.

So fügt sich seine Schrift unmittelbar in die lange Tradition orthodoxer antiwestlicher Polemik ein, die in unterschiedlichen Ausprägungen bereits seit byzantinischer Zeit existierte und die noch bis heute fortwirkt.[4] Wirft man zunächst einen kursorischen Blick auf die Vorgeschichte der Beziehungen zwischen Ost und West in Europa, dann bemerkt man unweigerlich die stufenweise Entfremdung der beiden Welten auf mehreren Ebenen: religiös, politisch, kulturell. Diese Auseinanderentwicklung stellte ein tiefgreifendes Ereignis dar, die nach 1054, dem sogenannten „Großen Schisma“ zwischen den Kirchen in Ost und West, und insbesondere nach 1204, der Eroberung und Plünderung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer, unheilbare Wunden im orthodoxen Osten hinterließ. Da die Geschichte normalerweise ein Instrumentarium kollektiver Erinnerung und gegenwärtiger Handlungsoptionen ist, gilt dies insbesondere für den Fall des orthodoxen Antiokzidentalismus, der über die Jahrhunderte weiterlebt, auch in neuen Formen und Allianzen. Die kontinuierlich vertiefte Trennlinie zwischen Ost und West wurde im Laufe der Zeit metaphysisch überhöht. Diese Unterscheidung konnte so bisweilen den Rang eines ontologischen Dualismus gewinnen, in dem der „Westen“ die Stelle des Teufels und des verdammten Ortes der Häretiker einnahm, weil die Menschen im Westen – so die orthodoxe Perspektive – den rechten Glauben (wörtlich: die Orthodoxie) nicht bewahrten. Das der Häresie verfallene Westeuropa galt aus dieser Perspektive kollektiv und unterschiedslos als größte Gefahr für den orthodoxen Osten, und nicht nur in religiöser Hinsicht. Alle Produkte aus Westeuropa wurden a priori als verdächtig und verwerflich erachtet. Die langfristigen Konsequenzen dieser Perspektive waren verheerend. Es ging nicht primär um religiöse „Produkte“, denen man aufgrund der bestehenden Spaltung der Kirchen mit Misstrauen begegnete und die man als Verfehlung erachtete. Vielmehr betraf dies die ganze reiche Palette der nicht-religiösen Errungenschaften Westeuropas, insbesondere nach dem Beginn der Neuzeit. Es ging um die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse in zahlreichen Bereichen, die Kunst, die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen sowie um das gesamte Weltbild. Aus orthodoxer Sicht handelte es sich aber bei diesen Schöpfungen um triviale, irdische und vergängliche Errungenschaften, die für den orthodoxen Osten völlig ungeeignet und unbrauchbar waren. Sie galten als Produkte einer dekadenten Welt, die sich von der Authentizität und der Wahrheit der Orthodoxie entfernt hatte. Die Orthodoxen könnten also problemlos weiterleben, auch ohne dass sie diese westeuropäischen Produkte benötigen oder gar entbehren würden. Ihre eigene christliche Tradition und Kultur hielten sie gegenüber diesen westeuropäischen Errungenschaften weiterhin für überlegen.

Eben diesen Geist personifizierte in idealer Form Athanasios Parios am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, indem er sich intensiv bemühte, seine orthodoxen Landsleute entsprechend zu überzeugen. Er zog dezidiert eine Trennlinie, einen kontrastiven Bezug zu „denen in Westeuropa“, die er ohne Bedenken nicht nur als unterlegen, sondern auch als nutzlos und sogar als brandgefährlich erachtete. Dabei schickte er sich an, die seiner Meinung nach deutlichen Privilegien und Vorteile des Orthodoxen Ostens gegenüber dem Lateinischen Westen zu beweisen und hervorzuheben. Auf diese Weise erhoffte er sich, der großen Anziehungskraft der westeuropäischen Entwicklungen in der Neuzeit und der Moderne entgegenzuwirken. Die neuen Gelehrten aus dem Westen verdienten seiner Ansicht nach den Namen „Philosophen“ überhaupt nicht, denn in Wirklichkeit waren sie „bedauernswerte Freunde der Dunkelheit“.

Die in der Quelle verwendeten Ausschnitte aus seiner Schrift verdeutlichen diverse Aspekte dieser Argumentationsweise. Sehr auffällig ist zuerst, dass Athanasios Parios von „Europa“ spricht, obwohl er eigentlich Westeuropa nach religiösen und kulturräumlichen Kriterien meint. Hier haben wir es mit einem im neuzeitlichen Ost- und Südosteuropa verbreiteten Topos zu tun. Aufgrund der historischen Entfremdung zwischen Ost und West und der großen Differenzen zwischen den beiden in der Neuzeit und Moderne wurde Europa sowohl im alltäglichen Diskurs als auch in offiziellen Wahrnehmungen (einschließlich der orthodoxen) sehr oft mit Westeuropa gleichgesetzt und diente hauptsächlich als Ausschlussbegriff. Der griechische Raum unter osmanischer Herrschaft wurde also religiös, kulturell und politisch nicht Europa zugerechnet, obwohl er sicherlich in geografischer Hinsicht eindeutig ein Teil Europas war und selbst das Wort „Europa“ zusammen mit den entsprechenden geografischen Differenzierungen altgriechischen Ursprungs ist. Eine solche Verwendung des Begriffs „Europa“ finden wir im neugriechischen Staat bis ins 20. Jahrhundert hinein. Daraus werden die neugriechischen Defizite in Bezug auf die Europa-Zugehörigkeit deutlich, ein Phänomen, das langfristig mehrere Konsequenzen mit sich brachte. Zum Beispiel wurde das gesamte Thema üblicherweise ins Spannungsfeld antiwestlicher und prowestlicher Diskurse einbezogen, die das Land über mehrere Generationen spalteten. Die Modernisierung des Landes wurde demgemäß als „Europäisierung“ oder als Verwestlichung konzipiert, ein Programm, das sehr umstritten blieb und das daher nicht in vollem Umfang realisierbar war. Solche antiwestlichen Stimmen waren nicht nur in der griechischen Orthodoxie zu finden, die in diesem Kontextallerdings eine Schlüsselrolle einnahm, sondern auch im nicht-religiösen politischen oder kulturellen Bereich.

Erwähnenswert ist weiterhin, dass Athanasios Parios (West-)Europa ausschließlich mit allem aus christlich-orthodoxer Sicht Schlechten verband, das heißt mit Atheismus, Verderben, Finsternis, Ruchlosigkeit, Gottesfurchtlosigkeit, Unmäßigkeit, Unreinheit, Gleichgültigkeit, Gesetzlosigkeit, Abtrünnigkeit und vielem mehr. Europa nannte er an anderer Stelle „das Chaos des Verderbens“ und „den Abgrund der Hölle“. Der von Parios zitierte Name Voltaires galt im griechischen Raum allgemeinhin als Personifikation der Feinde des Christentums und der Kirche. Aus der Sicht des Verfassers bedeutete nicht nur der Aufenthalt in Westeuropa, sondern jeglicher Kontakt mit dieser verdorbenen Welt die höchste Gefahr überhaupt, und zwar für die Rettung der Seele und deren Aufstieg ins Paradies nach dem Tod. Hier beobachten wir die starke außerweltliche Orientierung des Verfassers, die alles Irdische umfasste, als sein allerwichtigstes Kriterium. Solange eine Sache nicht zur postumen Rettung des Menschen beitragen würde, konnte sie getrost vernachlässigt oder sogar verurteilt werden. Im vorliegenden Fall waren also die Weichen bereits klar erkennbar gestellt. Indem ein orthodoxer Grieche sich mit seiner Familie in Westeuropa niederließ, um seine Kenntnisse zu erweitern oder um durch Handel Geld zu erwerben, setzte er sein Seelenheil aufs Spiel. Dies war aus der Sicht des Athanasios Parios völlig inakzeptabel. Daher plädierte er dafür, dem Wissensdurst, der Abenteuerlust und dem Streben nach Reichtum Grenzen zu setzen.

Im zitierten Quellentext erkennen wir eine weitere wichtige Folge dieser außerweltlichen Orientierung. Athanasios Parios und viele andere seiner Zeitgenossen in Zusammenarbeit mit der Institution Kirche lehnten einen griechischen Aufstand gegen die osmanische Herrschaft grundsätzlich ab. Aufgrund der antiklerikalen, antichristlichen Züge der Französischen Revolution befürchteten sie die konsequente Ausbreitung ähnlicher Ideen und Pläne. In ihren Augen waren politische Freiheit, Liberalität und Unabhängigkeit mit extrem kritischen Haltungen gegenüber dem Christentum im Allgemeinen ursächlich verbunden. Athanasios Parios hatte auch in anderen Schriften die seiner Ansicht nach verheerenden Folgen der Französischen Revolution sehr scharf kritisiert und etwaige Aufstandspläne seiner Landleute verurteilt. An dieser Stelle wird die bestehende Kluft zu den griechischen Trägern der Aufklärung, für die die intellektuelle Wiedergeburt Griechenlands mit ihrer künftigen politischen Freiheit eng zusammenhing, mehr als deutlich. Das Hauptargument des Athanasios Parios und seiner antirevolutionären Zeitgenossen beruhte auf einer orthodoxen Legitimation der Weiterexistenz der osmanischen Herrschaft. Da jede Herrschaft, ob gut oder schlecht, von Gott stamme (vgl. Röm. 13, 1–7), habe sie – so das Argument – eine bestimmte Existenzberechtigung und sei grundsätzlich nach Gottes Vorsehung für bestimmte Zwecke erlaubt. In der Vergangenheit, so zum Beispiel im Römischen Reich, hatten Christen unter viel schwierigeren Bedingungen gelebt, unter Verfolgungen gelitten, und trotzdem hatten sie die damaligen Herrscher akzeptiert und bejaht. Solange eine solche Staatsgewalt den „inneren Menschen“, sprich seine Seele, nicht tangiere, solle man sie grundsätzlich tolerieren. Dasselbe galt auch für das Osmanische Reich, unter dem die Orthodoxen eine gewisse „religiöse Freiheit“ und „Toleranz“ gemäß dem Millet-System genossen und sich ungehindert um die Rettung ihrer Seelen kümmern konnten. Daher sei die osmanische Herrschaft zu akzeptieren ­– im Gegensatz zu den verderblichen westeuropäischen Freiheitsmodellen, die die Orthodoxen in die ewige Verdammnis führen würden.

Hier sind die Konsequenzen der ausschließlich außerweltlichen Orientierung des Athanasios Parios nochmals deutlich zu sehen. Charakteristischerweise war in einer anderen kurzen Schrift mit dem Titel ?at??????das?a??a, Väterliche Belehrung, die in Konstantinopel 1798 erschien und bei deren Abfassung Athanasios Parios eine Rolle gespielt haben soll, die osmanische Herrschaft noch weitergehend und stärker religiös legitimiert worden.[5] Mit dem Aufstieg der Osmanen und der Eroberung von Byzanz habe Gott – so die Argumentation – die Orthodoxen vor einer möglichen Unterwerfung unter den Papst und die Römisch-Katholische Kirche bewahrt, die aufgrund der Unionsverhandlungen im späten Byzanz und insbesondere des Unionskonzils von Ferrara/Florenz 1438/39 durchaus möglich war. Unter den Osmanen bestand aber keine große Gefahr für die Orthodoxie, daher sei ihre Herrschaft als Werkzeug Gottes zu verstehen und zwar um der Aufrechterhaltung des orthodoxen Glaubens willen. In der Tat gab es viele Orthodoxe im späten Byzanz, die einer osmanischen Eroberung den Vorzug vor einer Union mit Rom gaben. Ihnen erschienen der Verlust der politischen Freiheit und die mögliche Unterdrückung durch die osmanische Herrschaft erträglicher als eine Unterwerfung unter den Primat des Papstes durch eine Union mit der Römisch-Katholischen Kirche. Für Athanasios Parios und seine Glaubensgenossen stellten die Osmanen am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in ähnlicher Weise eine weitaus geringere religiös-kulturelle Gefahr dar als die westlichen Kirchen und Staaten. Ein Aufstand gegen die osmanische Herrschaft galt dementsprechend als ein gottloses Unternehmen. Diesen Beispielen lässt sich leicht entnehmen, wie weit zu jener Zeit die antiwestlichen Orientierungen innerhalb der orthodoxen Welt im griechischen Raum gediehen waren.

Ein weiterer interessanter Aspekt in der Argumentation des Athanasios Parios ist seine besondere Konzeptualisierung des Begriffs „Philosophie“, die der damals gängigen diametral entgegengesetzt war. Wahre Philosophie waren nach seinem Verständnis der christliche Glaube und die christliche Weisheit, nicht die moderne menschliche Philosophie Westeuropas, die fälschlicherweise solche Ansprüche erhebe. Es geht hier um einen Gedankenstrang, der in die Zeit der alten Kirche zurückreicht, als gebildete Christen wie Origenes angefangen hatten, das Christentum mit rationalen Argumenten zu untermauern und zu legitimieren, um die heidnische Philosophie diskreditieren zu können. Die Absicht dabei war, die neue Religion als durchaus mit der Vernunft kompatibel darzustellen und sie für die Intellektuellen attraktiver zu gestalten. Athanasios Parios stand in dieser langen Tradition. Er urteilte gemäß seiner exklusiven orthodoxen Kriterien und außerweltlichen Orientierungen. Die wahre Philosophie war für ihn nur im Zusammenhang mit den richtigen Lebensprioritäten und -zielen und auch in Bezug auf das ewige Leben nach dem Tod vorstellbar, daher konnte er sie nur im Bereich des Orthodoxen Christentums, der wahrhaftigen Religion par excellence, verorten. Aus dieser Perspektive erschien ihm die aufklärerische Philosophie aus dem Westen nicht nur als überflüssig und irreführend, sondern auch als bedrohlich. Die neuen Philosophen und Gelehrten, diese „hirnlosen Schwätzer“, wie er einmal schrieb, die dem Säkularismus, dem Libertinismus und dem Atheismus Tür und Tor geöffnet hatten, konnten demgemäß keineswegs als Vorbilder für die orthodoxen Griechen gelten. Und genau an diesem Punkt irrten sich – so Parios – in tragischer Weise diejenigen unter seinen Landsleuten, die für die Verwestlichung Griechenlands eine Lanze brachen. Im Gegensatz dazu betrachtete er das traditionelle intellektuelle Niveau der damaligen griechisch-orthodoxen Kultur als völlig ausreichend und den eigenen Ansprüchen genügend – ein weiterer üblicher Argumentationstopos jener Zeit. Die orthodoxen Griechen sollten sich nach Athanasios Parios eigentlich gar nicht über ihren intellektuellen und allgemeinen Zustand beklagen, denn ihr Land sei keineswegs eine bemitleidenswerte Wüstenlandschaft. Man brauche keine grundsätzliche Veränderung und Innovation durch die Einführung neuen Gedankenguts aus Westeuropa, sondern lediglich die Besinnung auf die wahren Helden des orthodoxen Glaubens, nämlich auf die Koryphäen der griechischen Patristik und die reichhaltige orthodoxe Tradition, die auf den Konzilen festgelegt worden war. Man könne die damaligen Orthodoxen mit Recht tadeln, nur weil sie diesen einmaligen Fundus vernachlässigt und vergessen hätten, was äußerst bedauernswert gewesen sei. Auf der anderen Seite seien die weltlichen Kenntnisse für den wahren Zweck des Christentums, für die Rettung der Seele und die ewige Glückseligkeit nach dem Tod, absolut nutzlos. Athanasios Parios unterstrich daher die Notwendigkeit, die Begierde nach neuen Erkenntnissen aus (West-)Europa unter Kontrolle zu halten und sogar zu zähmen, denn sie sei eine bedeutende Ursache für den möglichen Verlust der Seele.

Interessanterweise waren aber nicht nur die abendländische Philosophie und die Naturwissenschaften jener Zeit die Zielscheibe der scharfen Kritik von Athanasios Parios. Er richtete sich auch gegen die altgriechische Philosophie und Kultur, die er ebenfalls von seiner orthodoxen Warte aus als höchst problematisch erachtete. Nicht zu vergessen ist hier, dass die griechische Antike eine enorme Rolle in der Genese und Ausgestaltung der westeuropäischen Neuzeit und Moderne gespielt hatte. Darüber hinaus war sie für viele Griechen jener Zeit wie Korais ein ständiger Referenzpunkt und für die Regeneration der griechischen Nation von immenser Bedeutung. All dies war wiederum in den Augen von Athanasios Parios völlig undenkbar. Wie könnte man die „dunklen“ und „schändlichen“ altgriechischen Philosophen bewundern, die, trotz ihrer vielen Errungenschaften, dem Heidentum anheimgefallen waren und den wahren Gott nie entdecken und wahrnehmen konnten? Abgesehen vom trügerischen Polytheismus galt auch die altgriechische Lebensweise (zum Beispiel wegen der herrschenden Sexualmoral) in seinen Augen als völlig verdorben und verwerflich, das heißt für einen orthodoxen Christen als absolut ungeeignet. Auf dieser Grundlage attackierte Athanasios Parios mit scharfen Argumenten die gesamte altgriechische Kultur. Sie könne nur im Kontext ihrer Christianisierung, unter bestimmten Bedingungen und sehr selektiv bei orthodoxen Christen Gebrauch finden. Im Hintergrund seiner Argumentation stand der jahrhundertelange Kampf bzw. die Spannung zwischen Hellenismus und Christentum, die viele Facetten aufwiesen und selbst nach dem „Sieg“ und der offiziellen Etablierung des Christentums nie endgültig beigelegt werden konnten. Athanasios Parios stand in der Tradition jener Christen, die sich gegenüber der griechischen Antike immer extrem negativ geäußert hatten. Diese Tradition lässt sich bis zum Apostel Paulus und zu den christlichen Apologeten des 2. Jahrhunderts zurückverfolgen.

Mit solchen und ähnlichen Argumenten bemühte sich Athanasios Parios um die Verbreitung seiner Ideale und die Bekämpfung der westeuropäischen aufklärerischen Gefahr. Die Realität enttäuschte ihn jedoch zutiefst. Die griechischen Träger der neuen Ideen, obwohl zunächst in der Minderheit, gewannen ständig an Boden. Die Anziehungskraft der westeuropäischen Errungenschaften ließ sich nicht einfach neutralisieren, und dies trotz der religiösen und anders bedingten Entfremdung zwischen Ost und West. Viele soziale Gruppen wie Kaufleute, Studenten, Intellektuelle oder Politiker schlossen sich, zurückhaltend bis enthusiastisch, den neuen Ideen an und verlangten die Verwestlichung bzw. Europäisierung des modernen Griechenlands, geleitet auch von einem Inferioritätsgefühl gegenüber Westeuropa und einem entsprechenden Nachholbedarf. Dies lässt sich insbesondere nach der Gründung des neugriechischen Staates 1830 beobachten. Jedoch bedeutete dieser Prozess einen beträchtlichen Bruch im kollektiven griechischen Bewusstsein. Die Spannung zwischen pro- und antiwestlichen Strömungen blieb erhalten und war sehr schwer zu überbrücken. Neben der Konstruktion einer dualen Alternative zweier gegensätzlicher Größen „Ost“ und „West“ gab es immer wieder auch eine „kulturelle Schizophrenie“ mit steter Oszillation zwischen den beiden Polen – wenn etwa die innovative westeuropäische Technik bejaht, der Einfluss bestimmter geistiger „Exportprodukte“ des Westens aber abgelehnt wurde.

Der Geist von Athanasios Parios blieb insofern in vielen orthodoxen Kreisen erhalten und seine virulente antiwestliche Kritik geriet nie in Vergessenheit. Die angeführte antiwestliche Schrift wurde auch später nachgedruckt (zum Beispiel in Ermoupolis 1866), was von der bleibenden Bedeutung seiner Argumentation zeugt. Es ist kein Zufall, dass die Orthodoxe Kirche Griechenlands 1995 Athanasios Parios offiziell heiligsprach. Man berief sich immer wieder auf seine antiwestlichen Ideen, wenn es galt, Westeuropa bzw. den Westen zu kritisieren; zum Beispiel, nachdem Griechenland 1981 offiziell ein Mitgliedsstaat der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wurde. Die Allianz des Antiokzidentalismus mit dem Antieuropäismus ist in diesem Kontext ziemlich auffällig. Der Begriff „Europa“ fungiert noch bis heute für viele Griechen weit weniger als Einschließungsbegriff (für ein geografisch definiertes Europa), sondern vielmehr als Ausschließungsbegriff (politisch, religiös und kulturell), als Synonym für Westeuropa. Wegen der führenden Rolle westlicher Länder bei der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Einigung Europas sind „Europäer“ politisch, kulturell und religiös vorrangig „die anderen“. Man ist zwar Mitglied in dieser transnationalen Organisation, doch fühlt man sich irgendwie unzufrieden mit der ganzen Situation und tut sein diesbezügliches Unbehagen oftmals kund. Interessanterweise lässt sich ein Ineinandergreifen einer antiokzidentalen und antieuropäischen Mentalität mit anderen (politischen, sozialen, kulturellen) Faktoren genau wie jene funktionale Komplexität beobachten, die darin besteht, dass Antiokzidentalismus und Antieuropäismus selbst viele verschiedene psychologische, soziale und politische Funktionen erfüllen können. Insofern kann es unter diversen Umständen zu einer soziopolitischen Instrumentalisierung des orthodoxen Antiokzidentalismus und Antieuropäismus kommen, wie zum Beispiel während der ersten sozialistischen Regierung Griechenlands in den 1980er-Jahren oder im Kontext der tiefen Wirtschaftskrise nach 2009. Der orthodoxe Antiokzidentalismus im Osten und Südosten Europas besitzt also ein beträchtliches Transformations- und Transpositionspotential und beschränkt sich nicht allein auf die orthodoxe Tradition und Kultur.

Jedoch ist all dies nur die eine Seite der Medaille. Der verbreitete Antiokzidentalismus in seinen vielen Formen, Verschränkungen und Allianzen (unter anderem mit dem Islam) ist zwar nicht zu leugnen, jedoch überwiegen in den meisten Fällen heute in Griechenland pragmatische Entscheidungen und Politiken, auch seitens der offiziellen Kirchenhierarchie. Man kann also schwer behaupten, dass die virulente antiwestliche Kritik vom Typ eines Athanasios Parios heutzutage den Ton angibt. Sie ist zwar in diversen Formen weiterhin zu beobachten, jedoch bildet sie keineswegs den Mainstream und ist oftmals nur rhetorisch relevant. Die offizielle Kirche bemüht sich um gute Beziehungen zur Europäischen Union. So unterhält sie übrigens seit 1998 eine eigene ständige Vertretung in Brüssel. Das bedeutet wiederum nicht das komplette Verschwinden oder das Ausschalten von kritischen antiwestlichen Stimmen. Vielmehr oszillieren diese zwischen verschiedenen Polen, je nach Bedarf und Situation, und zwar jenseits der engen religiösen Sphäre. Nicht zu vergessen ist allerdings, dass es hier nicht um eine ausschließlich griechische Erscheinung geht, sondern um ein Phänomen, das auch in anderen vorwiegend orthodoxen Kulturen zu beobachten ist. Man denke etwa, um zwei Beispiele aus dem 19. Jahrhundert zu nennen, an die russische Westler-Slavophilen-Debatte oder die antiwestliche Kritik von F. M. Dostoevskij. Darüber hinaus ist der Antiokzidentalismus aus verschiedenen Gründen heute ein weltweites Phänomen, das sich sowohl in Japan als auch in Südamerika beobachten lässt. In unserem Kontext ging es aber primär um die orthodox-christlichen Aspekte dieses Phänomens und der Text von Athanasios Parios aus einer früheren Epoche veranschaulicht diese in eindrucksvoller Weise. Trotzdem besitzt er immer noch eine gewisse Aktualität. Er hilft uns, die Gründe für die Probleme nachzuvollziehen, die Griechenland noch heute, trotz aller Fortschritte und Anstrengungen, innerhalb der Europäischen Union hat.



[1] Essay zur Quelle: Auszüge aus „Bruchstücke zur nähern Kenntniß des heutigen Griechenlands“ von J. L. S. Bartholdy (1805).

[2] Ausführlicher dazu Makrides, Vasilios N., Die religiöse Kritik am kopernikanischen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821. Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte, Frankfurt am Main 1995, insbes. S. 147–185; Zelepos, Ioannis, Orthodoxe Eiferer im osmanischen Südosteuropa. Die Kollyvadenbewegung (1750–1820) und ihr Beitrag zu den Auseinandersetzungen um Tradition, Aufklärung und Identität, Wiesbaden 2012, insbes. S. 223–232.

[3] Belege hierzu bei Apostolopoulos, Dimitris G., La Révolution Française et ses répercussions dans la société grecque sous domination ottomane. Réactions en 1798, Athènes 1997.

[4] Mehr dazu in Makrides, Vasilios N.; Uffelmann, Dirk, Studying Eastern Orthodox Anti-Westernism: The Need for a Comparative Research Agenda, in: Sutton, Jonathan; van den Bercken, Wil (Hgg.), Orthodox Christianity and Contemporary Europe, Leuven 2003, S. 87–120.

[5] Dazu Heinz Ohme, `Gottes Zügel für das Abendland´ – `Gottes Gesandter zu unserer Rettung´: Das Osmanische Reich in der Sicht des Ökumenischen Patriarchates im Kampf gegen Aufklärung und Freiheitspropaganda am Vorabend der griechischen Revolution, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 122 (2011), S. 82­–99.



Literaturhinweise

  • Buruma, Ian; Margalit, Avishai, Occidentalism: A Short History of Anti-Westernism, London 2004.
  • Clogg, Richard, The Dhidhaskalia Patriki (1798): An Orthodox Reaction to French Revolutionary Propaganda, in: Middle Eastern Studies 5 (1969), S. 87–115.
  • Demacopoulos, George E.; Papanikolaou, Aristotle (Hgg.), Orthodox Constructions of the West, New York 2013.
  • Makrides, Vasilios N., Greek Orthodox Compensatory Strategies Towards Anglicans and the West at the Beginning of the Eighteenth Century“, in: Doll, Peter M. (Hg.), Anglicanism and Orthodoxy 300 Years after the ‘Greek College’ in Oxford, Oxford 2006, S. 249–287.
  • Makrides, Vasilios N., Orthodox Anti-Westernism Today: A Hindrance to European Integration?, in: International Journal for the Study of the Christian Church 9 (2009), S. 209?224.

Auszüge aus „Bruchstücke zur nähern Kenntniß des heutigen Griechenlands“ von J. L. S. Bartholdy (1805)[1]

Aber, guter Mann, […] hast du als Christ denn nie gehört oder gelernt, dass die Kinder vom Herrscher aller Dinge dir anvertraute Pfänder sind, und so behandelst du, so wirfst du sie weg? Du reißest sie in den Unglauben, statt nach ihrer Besserung zu trachten, und sie zu erziehen […] Man befiehlt dir […] aus deinen Kindern gottesfürchtige, andächtige Christen zu machen […]; du aber verfügst wegen eitler Güter das Gegentheil, und schickst ihre vernünftigen Seelen, den kostbaren Schatz ihres sonntäglichen Blutes, die Wege des Verderbens […] Du ziehst den Sohn aus der Schatzkammer der Kirche, und sendest ihn, wohin? In Dunkelheit und Verderben, wo keine Bescheidenheit gefunden wird, Gottesfurcht nie erscheint, Andacht sich nirgends zeigt. Man hört die Vernunft zur Rettung der Seele nicht. Aber was Bescheidenheit? Nein, Ruchlosigkeit, Unreinheit und stinkende Unmäßigkeit. Was Andacht und Gottesfurcht, wo nackt der Atheismus sein Haupt erhebt, und das Christentum zur Fabel wird? Wo man das Evangelium verlacht und verspottet? [...]Und dies thust du deinem Sohne, deinen Eingeweiden, deinem kostbarsten Gute, den du in Hast und mit leichtem Herzen in den Strom der Seelenverderbniß jagst. O, falsche Welt! Welt des Betrugs! eitle Welt! Wie stark ist die verfinsternde Kraft, die der Menschen Geist trübt und beherrscht, so daß man nichts berechnet, als Geld und wieder Geld. Nur viel Geld, nicht die Seele, nicht das Paradies, nicht die ewigen Strafen […]

Es haben aber Völlerei und Geiz, wie es scheint, nur Bauch und keine Ohren. Möge doch euch Christus in der Folge erleuchten, meine Brüder, damit ihr mit Urtheil und Einsicht den Ermahnungen der Apostel Folge leistet, und ablasset, eure Kinder hinzusenden, wo eingestandenerweise die Gleichgültigkeit gegen alles Göttliche, der Seelenmord, der Atheismus triumphiren, wo sie sich unter den Gesetzlosen, Unerleuchteten und Finstern, unter dem Belial oder von Gott Abtrünnigen herumtreiben. Hütet euch, dass ihr nicht ihres Blutes und ihrer Seele schuldig werdet. Fliehet Europa, so sehr ihr vermöget! Eben so fliehet, die euch von Europa kommen. Ihr Herz ist eitel, und Wahrheit nicht bei ihnen; sollten auch die Worte ihres Mundes süßer rinnen, als Honig […]

Als ob der Helfer, Erlöser, Retter, Herrscher u.s.w. ihnen tausend und beständige Uebel zugefügt hätte, waffnen sie ihre Zungen gegen ihn, ihre undankbaren Bollwerke, ihre boshaften Schliche, ihre satanischen Meinungen, ohne irgend Furcht oder Verstand; diese atheistischen Sectirer des atheistischen Voltaire. Aus ihren unreinen Mäulern speien sie gottlose Blasphemien gegen Gottes Größe […]Was haben aber jene Tollkühnen und wahrhaft Unsinnigen für eine Veranlassung, jene voltairische Blasphemien gegen den Gipfel göttlicher Hoheit auszuspeien; jetzt, da Millionen Zungen von den vier Enden der Welt den wahren Gott bekannt und durch Seen ihres Bluts verkündet haben […]

Deswegen wiederhole ich, gebet den giftigen und todtbringenden Mäulern jener Antichristen nicht Gehör. Denket nur einmal, Christus hat uns selbst das Beispiel eines guten Betragens gegeben, indem der König der Juden als Knecht sich gefesselt den Händen des Kaisers überliefern ließ. Jene aber lehren die Menschen gerade das Gegentheil. Abfall und Befreiung von ihren Herrschern. Christus befiehlt: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist.“ Jene waffnen durch Bücher und Worte die Hände der Unterthanen, dass sie ihre Kaiser ermorden. Sind das Christen? Nein offenbare Antichristen. Denn sonst würden sie es nicht wagen, sich gegen den Herrn, die Apostel und Lehrer aufzulehnen, mit Worten und Büchern Aufruhr und Gewaltthätigkeiten gegen die Herrscher verbreitend, damit die Menschen auf der Erde wenige Tage in Freiheit leben mögen. Aber antworten jene sanfte Philosophen, es leidet das edle Geschlecht der Griechen viel unter dem barbarischen Joche der Knechtschaft! Welch ein Vergleich aber zwischen diesen Leiden und denen, die die Christen vor Zeiten erduldeten. Jetzt leben die Unterthanen mit gutem Vermögen, mit Landgütern und Weinbergen. Sie ruhen in ihren Häusern, einige in kleinen und demüthigen, andere in großen, glänzenden. Sie handeln in den Städten mit aller möglichen Freiheit, und vor allem haben sie ihre alten Tempel und Kirchen offen, und stärken sich mit voller Erlaubniß im christlichen Glauben. Man stelle nun dies einmal mit dem Zustande der frühern Christen, mit den Qualen und Lasten jener Gebenedeyeten, drei hundert Jahre nach Christi Geburt zusammen, wo sie unter großer Tyrannei schmachteten. Gräßlich waren diese Verfolgungen, denn Könige und Kaiser schrieben beständig Befehle, dass man den Christen so viel Böses als möglich anthäte […] Aber zeigten nicht desto weniger wohl damals Priester oder Layen solchen falschen Eifer, die Christen zum Abfalle gegen ihre Gebieter zu reizen? Nichts der Art geschah. Niemand verfiel auf solchen Unsinn, und man glaube nicht etwa aus Schwäche, oder dass sie keinen Helenismos (Eifer für Griechenland) hätten; nein, sie duldeten aus Liebe zu Christus und dem Evangelium, denn dies wurde klar, als hernach verschiedene ketzerische Könige, Arianer u.s.w. mehrere Jahre herrschten, und gegen die Rechtgläubigen die alte Bedrückung erneuerten, jene aber trotz der Ueberlegenheit der Zahl duldeten, und Priester und Lehrer zur Geduld sie aufmunterten und ermahnten […]Dem wahren Christen gilt es gleich, ob er in dieser Welt Kummer oder Elend habe. Und wirklich, was litten jene Gebeugte und Betrübte unter den atheistischen Hellenen. Dann aber nur glänzen und bewähren sich wahres Christenthum und wahre Tugend, dann öffnet sich das Paradies, das Ziel aller Leiden, und füllt sich mit Heiligen. Nicht mit dem Buche des Aufruhrs in der Linken und dem Messer in der Rechten; nicht jene widrigen Klagen; nicht das antichristische Eifern. Flieht, meine Brüder, diese Verkehrten und die falschen Philosophen, auf dass ihr immer wahre Christen bleibet, denn in Jesus Christus ist der Glanz und die Stärke, so wie im Vater und im heiligen Geiste. Amen.


[1] Aus Bartholdy, J. L. S., Bruchstücke zur nähern Kenntniß des heutigen Griechenlands gesammelt auf einer Reise […] im Jahre 1803–1804, Erster Theil, Berlin: In der Realschulbuchhandlung, 1805, S. 328–335; Hervorhebung im Original, dessen Orthografie beibehalten wird.


Für das Themenportal verfasst von

Vasilios N. Makrides

( 2013 )
Zitation
Vasilios N. Makrides, Griechisch-orthodoxe antiwestliche und antieuropäische Kritik um die Wende zum 19. Jahrhundert, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2013, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1611>.
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