Rote Lippen soll man küssen Deutungen europäischer Schönheitspraktiken um 1960

Eine der vielen Analysen des Konsumverhaltens, wie sie der kombinierte Aufstieg von Massenkonsum und empirischer Sozialforschung in den 1960er-Jahren hervorbrachte, widmete sich unter anderem dem Gebrauch von Schönheitsmitteln im europäischen Vergleich. Wie so häufig wurde auch diese Konsumstudie von einer Zeitschrift in Auftrag gegeben, um gezielter Werbeanzeigen akquirieren zu können. Da es hier um das Kerngeschäft der Kunden ging, war Verlässlichkeit wichtig, sodass derartige Studien, durchgeführt von etablierten Meinungsforschungsinstituten, in der Regel keine Reliabilitätsprobleme aufwiesen. Wie die großen Untersuchungen etwa im Auftrag des Spiegel oder der BRAVO erfassten sie zumeist das Konsumverhalten im nationalen Maßstab, da nahezu alle Publikumszeitschriften an den Grenzen ihrer Länder endeten. [...]

Rote Lippen soll man küssen. Deutungen europäischer Schönheitspraktiken um 1960[1]

Von Detlef Siegfried

Eine der vielen Analysen des Konsumverhaltens, wie sie der kombinierte Aufstieg von Massenkonsum und empirischer Sozialforschung in den 1960er-Jahren hervorbrachte, widmete sich unter anderem dem Gebrauch von Schönheitsmitteln im europäischen Vergleich. Wie so häufig wurde auch diese Konsumstudie von einer Zeitschrift in Auftrag gegeben, um gezielter Werbeanzeigen akquirieren zu können. Da es hier um das Kerngeschäft der Kunden ging, war Verlässlichkeit wichtig, sodass derartige Studien, durchgeführt von etablierten Meinungsforschungsinstituten, in der Regel keine Reliabilitätsprobleme aufwiesen. Wie die großen Untersuchungen etwa im Auftrag des Spiegel oder der BRAVO erfassten sie zumeist das Konsumverhalten im nationalen Maßstab, da nahezu alle Publikumszeitschriften an den Grenzen ihrer Länder endeten.[2] In diesem Falle allerdings war sie von einem der wenigen internationalen Massenblätter in Auftrag gegeben worden, der Zeitschrift Reader’s Digest, die seit 1922 zunächst in den USA, seit 1938 in Europa (in Großbritannien, ab 1946 in Dänemark, ab 1948 unter dem Titel Das Beste aus Reader’s Digest in der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz, ab 1952 in Österreich) und darüber hinaus verlegt wurde. Anfang der 1960er-Jahre, als die Untersuchung erschien, gab es 40 nationale Ausgaben dieses Periodikums in 13 Sprachen, es war die meist verbreitete Zeitschrift unter anderem in Kanada, Mexiko, Spanien und Schweden mit einer Auflage von 23 Millionen Exemplaren weltweit.[3] In ihrer „Sieben-Länder-Untersuchung“, vorgenommen im Auftrag von Reader’s Digest London, wurde im Januar und Februar 1963 vergleichend in Belgien, der Bundesrepublik, Frankreich, Holland, Italien, Luxemburg und England das Konsumverhalten der Bevölkerung und speziell der Reader’s-Digest-Leser untersucht.[4] Erfragt wurden, differenziert nach Bildung, Beruf, Alter und Geschlecht, zum Beispiel Besitzstände und Verwendung von Fahrzeugen, elektronischen Geräten, Fotoapparaten, absolvierte und geplante Reisen, Kinobesuch – und die Verwendung von Kosmetika, die im Folgenden im Mittelpunkt stehen soll.

In diesem Segment wurden Besitz und Gebrauch von Gesichts- und Hautcremes, Puder, Parfum, Mundwasser, Deodorant etc. erhoben. Ich konzentriere mich auf den Lippenstift, weil er in diesen Jahren im Mittelpunkt einer kontroversen, aber national offenbar unterschiedlich stark ausgeprägten Debatte um die Legitimität körperlicher Schönheit insbesondere junger Frauen stand. Hier sind die Ergebnisse der „Sieben-Länder-Untersuchung“ tatsächlich erstaunlich: Lippenstift benutzten 73 Prozent der Engländerinnen, 66 Prozent der Luxemburgerinnen, 62 Prozent der Holländerinnen, 58 Prozent der Französinnen, 51 Prozent der Belgierinnen, aber nur 38 Prozent der westdeutschen Frauen, die lediglich von den Italienerinnen mit 25 Prozent noch unterboten wurden.[5] Differenziert man nach sozialem Hintergrund, dann zeigt sich, dass, entgegen einem verbreiteten Vorurteil, „untere Schichten“ schlechter ausgestattet waren als „obere“ – lediglich in Frankreich spielte die soziale Lage keine Rolle. Differenziert man nach dem Alter, dann wird sichtbar, dass die jüngeren Befragten – hier wurde das 40. Lebensjahr als Grenze genommen – zu erheblichen Teilen stärker Lippenstift benutzten als die über 40-jährigen, nämlich um die 30 Prozent mehr, mit Ausnahme von Italien, wo der Unterschied sehr viel geringer war, nämlich 24 Prozent bei den älteren, 29 Prozent bei den jüngeren Frauen. So zeigt sich auch hier, dass der Wandel der Einstellungen zum Konsum in Europa oftmals als „Generationsgegensatz erfahren“ wurde.[6] Dennoch blieben nationale Unterschiede beim Anteil der Nutzerinnen von Lippenstift auch innerhalb der jüngeren Befragtengruppe erhalten – mit England (93 Prozent) an erster, der Bundesrepublik (64 Prozent) an vorletzter Stelle. Wie kamen derartige Diskrepanzen zustande?

Großbritannien war zur Speerspitze von Jugendmode und moderner Jugendkultur in Europa schon in den 1950er-Jahren geworden, nicht zuletzt, weil junge Frauen in sehr viel stärkerem Maße als zuvor in die neu entstehenden Jobs in Büros und Konsumgüterindustrie einrückten und ihr neues Selbstbewusstsein auch in ihren kulturellen Präferenzen öffentlich zum Ausdruck brachten. In seiner bekannten Studie von 1965 konstatierte Peter Laurie[7], die eigentliche Triebkraft der „Teenage Revolution“ sei das anonyme „Teenage girl“ gewesen, denn die Konsumgüterindustrie stellte ihr Warenangebot für „Bekleidung, Schallplatten und Kosmetik“ in erster Linie auf die gut verdienenden jungen Frauen ab.[8] Dass der in Großbritannien früh aufkommende weibliche „Teenager“ als Idealtypus des konsumorientierten Gegenwartsjugendlichen betrachtet wurde und sich unter anderem durch den Gebrauch von Kosmetik auszeichnete, legt eindrucksvoll eine Deutung im New Statesman von 1964 nahe, in der eine konservative Stimme die Massen weiblicher Fans beim Auftritt der Beatles beschrieb: „Große Gesichter, aufgebläht von billigen Süssigkeiten und eingeschmiert mit Discounter-Makeup, die offenen, durchhängenden Münder und glasigen Augen, die Hände stumpfsinnig zur Musik trommelnd, die abgebrochenen Stiletto-Absätze, die schäbigen, gleichförmigen angesagten Kleider: hier zeigt sich offensichtlich ein kollektives Bild einer von einer kommerziellen Maschine versklavten Generation.“[9]

Derartige Vorurteile, die in Großbritannien allmählich in die Minderheit gerieten, beherrschten in Italien noch weit in die 1960er-Jahre hinein die öffentliche Meinung. Das Land lag im europäischen Vergleich weit zurück und erlebte eine nachholende Modernisierung nicht nur im Hinblick auf die Versorgung mit Konsumgütern, sondern auch in den kulturellen Präferenzen erst im Laufe der 1960er-Jahre. Ein Faktor dafür war, dass der große Einfluss der katholischen Kirche auf den Alltag und die Erziehungsstile der Bevölkerung restriktivere Verhaltensnormen beförderte. Zwar konstatierte das italienische Magazin Epoca 1961, dass sich die „Gebräuche, Ideen und Bekleidung“ wandelten und postulierte: „Tabus fallen: Die italienische Frau hat den Sex entdeckt“, doch galt das nicht für den Süden des Landes und ebenso wenig für Teenager.[10] Mitte der 1960er-Jahre hatten Tabus und Vorurteile noch erheblichen Einfluss auf das Leben von Jugendlichen, selbst wenn auch unter ihnen die Abenteuerlust zunahm.

Schon anhand dieser knappen Skizzen wird sichtbar, dass die Zahlen der empirischen Sozialforschung zwar Anhaltspunkte zur Gewichtigung von Zeiterscheinungen geben können, nur erklären können sie sie nicht. Im Folgenden soll am Beispiel der Bundesrepublik anhand anderer quantitativer sowie qualitativer Quellen die Vielschichtigkeit der möglichen Einflussfaktoren etwas genauer bestimmt werden.

In Westdeutschland repräsentierten weibliche Teenager als Konsumentinnen das hedonistisch konturierte Gegenmodell zum allgemein propagierten Ideal der Wirtschaftswunder-Verbraucherin – jener rational konsumierenden Hausfrau, die den Verführungen des Wohlstands durch Kontrolle entgegentrat und ihr Potential auf die Familie konzentrierte.[11] Im Gegensatz zu Hausfrauen, die durch Ehe und Mutterschaft gebunden waren, zeichneten sich Teenager durch sexuelle Verfügbarkeit aus. Kosmetik und Kleidung dienten dazu, körperliches Kapital möglichst optimal zur Geltung zu bringen, ohne die Grenzen des Akzeptablen allzu weit zu überschreiten. Wie sehr die „Lifestyle Revolution“ die Lebensbedingungen von Mädchen veränderte, ohne dass dieser Vorgang eine im klassischen Sinne politische Dimension hatte, erkannte schon die zeitgenössische Sozialforschung. In ihrer 1964 veröffentlichten Untersuchung über 14- bis 18-jährige Mädchen sprach Edith Göbel von einer „Revolution”, „die jedoch weniger durch laute Proteste und Opposition hervorgerufen wurde als vielmehr durch das Aufgreifen der Möglichkeiten, die die veränderten Umweltverhältnisse den Mädchen heute bieten”.[12]

Dieser Emanzipationsvorgang ging als allmählicher Übergang vonstatten, bei dem die Bindekraft der Tradition noch stark war und eher Mischungsverhältnisse als klare Sprünge zu verzeichnen sind. Während junge Frauen zunehmend eine Berufsausbildung planten und in ihrer Freizeit allmählich selbstständiger agierten, übten sie gleichzeitig traditionelle Rollenmuster im Geschlechterverhältnis ein und sparten für die Aussteuer. Die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung zeigen, dass Mädchen sehr viel stärker als Jungen unter der Kontrolle des Elternhauses standen und Emanzipationskonflikte auszutragen hatten. Häufiger als ihre männlichen Altersgenossen sahen sie die häusliche Stimmung als „gespannt” an.[13] Göbels Untersuchung lässt keinen Zweifel, dass die zentrale Konfliktlinie in der Beziehung zum anderen Geschlecht und ihren möglichen Folgen lag. In dieser Frage waren Eltern am unzugänglichsten – der Zwang zur Häuslichkeit und Interventionen an der äußeren Erscheinung leitet sich unmittelbar aus dem Bedürfnis ab, außerhäusliches Vergnügen und attraktive Körperlichkeit einzudämmen.[14] Andererseits nahmen Teenager die Brüchigkeit des Normensystems wahr, mit dem die Nachkriegsgesellschaft den sozialen und kulturellen Umwälzungen begegnete. Göbel registrierte eine hohe Sensibilität für „die Verlogenheit einer Moral, die sich nach außen hin tugendhaft gebärdet, im Innersten aber doch Unbeherrschtheit und Sittenlosigkeit birgt”.[15] Ein genauerer Blick zeigt, dass die Konflikte über äußeres Erscheinungsbild und Ausgehzeiten nach dem Alter und dem Grad der formalen Bildung erheblich variierten. Kürzere Schulbildung und finanzielle Unabhängigkeit im jungen Alter bescherten insbesondere ungelernten Arbeiterinnen, die nach dem Hauptschulabschluss eine Erwerbstätigkeit aufnahmen, schon als Teenagern frühe Selbstständigkeit, während sich im anderen Extrem Gymnasiastinnen und Studentinnen häufig noch bis zur Heirat in familiärer Abhängigkeit bewegten. Typisch für die sozialen Diskrepanzen sind zwei Interviewaussagen, die Carola Atkinson 1964 unter 23-jährigen Frauen aufzeichnete. Während eine ungelernte Arbeiterin betonte, ihre Mutter sei froh gewesen, als sie „selbstständig wurde. Sie behandelte mich ab 16–17 Jahre als Erwachsene”[16], hatten die größten Probleme bei der Emanzipation vom Elternhaus Studentinnen, die bei Atkinsons Befragung zu zwei Fünfteln über Behinderungen klagten. Eine Studentin erinnerte sich, dass es seit ihrem 17./18. Lebensjahr Konflikte gegeben habe: „Ich wollte nicht bevormundet werden; wollte auf eigenen Füßen stehen, für mich selber sorgen; mein Leben selber aufbauen, mich selber einrichten mit meinen Interessen, wollte ein eigenes Zimmer haben.”

Das Emanzipationspotential, das die Konsumgesellschaft jungen Frauen zur Verfügung stellte, lässt sich genauer ausloten anhand des Gebrauchs von Kosmetik und modischer Kleidung, der „die Tendenz nach sozialer Egalisierung mit der nach individueller Unterschiedenheit und Abwechslung in einem einheitlichen Tun zusammenführt[e]“.[17] An diesen Konsumgegenständen waren junge Frauen besonders stark interessiert, und weil die häufig ungelernt erwerbstätigen weiblichen Teenager mehr verdienten als ihre sich mehrheitlich in der Berufsausbildung befindlichen männlichen Altersgenossen, tat sich hier für die Konsumgüterindustrie ein vielversprechender Markt auf. Für die Modeindustrie war Alter ein wesentliches Kriterium. Sie versuchte ihren Absatz zu steigern, indem sie Jugendlichkeit herausstellte. Während der traditionelle Begriff von Schönheit an sozialen Status und Reichtum gekoppelt war, der rein körperliche Aspekt hingegen als oberflächlich galt, stieg physische Schönheit seit den 1950er-Jahren zu einem autonomen Statusmerkmal auf, das die Grenzen von Geschlecht, sozialer Lage, ethnischem Hintergrund oder Bildungsstand tendenziell überstieg.[18] Dieser durch die Kulturindustrie vermittelte Wandel begünstigte die jungen Altersgruppen ganz besonders, weil verbesserte Ernährung und Gesundheitsfürsorge ein gedeihliches Körperwachstum beförderten. Kosmetik und Kleidung waren Mittel, auf diesem Gebiet zu reüssieren und jene körperlichen Attribute besonders zur Geltung zu bringen, die als vorteilhaft galten. Auf den Gebieten von Schönheit und Sexualität konnte kulturelles Kapital durch Auswahl und Stilgefühl nicht mehr nur bei festlichen Gelegenheiten, sondern in den sozialen Nahräumen des Alltags ausgespielt werden – in der Schule und am Arbeitsplatz. Angebotsvielfalt und finanzielle Ausstattung boten grundsätzlich die Möglichkeit, sich im Alltag einer Conny Froboess, Jean Seberg oder Twiggy anzuverwandeln. Figurbetonte Kleidung und die Akzentuierung von Augen und Lippen hoben körperliche Merkmale hervor, allerdings zumeist so dezent, dass ein Vergleich mit stark sexualisierten Medienstars wie Marilyn Monroe oder Brigitte Bardot ausgeschlossen war. Doch wirkten in Deutschland noch Traditionen nach, die dem Schminken ablehnend gegenüber standen. Sie waren nicht nur kirchlichen Ursprungs, sondern kamen auch etwa aus der Jugendbewegung, und im „Dritten Reich“ hatte die NSDAP-Parole „Die deutsche Frau schminkt sich nicht!“ eine ästhetische Norm gesetzt.[19] Noch in den 1960er-Jahren kam eine europäische Vergleichsuntersuchung zu dem Ergebnis, dass deutsche Mädchen Make-up häufig ablehnten und „Natürlichkeit” forderten.[20] Gerade weil selbst eine sachte Variation des in Deutschland besonders verbreiteten Natürlichkeitspostulats oft lautstarke Kritik hervorrief, bot die gemäßigte Verwendung von Kosmetika und modischer Kleidung minderjährigen Frauen die Möglichkeit, ihrer Sexualität erstmals Ausdruck zu verschaffen.

Insbesondere in den frühen 1960er-Jahren barg die Frage, ob und zu welchen Gelegenheiten minderjährige Mädchen sich schminken durften, erheblichen Konfliktstoff im Elternhaus ebenso wie in der Öffentlichkeit. Geschminkte Augen und Lippen, lackierte Fingernägel galten als Signalement der sexuellen Verführung, als Statement gegen die Ideologie des Aufsparens, an ihnen machte sich in einer spezifisch deutschen Optik die Differenz von „Kultur“ und „Zivilisation“ fest. Ebenso wie die Usancen der Bekleidung war auch der Gebrauch von Kosmetika abhängig von Sozialfaktoren wie Einkommen, Region und Alter. Auch auf diesem Gebiet kollidierten die Bedürfnisse und Anforderungen von Hausfrauen, deren sozialer Raum in erster Linie die Familie darstellte, mit denen des Teenagers, der sich in der Schule oder am Arbeitsplatz täglich der Konkurrenz der Stile ausgesetzt sah. Erst seit der Mitte der 1960er-Jahre wurde in der Bundesrepublik das Natürlichkeitsideal ernsthaft in Frage gestellt – vor allem durch den erfolgreichen Emanzipationskampf junger Frauen, der an dieser Stelle auf stärksten Widerstand stieß. Neben Musik war Kosmetik noch vor der Bekleidung das wichtigste Terrain für die Herausbildung eines spezifisch jugendlichen Stils, aber im Gegensatz zur Musik fochten junge Frauen auf diesem Gebiet weitgehend allein. Das Alter war eine wesentliche Scheidelinie für die Benutzung von Schönheitsmitteln. Die Kosmetikindustrie stellte sich auf den jungen Markt ein, indem sie spezielle Produkte für junge Frauen anbot – leicht parfümierte und in sehr hellen Farben gehaltene Lippenstifte etwa, die Jugendlichkeit betonten und sexuelle Konnotationen zurücknahmen.[21] Gut zehn Jahre später war der Gebrauch von Kosmetika auch unter ganz jungen Frauen nicht mehr nur Ausnahme, sondern gehörte zum allgemein üblichen Repertoire der Selbstdarstellung. 1974 verwendeten 83 Prozent der 14- und 15-jährigen Mädchen Lippenstift – davon 28,6 Prozent täglich –, im Alter von 20 bis 22 Jahren lag der Anteil bei 91,8 Prozent, unter ihnen waren 51,7 Prozent tägliche Benutzerinnen.[22]

Dass mit dem Gebrauch „überflüssiger“ Kosmetika nicht nur ein kommerzieller Markt stimuliert und Stilbildung betrieben, sondern auch ein anthropologisches Ideal infrage gestellt wurde, zeigten nicht zuletzt die ambivalenten Reaktionen der Gesellschaft. Sie lassen sich an einem Vorgang veranschaulichen, der 1963 eine bayerische Kleinstadt in Aufregung versetzte und von einem Blatt des Jugendschutzes zu einem repräsentativen Kulturkampf aufgewertet wurde.[23] Die Schulkonferenz der Regener Mittelschule hatte die Verwendung von Schminke, Lippenstift und Nagellack verboten, begründet mit der angeblich ökonomisch verursachten Konkurrenzsituation, die derartige Praktiken unter den Schülerinnen schaffen würden: Lippenstift und Make-up waren Statusmerkmale, die über soziale Chancen in der Schülergruppe entschieden und das Sachlichkeits- und Gleichheitspostulat der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ unterliefen. „Unsere Tochter wollte schon gar nicht mehr zur Schule gehen, weil sie sich immer zurückgesetzt fühlte. Dabei haben wir doch wirklich kein Geld für diesen Firlefanz!“, erklärte eine Verteidigerin dieses Beschlusses, während Kritiker meinten, die Schule behinderte die freie Entfaltung der Persönlichkeit und verstieße damit gegen das Grundgesetz. In diesem mit viel Verve ausgetragenen Streit zwischen einem volksgemeinschaftlichen und einem individualistischen Ideal, „innen-“ und „außengeleitetem“ Individuum, Rationalismus und Hedonismus schälten sich die Grenzen des Akzeptablen deutlich heraus: Während für die einen die freie Entfaltung ihrer Töchter im Mittelpunkt stand, verkörperte das Ideal der anderen jener Teenager, der „flott“ und „adrett“, aber nicht geschminkt war und Individualismus über „innere Werte“ und „natürliche“ Ausstrahlung ausdrückte. Für sie waren Lippenstift und Lidschatten als Alltagskosmetika höchstens akzeptabel, wenn sie nach dem Abschluss von Schule und Berufsausbildung in den Bewährungsräumen der Erwachsenenwelt, am außerhäuslichen Arbeitsplatz, eingesetzt wurden. Für Schülerinnen jedoch wurden sie bestenfalls bei ganz besonderen Anlässen in kontrollierten Situationen zugelassen – etwa in den Tempeln der Hochkultur, wie der Ruf ins Volk, die Zeitschrift des Jugendschutzes, eine 16-jährige Ria verkünden ließ: Schminke „natürlich nur abends. Wenn ich mit meinen Eltern ins Theater fahre, hat niemand etwas dagegen“. Wie umstritten der Gebrauch von Kosmetika war, wie massiv manche Eltern – speziell Väter – dagegen vorgingen, zeigen Aussagen von Töchtern, die im Rahmen konsumpsychologischer Untersuchungen aufgenommen wurden: „Mutter hat geschimpft, Vater hat mich deswegen geschlagen“, „Vater hat mich acht Tage nicht angeschaut wegen dem Lippenstift“, und „Vater wollte deswegen meine Bürostelle in der Stadt kündigen“.[24]

Trotz derartiger Repressionen gewann die von traditionalistischen Kritikern so verachtete „Oberfläche“ der körperlichen Schönheit im Laufe der 1960er-Jahre immer mehr Bedeutung als autonomes Statusmerkmal, während sich gleichzeitig das Spektrum dessen, was als „schön“ erachtet werden konnte, so weit ausdifferenzierte wie nie zuvor. Nicht nur die enorme Zuwachsquote bei der Produktion von Kosmetika, die in der Bundesrepublik zwischen 1963 und 1968 75 Prozent betrug, ist ein Indikator für diesen Wandel.[25] Auch das wachsende Selbstbewusstsein, mit dem Teenager ihr Äußeres modifizierten, verweist nicht nur auf gewandelte subjektive Darstellungsbedürfnisse, sondern auch auf die zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz hedonistischer Elemente, darunter auch Sexualität. 1967 erklärten 78 Prozent von ihnen, sie legten „viel Wert darauf, sich schick zu machen“, während „Natürlichkeit“ als Autostereotyp mit 31 Prozent abgeschlagen, aber auch alles andere als irrelevant war.[26] Selbst die Entscheidung gegen das „Schicke“ und für einen „authentischen“ Stil, wie er in der Alternativkultur als Kritik am überkommenen Formalismus und dem vermeintlichen Diktat der Konsumindustrie bevorzugt wurde, war eine von vielen Varianten ästhetischen Individualismus’.

Im Laufe der 1960er-Jahre entstanden immer mehr Felder, auf denen sich junge Frauen als eigenverantwortlich handelnde Subjekte profilieren konnten. Am sichtbarsten wurde dies auf dem Gebiet der Sexualität, wo die Anti-Baby-Pille als Möglichkeit, Sexualität und Fortpflanzung zuverlässig zu trennen, seit etwa 1966 gegen starke Widerstände nicht mehr nur von verheirateten, sondern auch von nicht verheirateten Frauen genommen wurde. Ein sehr viel unproblematischer zu eroberndes Terrain bot seit der „Beatlemania“ englischsprachige Populärmusik als Massenkultur, die schon jungen Mädchen zahlreiche Gelegenheiten verschaffte, öffentlichen Raum zu erobern, Expressivität auszudrücken und durch Identifikation mit ihren Stars sexuelle Sehnsüchte zu artikulieren, die (noch) nicht in praktische Handlungen mündeten.[27]

Zunehmende Berufstätigkeit junger Frauen, Medialisierung – und damit Konfrontation mit Werbung – und Wertewandel hin zu einem individualistischen Ideal griffen hier als Gründe für den Wandel europäischer Schönheitspraktiken ineinander – lange bevor die Studentenbewegung diesen soziokulturellen Prozess auf eine politische Ebene heben wollte. Allerdings waren die materiellen und kulturellen Rahmenbedingungen für derartige Emanzipationsprozesse in den europäischen Gesellschaften unterschiedlich ausgeprägt, sodass auch auf diesem Gebiet ungleichmäßige Entwicklungsgeschwindigkeiten zu verzeichnen sind – insbesondere in der Etablierungsphase derartiger Kulturtechniken als Massenphänomene.



[1] Essay zur Quelle: „Sieben-Länder-Untersuchung“ der Zeitschrift Reader’s Digest (1963).

[2] Vgl. z.B. Spiegel-Verlag (Hg.), Männer und Märkte. Besitz, Konsum und Informationsverhalten der männlichen Bundesbevölkerung, Bde. 1–5, Hamburg o.J. [1969]; BRAVO-Einkaufs-Panel. Jahresband 1968/69, München 1969.

[3] Sharp, Joanne P., Condensing the Cold War. Reader’s Digest and American Identity, Minneapolis u.a. 2000; Segal, David, A Reader’s Digest That Grandma Never Dreamt of, in: The New York Times, 19.12.2009, online verfügbar unter der URL: <http://www.nytimes.com/2009/12/20/business/media/20digest.html?pagewanted=all&_r=0> (02.11.2013).

[4] Gedruckte Zusammenfassung auf Deutsch: Noelle-Neumann, Elisabeth, Sieben-Länder-Untersuchung, Düsseldorf 1963; Detaillierte Daten finden sich in: Das Beste aus Reader’s Digest (Hg.), Menschen und Märkte. Expertenband mit ergänzenden Tabellen und Kommentaren zur „Sieben-Länder-Untersuchung“, o.O. 1964, Fundort: Zentralarchiv für empirische Sozialforschung, Köln, Digital Optic Identifier: 10.4232/1.0122.

[5] Noelle-Neumann, Sieben-Länder-Untersuchung, S. 5.

[6] Kaelble, Hartmut, Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007, S. 94.

[7] Laurie, Peter, The Teenage Revolution, London 1965.

[8] Zitiert nach Osgerby, Bill, Youth in Britain since 1945, Oxford 1998, S. 52.

[9] Zitiert nach ebd., S. 59. Zum Begriff des „Teenagers“ für die USA siehe Douglas, Susan J., Where the Girls Are. Growing Up Female with the Mass Media, New York 1994; Palladino, Grace, Teenagers. An American History, New York 1997; für Großbritannien Savage, John, Teenage. The Creation of Youth Culture, London 2007; für die Bundesrepublik Maase, Kaspar, BRAVO Amerika. Erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, Hamburg 1992, S. 158ff.; Poiger, Uta G., Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley u.a. 2000, S. 190ff.

[10] Zitiert nach Marwick, Arthur, The Sixties, Cultural Revolution in Britain, France, Italy, and the United States, c.1958–c.1974, Oxford 1998, S. 93. Das Folgende S. 389.

[11] Carter, Erica, How German Is She? Postwar West German Reconstruction and the Consuming Woman, Ann Arbor 1997, S. 232ff.

[12] Göbel, Edith, Mädchen zwischen 14 und 18. Ihre Probleme und Interessen, ihre Vorbilder, Leitbilder und Ideale, und ihr Verhältnis zu den Erwachsenen, Hannover 1964, S. 20.

[13] Pfeil, Elisabeth, Die 23jährigen. Eine Generationsuntersuchung am Geburtsjahrgang 1941, Tübingen 1968, S. 102f.

[14] Göbel, Mädchen, S 361ff.

[15] Ebd., S. 366.

[16] Pfeil, 23jährige, S. 107.

[17] Simmel, Georg, Philosophie der Mode (1905), in: Georg Simmel Gesamtausgabe, Bd. 10, Frankfurt am Main 1995, S. 9–37, hier S. 11.

[18] Dazu ausführlich Marwick, Sixties, S. 404ff.

[19] Der Spiegel, 4.3.1968; vgl. Poiger, Uta G., Fantasies of Universality? Neue Frauen, Race, and Nation in Weimar and Nazi Germany, in: Weinbaum, Alys Eve et al. (Hgg.), The Modern Girl Around the World. Consumption, Modernity, and Globalization, Durham u.a. 2008, S. 317–346.

[20] Lutte, Gérard et al., Leitbilder und Ideale der europäischen Jugend, Ratingen u.a. 1970, S. 134ff.

[21] Heinig, Joachim, Teenager als Verbraucher, Diss., Nürnberg 1962, S. 120.

[22] Institut für Jugendforschung, Bravo Jugend-Panel. Langzeituntersuchung. Ergebnisse einer Marktuntersuchung, Bd. 1, München 1974, S. 23ff.

[23] Ruf ins Volk. Monatsschrift für Volksgesundung und Jugendschutz, (1963), H. 12, S. 1ff.

[24] Hambitzer, Manfred, Jugendliche und Konsumverhalten, in: Bergler, Reinhold (Hg.), Psychologische Marktanalyse, Bern u.a. 1965, S. 61–85, hier S. 79.

[25] BRAVO-Einkaufs-Panel. Jahresband 1968/69, München 1969, S. 249.

[26] Institut für Demoskopie, Allensbach, Das andere Geschlecht, August 1967, Bundesarchiv Koblenz, Zsg. 132/1441.

[27] Vgl. zu diesem Emanzipationsvorgang nach wie vor die luzide Analyse von Ehrenreich, Barbara et al., Girls Just Want to Have Fun, in: dies. (Hgg.), Re-Making Love: The Feminization of Sex, Garden City u.a. 1986, S. 10–38.



Literaturhinweise:

  • Marwick, Arthur , The Sixties. Cultural Revolution in Britain, France, Italy, and the United States, c.1958–c.1974, Oxford 1998.
  • Siegfried, Detlef, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 22008.
  • Weinbaum, Alys Eve et al. (Hgg.), The Modern Girl Around the World. Consumption, Modernity, and Globalization, Durham u.a. 2008.

„Sieben-Länder-Untersuchung“ der Zeitschrift Reader’s Digest (1963)[1]

Körperpflege der Frauen,

Schönheitspflege


Fragetext in Interview: »Können Sie mir sagen, was von dieser Liste hier

Sie persönlich manchmal verwenden, und was davon Sie zur Zeit benutzen?«


[1] „Sieben-Länder-Untersuchung“ der Zeitschrift Reader’s Digest. Segment Besitz und Gebrauch von Kosmetika. Körperpflege der Frauen, Schönheitspflege. Eine Zusammenfassung findet sich in Noelle-Neumann, Elisabeth, Sieben-Länder-Untersuchung, Düsseldorf 1963, hier S. 5. Transkription der Quelle durch die Redaktion des Themenportals Europäische Geschichte.


Für das Themenportal verfasst von

Detlef Siegfried

( 2013 )
Zitation
Detlef Siegfried, Rote Lippen soll man küssen Deutungen europäischer Schönheitspraktiken um 1960, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2013, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1624>.
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