Kurella, Alfred: Von der Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft (1955)

Auch hier nehmen wir Kurs auf einen Typus von Künstler, der sich unterscheidet von dem, den die dekadente Kunsttheorie vertritt. Was wir fördern, ist der künstlerisch schaffende Mensch, der sich bewußt mit der Kunst der Vergangenheit und ihren Ausdrucksmitteln auseinandersetzt, um aus ihr ein Maximum von künstlerischen Wirkungsmitteln zu gewinnen; ein Künstler, dem es vor allem daran liegt, den künstlerischen Ausdruck in den Dienst der großen fortschrittlichen Ideen seiner Zeit zu stellen, zu denen er sich selbst emporgearbeitet hat. [...]

Alfred Kurella: Von der Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft (1955)[1]

Auszüge des Vortrags zur Eröffnung des Instituts für Literatur in Leipzig am 30. Juli 1955

Auch hier nehmen wir Kurs auf einen Typus von Künstler, der sich unterscheidet von dem, den die dekadente Kunsttheorie vertritt. Was wir fördern, ist der künstlerisch schaffende Mensch, der sich bewußt mit der Kunst der Vergangenheit und ihren Ausdrucksmitteln auseinandersetzt, um aus ihr ein Maximum von künstlerischen Wirkungsmitteln zu gewinnen; ein Künstler, dem es vor allem daran liegt, den künstlerischen Ausdruck in den Dienst der großen fortschrittlichen Ideen seiner Zeit zu stellen, zu denen er sich selbst emporgearbeitet hat.

In diesem Sinne ein großer Künstler, ein großer Dichter und Schriftsteller zu sein ist zu allen Zeiten schwer gewesen. Denn vom Schriftsteller, dessen Ausdrucksmittel, das Wort, so untrennbar mit dem Denken verbunden ist, mußte und muß mehr als von irgendeinem anderen Künstler verlangt werden, daß er in jeder Beziehung auf der Höhe der Kultur seiner Zeit steht.

Denn nur im Lichte des von seiner Zeit, von der zeitgenössischen Gesellschaft in ihren fortgeschrittensten Teilen hervorgebrachten Denkens läßt sich – das zeigt die Erfahrung aller großen Schriftsteller – die jeweilige Wirklichkeit in all ihrer Fülle denkend begreifen und bildhaft erfassen.

Doppelt schwer ist es für einen Schriftsteller, sich zu einer überlegenen Verbundenheit mit seiner Zeit aufzuschwingen, heute in der Epoche des großen geschichtlichen Umbruchs, wo die sozialistische Gesellschaft an die Stelle der untergehenden kapitalistischen tritt. Denn solche Umbruchs- oder Übergangszeiten erfordern vom Künstler eigentlich, daß er in zwei Welten wirklich zu Hause ist, oder wenigstens, daß er sich in der anderen, mit der er nicht durch Herkunft, Kindheitseindrücke, spontane Urteile und Gefühle verbunden ist, so weit auskennt, daß er sie wie eine eigene erleben kann. Das aber ist außerordentlich schwer. „Normale Zeiten“, wie sie einem manchmal in Gedanken, im Gegensatz zu dem, was wir selber erleben, vorschweben, hat es wohl nie gegeben. Jede Zeit ist auf ihre Weise Umbruch und Übergangszeit, und jeder Künstler macht wie jeder Mensch die Erfahrung, wie seine eigenen Vorstellungen und Urteile und deren Beziehungen zu den sich wandelnden Dingen der Umwelt sich verschieben und verändern. Aber ganz abgesehen davon, daß unsere sozialistische Revolution eine wahrhaft epochale ist, gingen zu anderen Zeiten diese Wandlungen in der Innen- und Außenwelt des Künstlers doch wohl langsamer vor sich, und das gab dem Künstler in hohem Maße Gelegenheit, „sich frei im Stoff zu bewegen“. Johannes R. Becher weist mit Recht immer wieder auf das Fehlen einer solchen freien Bewegungsmöglichkeit im Stoff als auf eine der Hauptschwierigkeiten unserer künstlerischen Situation hin. Ilja Ehrenburg hat dasselbe Problem von einer anderen Seite her angerührt, wenn er auf die ungewöhnlich schnelle Veränderlichkeit des materiellen und psychischen Wirklichkeitsmaterials hinwies, das der moderne Künstler im Schaffensprozeß zu Kunstwerken umschmelzen muß. Es sind aber gerade alle diese besonderen Schwierigkeiten, die uns veranlassen, nach Wegen zu suchen, um den modernen Schriftstellern bei ihrer systematischen, überlegten Bewältigung behilflich zu sein.

Dreifach schwer aber hat es der Künstler und insbesondere der Schriftsteller im heutigen Deutschland, wobei sich das ,,schwer“ auf die Größe und Kompliziertheit der zu lösenden künstlerischen Aufgaben bezieht. Denn der große geschichtliche Umbruch, von dem ich eben sprach, spielt sich hier bei uns in ganz besonderen, man muß wohl sagen, einmaligen Formen ab. Das eigentliche Geschehen ist überlagert von äußeren Vorgängen und von Gedanken und Gefühlen der an diesen beteiligten Menschen, die oft in buchstäblich schreiendem Gegensatz zu dem Wesen der Sache stehen. Geschichtlich und menschlich Großartiges ist aufs engste verquickt mit Niedrigem und Gemeinem, und es gehört ein tiefer Einblick in das wirkliche Geschehen, es gehört eine umfassende Kenntnis des Zusammenhangs und der wechselseitigen Verbindung zwischen den Vorgängen dazu, wenn man verstehen und erleben will, was eigentlich geschieht. Vor allem muß man aber ein unerschütterliches, auf Wissen und Kenntnis begründetes Vertrauen in den geschichtlichen Fortschritt haben, muß aus Studium und Erfahrung die verschlungenen, widerspruchsvollen Wege kennen, auf denen sich im großen wie im kleinen die Geburt des Neuen immer wieder vollzieht, um sich in dieser unserer deutschen Wirklichkeit richtig zurechtfinden zu können. […]

Denn die künstlerische Meisterschaft – und damit schließt sich der Ring unserer Überlegungen – ist nicht etwas Besonderes, das unabhängig von der Weltanschauung, dem Wissen und dem Wollen des Künstlers entsteht und zu ihnen wie von außen hinzukommt. Die Entscheidung darüber, ob ein Kunstwerk meisterhaft wird, beginnt bereits beim ersten Einfall, beginnt damit, wie die Gestalt, der Charakter, der Konflikt noch in ungewissen Konturen vor dem inneren Auge des Künstlers auftauchen. Auf die Beschaffenheit dieser Keime des Kunstwerks kommt es an, auf die von Anfang an menschlich und künstlerisch bedeutsame Qualität der ersten Impulse, Einfälle und Bilder, der Situationen, ja gewisse Planvorstellungen, mit denen ein Kunstwerk konzipiert wird. […]

Wer, wie wir sozialistischen Schriftsteller der älteren Generation, unsere „Epoche der Kriege und Revolutionen“ von den Tagen der Kindheit an selbst miterlebt, wer die Revolution sozusagen zur Pflegemutter gehabt hat und die Theorie der Revolution als Muttermilch trinken konnte, dem ist es ein lebendiges Bedürfnis, das in diesem Erleben gewonnene Huttensche Gefühl für die Herrlichkeit der Zeit, in der wir leben und für ihren Reichtum an künstlerischen Möglichkeiten der jüngeren Generation weiterzugeben, die sich in ihrer geistigen Entwicklung gerade in Deutschland durch sehr schwierige Verhältnisse hindurchringen mußte. Dieses neue, lebensbejahende, auf Erfahrung und exakte Erkenntnis gegründete Weltgefühl ist und bleibt der lebendige Kern dessen, was an der literarischen Meisterschaft lehrbar ist.


[1] Kurella, Alfred, Von der Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft, Vortrag zur Eröffnung des Instituts für Literatur in Leipzig, in: Ruf in den Tag. Jahrbuch des Instituts für Literatur „Johannes R. Becher“, Leipzig 1960, S. 30–36.


Die Debatte um die Lehrbarkeit des Schriftstellerberufs in der DDR. Alfred Kurellas Rede zur Eröffnung des Instituts für Literatur in Leipzig am 30. Juli 1955[1]

Von Anne-Marie Pailhès

Als erster Direktor des Leipziger Literaturinstituts hielt Alfred Kurella am 30. Juli 1955 die Rede zur Eröffnung dieser neuen Bildungsstätte – einer Institution, die im Laufe von mehreren Jahrzehnten das literarische Leben in der DDR nachhaltig geprägt hat. Um einen Eindruck von ihrer Bedeutung zu vermitteln, braucht man nur Namen wie Sarah Kirsch, Volker Braun, Werner Bräunig, Heinz Czechowski, Erich Loest oder Ulrich Plenzdorf zu nennen, die alle einmal Studenten und Studentinnen dieses Instituts waren.

Zurückzuführen ist diese Neugründung auf die Auseinandersetzungen über die Rolle des Schriftstellers im Nachkriegsdeutschland und im Deutschland des Kalten Krieges. Wie in anderen europäischen Ländern wurde nach den schrecklichen Kriegserfahrungen nach dem Sinn und Zweck literarischer Schöpfung gefragt. In Westeuropa stellte das absurde Theater ein Ergebnis dieser Debatte dar. Gleichzeitig wurde daran gezweifelt, ob man nach Auschwitz überhaupt noch Gedichte schreiben könne. Die DDR-Kulturpolitiker beriefen sich hingegen auf das literarische Erbe, um den sozialen Umbruch auf literarischem Gebiet zu begleiten, und es den neu aufkommenden Schichten zu ermöglichen, ihre klassenspezifische Erfahrung auf dem Gebiet der Kunst durchzusetzen. Das Institut für Literatur in Leipzig spielte dabei eine wichtige Rolle. Es war geplant als Schmiede der neuen sozialistischen Schriftsteller, die möglichst aus der Arbeiterklasse stammen sollten.

Nach der Zersplitterung des künstlerischen und kritischen Potentials der deutschen Literatur – die zum großen Teil im Exil, in Form der „inneren Emigration“ oder in verschiedenen Stufen der Zusammenarbeit mit dem NS-Regime überlebte – wollte die junge Schriftstellergeneration in der Bundesrepublik eher „tabula rasa“ machen, z.B. in der Gruppe 47. Sie ging von der Annahme aus, dass man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben könne. Was die neugegründete DDR anging, so berief sie sich offiziell auf das humanistisch-klassische Erbe der deutschsprachigen Literatur, wovon die Veranstaltungen im Goethe-Jahr 1949 und im Schiller-Jahr 1955 Zeugnis ablegten. Das angestrebte Ideal des „neuen Menschen“ sollte gleichzeitig in einen Schriftsteller neuen Typus, des von Stalin gewünschten „Ingenieurs der menschlichen Seele“, münden.[2] Die Sowjetunion lieferte das Vorbild in Gestalt des Gorki-Instituts, das 1933, drei Jahre vor dem Tod des gleichnamigen Schriftstellers, gegründet worden war. Der Gedanke einer Schule der Dichter wird in der DDR Anfang der 1950er-Jahre wiederbelebt und knüpft an Überlegungen in der Weimarer Republik an. Im Jahre 1929 hatte nämlich an der Preußischen Akademie der Künste – einer ehrwürdigen Institution, der 1926 erstmals eine „Sektion für Dichtkunst“ angeschlossen worden war – eine Diskussion stattgefunden, bei der die Geister sich an der Frage der Erlernbarkeit des „Dichterberufs“ schieden[3]: Während progressive Schriftsteller wie Alfred Döblin den Namen der „Sektion für Dichtkunst“ ändern wollten, um den Begriff „Literatur“ einzuführen, hingen andere wie Ricarda Huch und konservative Schriftsteller noch an dem Modell eines „visionären Dichters“.[4] „Döblin wendet sich vor allem gegen die ‚romantische Auffassung‘ der Figur des Dichters. Der Ausdruck ‚Dichtkunst‘ sei nicht nur als Wort peinlich, sondern auch als Begriffsbestimmung. Es handle sich darum, die Einheit der modernen Geistigkeit grundsätzlich anzuerkennen.“[5] Die Stellungnahme von Ricarda Huch im Januar 1930 bringt eine ganz andere Auffassung zum Ausdruck: „Daß mir der Name Dichter-Akademie leider lächerlich vorkommt, ist zunächst ein unmittelbares Gefühl. Es wird sich zurückführen lassen auf die Tatsache, daß das eigentliche Dichterische in einem Kunstwerk sich weder erlernen noch mit Bestimmtheit nachweisen läßt, daß der Platz des Dichters, dessen ‚Auge in holdem Wahnsinn rollt‘, nicht in Akademien ist, wenn auch zufällig einer hineingeraten mag.“[6] Die Debatte ging auf eine Äußerung von Thomas Mann aus dem Jahre 1926 zurück: Er war der Ansicht, dass man „den Namen ‚Sektion für Dichtkunst‘ über kurz oder lang als allzu meistersingerlich wird fallen lassen und ihn in ‚Sektion für Literatur‘ wird ändern müssen. Dies nämlich würde die Möglichkeit gewähren, sich nicht dauernd auf das rein Poetische zu beschränken, sondern das kritisch-essayistische, historisch-kulturphilosophische Element mit einzubeziehen, was [er] für eine geistige Notwendigkeit halte.“[7]

Das spätere Unterfangen in der DDR fußte auf den Erfahrungen jener Jahre und reaktivierte dieselbe Auseinandersetzung. In der Bundesrepublik der Nachkriegszeit wurde die Gründung einer ähnlichen Bildungsanstalt erwogen[8], aber schließlich nicht umgesetzt.

Wie schon in der Weimarer Republik stieß dieses Projekt auch innerhalb der DDR nicht auf ungeteilte Begeisterung. Ein Beispiel dafür ist Johannes R. Becher, dessen Namen das Institut nach seinem Tod 1958 erhielt. Der spätere Kulturminister der DDR, der 1955 in Kurellas Anwesenheit das Institut einweihen sollte (und der die Zeit der ‚preußischen Dichterakademie’ erlebt hatte), schrieb am 7. Januar 1950 in sein Tagebuch: „Ein tolles Stück. Der noch zu gründenden Akademie der Künste wird ein Entwurf zur Bildung eines Literatur-Erziehungs-Instituts (Internats) eingereicht als Mittel, realistische Kunst zu erzielen.“[9]

Die Befürworter der Lehrbarkeit des Schreibens – und der notwendigen ideologischen Kontrolle der Intellektuellen – waren aber schon in der sowjetischen Besatzungszone am Werk, als 1947 die ersten „Arbeitskreise junger Autoren“ ins Leben gerufen wurden. Franz Hammer wurde vom Schriftstellerverband beauftragt, den Thüringer Arbeitskreis zu gründen, und betrachtete sich später als Pionier auf diesem Gebiet.[10] Kein anderer als Alfred Kurella gehörte schon damals zur Kommission des Schriftstellerverbandes, die die Mitglieder dieses Arbeitskreises aussuchen sollte. Mehrere „junge Autoren“ aus diesen Zirkeln zählten dann zu den ersten Studenten des Literaturinstituts, so dass die Arbeitskreise eine Basis für das spätere Institut bildeten.

Die Auseinandersetzung um die Gründung eines solchen Instituts beschränkte sich nicht auf eine innerdeutsche Debatte; sie fand im Kontext der kulturpolitischen Veränderungen nach der Formalismus-Debatte Anfang der 1950er-Jahre[11] und dem Aufstand vom 17. Juni 1953 statt, nach dem den Intellektuellen mehr Spielraum zugestanden wurde.[12]

1953 besuchte eine Delegation von DDR-Schriftstellern das Moskauer Gorki-Institut anlässlich seines 20. Jahrestages. Dieser Besuch spielte eine wichtige Rolle bei der Gründung des deutschen Instituts[13], das dann jahrzehntelang kontinuierliche Beziehungen zum Gorki-Institut pflegte.

Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 war die SED-Führung bestrebt, die Intellektuellen auf lange Sicht an das Regime zu binden. 1954 wurde ein Kulturministerium geschaffen. Am Institut für Literatur sollten die Stipendien höher als an der Universität sein; während sich ein Student dort mit 180 Mark begnügen musste, bekam ein Student des neugegründeten Instituts 500 bis 600 Mark. In der Periode zwischen 1953 und der Verkündung des Bitterfelder Weges[14] 1958 war die Schaffung des Instituts ein Markstein der DDR-Kulturpolitik. Offiziell wurde diese Gründung von Walter Ulbricht selbst beim IV. Parteitag der SED im April 1954 vorgeschlagen.[15] Dabei sollte vom sowjetischen Vorbild nicht abgewichen werden. Kurella eignete sich durch seine Persönlichkeit und seine Biografie bestens als Institutsleiter: 1895 geboren und als Jugendlicher in der Wandervogelbewegung aktiv, war er „ein Spross des alten Bürgertums, früh zur marxistischen Bewegung in Deutschland gestoßen, und bald nach dem ersten Weltkrieg von Lenin, später von Stalin mit internationalen und konspirativen Aufgaben betraut worden. Während des zweiten Weltkrieges hatte er im ‚Nationalkomitee Freies Deutschland’ eine wichtige Rolle gespielt.“[16] Von Zeitzeugen wird er als gespaltene Persönlichkeit beschrieben – auch vor dem Hintergrund der Hinrichtung seines jüngeren Bruders Heinrich, der 1933 gleichfalls in die Sowjetunion emigriert und als „britischer Agent“ denunziert worden war. Am besten hat ihn Heinz Czechowski porträtiert: „Kurella war durch und durch Bürger, total gespalten, ein Bildungsbürger und ein linker Radikalinski […] Kurella stand mit einem Fuß in der bürgerlichen Kunst, bewunderte die großen bürgerlichen Autoren und beschimpfte sie gleichzeitig. Er hatte, soviel ich weiß, seine Picassographiksammlung im Keller versteckt und schimpfte öffentlich auf Picasso als dekadente Ruine, und förderte irgendwelchen obskuren Maler in Leipzig, von dem man heute nicht mehr spricht. Der Mann ist nicht auf einen Nenner zu bringen: er schwankte zwischen Proletkult und Thomas Mann“[17]. Im vorliegenden Dokument skizziert er auf beinahe autobiografische Weise den idealtypischen Schriftsteller, der sich in zwei entgegengesetzten Welten zu bewegen vermag: „Denn solche Umbruchs- oder Übergangszeiten erfordern vom Künstler eigentlich, dass er in zwei Welten wirklich zu Hause ist, oder wenigstens, dass er sich in der anderen, mit der er nicht durch Herkunft, Kindheitseindrücke, spontane Urteile und Gefühle verbunden ist, so weit auskennt, dass er sie wie eine eigene erleben kann.“[18]

Obwohl die Rede in ihrer Gesamtheit eher philosophisch und realitätsfern klingen mag und oft schwer als direkte politische Parteinahme zu verstehen ist, fehlt es nicht an Floskeln, die politisch eindeutig sind: anvisiert wird ein neuer „Typus von Künstler, der sich unterscheidet von dem, den die dekadente Kunsttheorie vertritt.“ So wird die These von der angeblichen „Dekadenz“ des Abendlandes vorgebracht und etwas weiter im Text mit dem Beispiel Gottfried Benns illustriert. Auch die Bemerkung fehlt nicht, dass „unsere sozialistische Revolution eine wahrhaft epochale ist.“ Verkündet wird der Glauben an den Fortschritt; für Kurella besteht kein Zweifel daran, dass „in der Epoche des großen geschichtlichen Umbruchs […] die sozialistische Gesellschaft an die Stelle der kapitalistischen tritt.“ Es gibt auch einen Verweis auf Johannes R. Becher, der 1954 zum ersten Kulturminister der DDR ernannt wurde und bei der Eröffnung anwesend war: „Johannes R. Becher weist mit Recht immer wieder auf das Fehlen einer solchen freien Bewegungsmöglichkeit im Stoff als auf eine der Hauptschwierigkeiten unserer künstlerischen Situation hin.“ Sehr geschickt beruft sich Kurella auf ihn, um das Projekt des Literaturinstituts mit Aussagen des Ministers zu untermauern, obwohl sich letzterer einige Jahre zuvor gegen eine solche Gründung ausgesprochen hatte.

Im zweiten Teil der hier angeführten Auszüge aus Kurellas Rede betont der Kulturpolitiker mehrmals die Besonderheit der deutschen Situation der 1950er-Jahre. Er erwähnt „diese unsere deutsche Wirklichkeit“, ohne näher zu erörtern, was mit „unsere“ gemeint ist; im letzten Absatz ist von „Deutschland“ die Rede. Der Begriff „Deutsche Demokratische Republik“ wird weder als Abkürzung noch im Ganzen verwendet; deutsche Kultur wird zu dieser Zeit als grenzübergreifend verstanden. Nach fünf Jahren DDR begreift sich der 1895 geborene Kurella vor allem noch als Mensch der Vorkriegszeit, als Revolutionär („wie wir sozialistischen Schriftsteller der älteren Generation“), der „die Revolution sozusagen zur Pflegemutter gehabt“ hat und „die Theorie der Revolution als Muttermilch trinken“ konnte – obwohl dies vom biografischen Standpunkt her falsch ist, da er erst in den 1920er-Jahren zum Marxismus bekehrt wurde.

Welche Schriftsteller führt er der jüngeren Generation als Beispiele vor? Er vermeidet sorgfältig jede Anspielung auf neuere westeuropäische, westdeutsche und amerikanische Autoren; die erwähnten Schriftsteller sind Klassiker (Hebbel, Goethe, Schiller, Lessing, Balzac). Die einzige Ausnahme bildet Thomas Mann, der damit gleichfalls den Rang eines Klassikers erlangt. Ansonsten nennt er einige Schriftsteller der jungen DDR (Erwin Strittmatter, Anna Seghers). Als abschreckendes Beispiel dient Gottfried Benn – in Erinnerung daran, dass er 1933 die Sektion für Dichtung der preußischen Akademie der Künste gleichgeschaltet hatte. Eingang in die Rede finden natürlich auch einige Namen sowjetischer Autoren wie Ehrenburg, Gorki oder Fedin.

Wenn sich „literarische Meisterschaft“ lehren lässt, kann dies in Kurellas Augen nur in einem engen nationalen und ideologischen Rahmen geschehen; richtungweisend sind für ihn „revolutionäre“, vorzugsweise in der DDR schaffende Dichter, die als einzige in der Lage seien, den „Kern“ der Gesellschaft zu erforschen und zu reflektieren.

Im Laufe der Zeit öffnete sich das Institut jedoch immer mehr nach außen und wurde zu einer Nische des Dialogs mit anderen Kulturen. In seiner Bibliothek hatte man Zugang zu sonst verbotenen Büchern. Die sogenannte „rein pathogene Erklärung des Talents“, die von Kurella angeprangert wurde, konnte nicht über Nacht und per Verordnung aus der DDR verschwinden; 1960 beschwerte sich der zweite Direktor des Instituts, Max Zimmering, über die Ideen der Studenten: „Sie hatten bohemienhafte Vorstellungen mitgebracht und fürchteten ‚geistige und künstlerische Bevormundung‘“; es herrschten „Unbehagen, Unbefriedigtsein, Zurückhaltung, Gleichgültigkeit und Skepsis.“[19] Später sollten die Wellen der staatlichen Kulturpolitik das Institut wieder erreichen: 1965 wurden nach dem XI. Plenum acht von 29 Studenten und Studentinnen exmatrikuliert, darunter Dieter Mucke, Rainer und Sarah Kirsch oder Helga Nowak. 1968 kam es erneut zu Exmatrikulationen. Ab den 1970er-Jahren schienen nach unruhigen Zeiten aber größtenteils Eintracht und Akzeptanz am Institut zu herrschen, sodass die Einrichtung nach der Wiedervereinigung zunächst als „staatsnah“ abgewickelt werden sollte.

Die Möglichkeit der „Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft“ wurde damals erneut zum Gegenstand der Diskussion; eine Mehrheit sprach sich schließlich dafür aus, die Ausbildungsstätte für ganz Deutschland zu erhalten.

Im deutschsprachigen Raum blieb das Leipziger Institut für Literatur lange ein einzigartiges Experiment. In englischsprachigen Ländern wurde (wenngleich erst Jahre später) ebenfalls die Möglichkeit erwogen, das literarische Schreiben im Rahmen einer Gruppe mit einem Mentor zu erlernen und zu trainieren. Dies war das Ziel eines 1970 von Malcolm Bradbury und Angus Wilson an der University of East Anglia ins Leben gerufenen Master-of-Arts-Studienganges. Inzwischen florieren Seminare und sogar Diplome für „creative writing“, wie zum Beispiel an der Sheffield Hallam University. Dieser Trend hat sich in den Jahren nach 2000 auch im deutschsprachigen Raum mit ähnlichen Neugründungen von Schreibschulen in Bielefeld (Diplom seit 1999), Wien (Diplom seit 2009, „Schule für Dichtung“ schon ab 1991) oder Biel (Diplom seit 2006) verstärkt. Ziel dieser Ausbildung ist aber vor allem eine auf technische Aspekte fokussierte professionelle Begleitung des Schreibens. Das ist weit entfernt von jenem direkten politischen Einfluss, wie er am Literaturinstitut in Leipzig ausgeübt wurde.



[1] Essay zur Quelle: Alfred Kurella: Von der Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft (1955).

[2] Diesen bekannten Ausdruck verwendet Kurella zu Beginn seiner Rede sogar ohne Anführungszeichen: Die Gesellschaft habe „nicht einmal den Versuch unternommen, ‘Technische Hochschulen’ für diese Ingenieure der menschlichen Seele einzurichten.“ (S.18).

[3] Herden, Werner, Die ‘preußische Dichterakademie’ 1926–1933, in: Wruck, Peter (Hg.), Literarisches Leben in Berlin 1871–1933, Berlin 1987, S. 151–193.

[4] Jens, Inge, Dichter zwischen rechts und links: Die Geschichte der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, dargestellt nach den Dokumenten, München 1971, S. 110.

[5] Ebd., S. 111.

[6] Ebd., S. 115.

[7] Ebd., S. 103.

[8] Seeliger, Rolf, Dichterschule – Ja oder nein? in: Publikation (1960), H. 4.

[9] Becher, Johannes R., Auf andere Art so große Hoffnung, Tagebuch 1950 – Eintragungen 1951, in: Gesammelte Werke, Band 12, Berlin u.a. 1969, S. 25.

[10] Hammer, Franz, Zeit der Bewährung: Ein Lebensbericht, Berlin 1984. Vgl. auch von Prittwitz, Gesine, Abkehr von der Trümmergeneration. Franz Hammers Arbeitskreis junger Autoren Thüringens 1947–1950, in: Scherpe, Klaus; Winkler, Lutz (Hgg.), Frühe DDR-Literatur, Berlin u.a. 1988, S. 101–119.

[11] Vgl. Jäger, Manfred, Kultur und Politik in der DDR, 1945–1990, Köln 1994, S. 34–37.

[12] Ebd., S. 72, „Nach dem Aufstand: Mehr Spielraum für die Intellektuellen.“

[13] Vgl. Zimmering, Max, Vorwort, in: Ruf in den Tag – Jahrbuch 1960 des Instituts für Literatur „Johannes R. Becher“, Leipzig 1960, insb. S. 11–12; Clarke, David, Parteischule oder Dichterschmiede ? The Institut für Literatur “Johannes R. Becher“ from its founding to its Abwicklung, in: German Studies Review, 19 (2006), H. 1, S. 88. Dieser Artikel weist eine ausführliche Quellenarbeit auf.

[14] Damit wurden Künstler und Schriftsteller aufgerufen, „in die Betriebe zu kommen, auf die Bauplätze des Sozialismus zu gehen und in Romanen, Erzählungen, Bühnenwerken und Gedichten das Heldentum der Arbeit zu feiern.“ Vgl. Jäger, Manfred, Kultur und Politik, S. 87ff.

[15] Vgl. Abusch, Alexander, Sinn und Zweck eines Instituts für Literatur. Rede zur Eröffnung des Instituts für Literatur am 30.9.1955 in Leipzig, in: Zwischenbericht, Notate und Bibliographie zum Institut für Literatur „Johannes R. Becher“, Leipzig 1980, S. 11. Vgl. auch Giordano, Ralph, Die Partei hat immer recht, Köln 1961, S. 150. R. Giordano war Mitglied der KPD in der Bundesrepublik und wurde 1956 von seiner Partei zum Studium an das Literaturinstitut delegiert.

[16] Giordano, Ralph, Die Partei, S. 86.

[17] Gespräch mit A.M. Pailhès vom 27. Mai 1988, Leipzig, Privatarchiv. Zu Kurella siehe auch: Loest, Erich, Durch die Erde ein Riss: Ein Lebenslauf, Hamburg, 1981, S. 256 und Mayer, Hans, Ein Deutscher auf Widerruf, Frankfurt am Main 1988, S. 130.

[18] Vgl. Auszüge dieser Rede als beigefügte Quelle: Kurella, Alfred, Von der Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft. Vortrag zur Eröffnung des Instituts für Literatur in Leipzig, in: Ruf in den Tag. Jahrbuch des Instituts für Literatur „Johannes R. Becher“, Leipzig 1960, S. 17–36.

[19] Zimmering, Max, Vorwort, in: Ruf in den Tag.



Literaturhinweise

  • Clarke, David, Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ und die Autorenausbildung in der DDR, in: Bender, Peter, Ohse, Marc-Dietrich; Tate, Dennis (Hgg.), Views from Abroad: Die DDR aus britischer Perspektive, Bielefeld 2007, S. 175–185.
  • Giessler, Günter, Das Literaturinstitut J. R. Becher und das kreative Schreiben, in: Gössmann, Wilhelm; Hollender, Christoph (Hgg.), Schreiben und Übersetzen, Tübingen 1994, S. 131–144.
  • Haslinger, Josef, „Greif zur Feder, Kumpel!“. Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ (1955–1990) in: Zeitschrift für Germanistik, 20 (2010), H. 3, S. 583–598.
  • Pailhès, Anne-Marie, Formation ou mise au pas des élites en RDA ? L’exemple de l’Institut de Littérature de Leipzig, in: Allemagne d’Aujourd’hui (2006), H. 177, S. 6–17.

Quelle zum Essay
Die Debatte um die Lehrbarkeit des Schriftstellerberufs in der DDR Alfred Kurellas Rede zur Eröffnung des Instituts für Literatur in Leipzig am 30. Juli 1955
( 2014 )
Zitation
Kurella, Alfred: Von der Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft (1955), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2014, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28514>.
Navigation
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)