Der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein. Eine Schweizer Initiative im frühen 20. Jahrhundert.

Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags ist der Bericht des französischen Generalkonsuls an seinen Außenminister über eine Diskussion in Zürich im Jahr 1904, die im Anschluss an einen Vortrag des Breslauer Wirtschaftsprofessors Julius Wolf über den Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein stattfand. Ich werde zeigen, dass bereits ein Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg Gedanken eines Mitteleuropa-Konzepts angesprochen wurden, dessen expansionistische Ziele auch zum Krieg mit Frankreich geführt haben.[...]

Der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein. Eine Schweizer Initiative im frühen 20. Jahrhundert[1]

Von Hubert Kiesewetter

Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags ist der Bericht des französischen Generalkonsuls an seinen Außenminister über eine Diskussion in Zürich im Jahr 1904, die im Anschluss an einen Vortrag des Breslauer Wirtschaftsprofessors Julius Wolf über den Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein[2]stattfand. Ich werde zeigen, dass bereits ein Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg Gedanken eines Mitteleuropa-Konzepts angesprochen wurden, dessen expansionistische Ziele auch zum Krieg mit Frankreich geführt haben. Ihre ursprüngliche Absicht war aber eher darauf gerichtet, eine Art europäischer Zollunion gegen den Protektionismus Russlands und der USA sowie gegen die Kolonialgroßmacht England zu verwirklichen.

Die politische und ökonomische Brisanz des Dokuments beruht auch auf den beteiligten Personen, die deshalb kurz biographisch vorgestellt werden, weil bis auf den französischen Außenminister allgemein wenig über sie bekannt ist.

Julius Wolf wurde am 20. April 1862 im südmährischen Brünn (heute Tschechien) geboren, war nach seinem Abitur zwei Jahre in der Anglo-Österreichischen Bank in Wien tätig und studierte dann Nationalökonomie in Wien, München und Tübingen. 1885 habilitierte er sich an der Universität Zürich und wurde dort 1889 ordentlicher Professor für Nationalökonomie, bevor er 1897 einen Ruf an die Universität Breslau erhielt. Am 21. Januar 1904 wurde unter seiner Leitung in Berlin der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein gegründet. Am 1. April 1913 erhielt Wolf den nationalökonomischen Lehrstuhl an der TH Berlin, wo er 1922 emeritiert wurde. Er starb am 1. Mai 1937 in Berlin.

Der Unternehmer und Politiker Eduard Sulzer-Ziegler aus Winterthur (29. September 1854-31. Januar 1913) war nach dem Studium der Rechtswissenschaft und Nationalökonomie seit 1887 in der von seinem Vater 1836 mitbegründeten Maschinenfabrik Gebrüder Sulzer tätig (ab 1910 Seniorchef). 1898 begann er mit einer eigens dafür gegründeten Baugesellschaft den Bau des Simplontunnels, der allerdings wegen verschiedener Schwierigkeiten erst 1906 für den Zugverkehr fertig gestellt wurde. Von 1880 bis 1902 gehörte er dem Winterthurer Stadtparlament an und war von 1892 bis 1902 auch Mitglied des Zürcher Kantonsrats. Im Jahr 1900 wurde er zum Nationalrat gewählt, dem er bis zu seinem Tod angehörte. Sein autoritärer und paternalistischer Unternehmerstil richtete sich gegen eine organisierte Arbeiterschaft und führte 1905 zur Gründung des Arbeitgeberverbandes Schweizer Maschinenindustrieller.

Théophile Delcassé (1852-1923) war zuerst Redakteur der von Léon Gambetta 1871 gegründeten Pariser Tageszeitung La République française und wurde 1894/95 französischer Kolonialminister und Befürworter eines europäischen Imperialismus. 1898 wurde er zum Außenminister im Quai D’Orsay ernannt und in dieser Funktion schloss er am 8. April 1904 das Kolonialabkommen mit Großbritannien. Während der Ersten Marokkokrise 1905, als Kaiser Wilhelm II. mit dem Sultan von Tanger über das Mitspracherecht des Deutschen Reiches konferierte, wurde Delcassé gestürzt. Von 1911 bis 1913 war er Marineminister im Kabinett von Joseph Caillaux und Raymond Poincaré, dann Botschafter in St. Petersburg und 1914/15 wieder Außenminister. Nachdem er wegen Auseinandersetzungen mit seinen Kabinettskollegen am 16. November 1919 sich endgültig von der Politik verabschiedete, starb er am 22. Februar 1923 in Nizza.

Der Generalkonsul Emile Jacquemin wohnte von 1896 bis 1906 in der Englischviertelstraße 24 in Zürich-Hottingen. Wegen seines diplomatischen Status´ sind wahrscheinlich keine Angaben zu seiner Person in die Einwohnerkontrolle der Stadt Zürich gelangt. Ein Schreiben der französischen Botschaft in Bern vom 5. März 1906 an den schweizerischen Bundesrat Ludwig Forrer teilt lapidar mit, dass Jacquemin abberufen und durch den neuen Generalkonsul Thiboust ersetzt wurde. Das Erstaunen, ja beinahe eine diplomatische Empörung, im Bericht von Jacquemin über den Vortrag von Julius Wolf beim Kaufmännischen Verein ist wohl damit zu erklären, dass er nicht wusste, dass Wolf nicht nur viele Jahre in Zürich verbracht hatte, sondern mit seinen Publikatio­nen und Aktivitäten Einfluss auf die schweizerische Wirtschafts- und Finanzpolitik ausgeübt hat.[3]

In seinem Vortrag vor dem Kaufmännischen Verein Zürich am 11. März 1904 ging Julius Wolf zuerst auf den Schutz wirtschaftlicher Interessen ein, die ein Verbindungsglied der mitteleuropäischen Staaten darstellen könnten. Der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein wolle keine europäische Zollunion – dies sei aus politischen und ökonomischen Gründen ein vollkommen unerfüllbares Vorhaben –, sondern Deutschland, Österreich und Ungarn sollten folgende Ziele gemeinsam anstreben:

1. Die öffentliche Meinung soll mit gemeinsam zu verwirklichenden wirtschaftlichen Vorhaben vertraut gemacht werden.

2. Jede Art von Propaganda einer Zollunion der europäischen oder mitteleuropäischen Staaten müsse vermieden werden.

3. Jedem Staat wird vollständige Freiheit in seiner Wirtschaftspolitik gewährt.

Die mitteleuropäischen Staaten könnten gemeinsame Regelungen vereinbaren auf den Gebieten der Handelsstatistiken, der Kontrolle des Ex- und Imports sowie bei Kapitaltransfers. Die Gesetzgebung bezüglich der Wechselgeschäfte, der Scheckzahlungen, des Güterversands etc. könnte vereinfacht und vereinheitlicht werden, wodurch die Sicherheit erhöht und die Kosten gesenkt würden. Dauerhafte Schiedsgerichte bzw. internationale Gerichtshöfe für die Lösung internationaler Schwierigkeiten, zum Beispiel bei der Wirtschaftspolitik – und besonders der Zollgesetzgebung – könnten internationale Vereinbarungen vorantreiben. Wenn Personen aus der Politik, der Industrie und der Landwirtschaft diesen Ideen zustimmten, dann könnten sich Deutschland, Österreich, Ungarn, die Schweiz, Italien, Belgien und Frankreich zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, die protektionistische oder prohibitionistische Zölle bekämpfen und reduzieren könnte. Es sei nämlich klar, dass wirtschaftspolitisch verbündete Staaten eher in der Lage wären, mit anderen Staaten bessere Bedingungen auszuhandeln als ein isolierter Staat.

Die Schweiz, so Julius Wolf, müsse an einer solchen Vereinigung auch deshalb interessiert sein, weil sie als kleines, aber hoch industrialisiertes Land auf den Export angewiesen sei. Er gibt dazu ein Beispiel: Wenn die USA auf Industrieprodukte 50 Prozent Einfuhrzoll legt, dann wäre die Schweiz mit ihren 15 Prozent Einfuhrzoll benachteiligt. Sein Vorschlag ist deshalb, den Zollsatz auf die Hälfte der Differenz zwischen amerikanischen und schweizerischen Zöllen festzulegen, d.h. 50 - 15 : 2 = 17,5 Prozent. Wenn dieses Verfahren durchgeführt werden könnte, dann würden auch andere Staaten beeinflusst werden können, ihre Zölle zu ermäßigen. Bei seinen Ausführungen vor Schweizer Geschäftsleuten wollte er jedes Gefühlsargument vermeiden und vor allem an ihr Interesse appellieren, den Gewinn, der aus der Mitgliedschaft beim Wirtschaftsverein erwächst, zu berechnen. Es sei an der Zeit, dass sich die Unternehmerschaft in der Schweiz von den Gefühlen der Sympathie und Antipathie, die so oft blind machten, befreie und sich als große Patrioten erwiese. Denn: „Der Wettbewerb wird jeden Tag härter, brutaler und unnachgiebiger.“

Die Erklärung von Eduard Sulzer-Ziegler beginnt mit dem Geständnis, dass er sich über die Zukunft der schweizerischen Industrie lange den Kopf zerbrochen habe und sich schwerste Sorgen mache.[4]„Die breite Öffentlichkeit hat bei uns nicht die geringste Vorstellung von der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung in den USA.“ Deshalb teile er vollkommen die Ansichten von Julius Wolf über die Gründung eines Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins, die vernünftig und ausführbar seien, und freue sich, dass solche Gedanken „aus diesem großartigen Land, Deutschland, stammen“. Die großartige wirtschaftliche Arbeitsteilung in Deutschland und den USA bedeuteten eine große Gefahr für die Schweiz, die darin bestünde, sich erbärmlich zu verzetteln. „Unter dem Vorwand, die nationale Arbeit zu schützen, herrschen überall die höchsten Zölle.“ Andererseits sei er überrascht, dass in schweizerischen Handels- und Industriekreisen diese Ideen mit einer „gewissen Kühlheit“ betrachtet würden. Es fehle an dem nötigen Vertrauen, dass eine so kleine Macht wie die Schweiz sich mit den großen Staaten messen könne. Sulzer-Ziegler plädierte dafür, einen solchen Versuch zu wagen, und wenn die Befürchtungen einträfen, sei es keineswegs zu spät, sich wieder aus dem Wirtschaftsverein zurückzuziehen. Man müsse sich bewusst sein, dass die Situation in der Schweiz ernst sei und deshalb sei es wichtig, wenn eine Gruppe von Persönlichkeiten diese Angelegenheit gemeinsam vorantreibe.

Nach Sulzer-Ziegler war der psychologische Zeitpunkt gekommen, um zu handeln, denn der Schweizer Zolltarif sei ein Wettbewerbszoll, der dazu diene, andere Staaten zu Zollermäßigungen zu veranlassen. Wenn dieses Ziel nicht erreicht würde, das heißt, die Schweizer Exporte aufgrund von Zollbarrieren reduziert werden müssten, dann sei dies für die gesamte Schweizer Wirtschaft fatal. Der Beitritt zum Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein sei schon deshalb gerechtfertigt, wenn man bedenke, dass ein Unternehmen ein Betrieb mit einer spezialisierten Produktion ist, der seine Produkte auf fremden Absatzmärkten verkaufen müsse. Und weil die ausländischen Erfolge eine Gefahr für die Schweiz darstellen, solle man sich den Wolfschen Vorschlägen anschließen, denn diese seien ein Schutz vor dem Kollaps. In diesem Zusammenhang äußerte Sulzer die Aufforderung an den deutschen Kaiser. Die wirtschaftliche Entwicklung eines so kleinen Landes wie der Schweiz könne nur dann vorangetrieben werden, wenn die Exporte aufrechterhalten werden könnten. Die Probleme in der schweizerischen Industrie seien offensichtlich, denn die Druckindustrie sei bereits fast vollkommen, die Färberei teilweise verschwunden. Sulzers Fazit: „Wenn wir für unsere Industrie nicht dauerhafte Absatzmärkte finden können, wird sie Stück für Stück zusammenbrechen, wie es schon teilweise geschehen ist.“

Julius Wolf hatte bereits 1901 in seiner Schrift Das Deutsche Reich und der Weltmarkt darauf hingewiesen, dass „unter den vielen Kämpfen, die das innere Leben Deutschlands bewegen, [...] heute ganz besonders heiß jener um eine Position des Zolltarifs“[5]ausgefochten werde. Und besonders das Verhältnis der europäischen Staaten zu den USA betrachtete er mit Sorge, denn „die amerikanische industrielle Konkurrenz ist erst in den Anfängen“.[6]Man könne diese Konkurrenz nicht mehr als unbedeutend, als quantité négligeable, ansehen, wie dies oft noch getan werde, denn die USA würden sich nicht nur europäischen Importen verschließen, sondern auf Drittmärkten mit europäischen Industrieprodukten in Wettbewerb treten. „Europa sei auf dem Wege, zwischen zwei Mühlsteine, die da Ostasien und Nordamerika heißen, zu geraten“.[7]

Um diese Gefahren zu reduzieren, schlug Wolf schon 1901 einen „Zusammenschluß wirtschaftspolitischer Art“[8]europäischer Staaten vor, damit einerseits der industriellen Konkurrenz der USA entgegengewirkt, anderseits die Abhängigkeit einiger mitteleuropäischer Staaten von Nahrungsmittelimporten verringert werden könne. Gleichzeitig formulierte er einen Einwand, der bis auf den heutigen Tag aktuell ist: „Daß die Staaten Europas sich über die Sätze des Tarifs einigen, der gegen Nordamerika zur Anwendung zu bringen wäre, daß sie überhaupt sämtlich die hier empfohlene Kampfstellung gegen Amerika nehmen, ist in hohem Grade unwahrscheinlich.“[9]Der erste Schritt zu einer wirtschaftspolitischen Annäherung hieße deshalb nicht Vereinigte Staaten von Europa, sondern Vereinigte Staaten von Mitteleuropa, wobei an eine Zollunion[10]nicht zu denken sei. „Mitteleuropa hat gemeinsame wirtschaftliche Interessen und hat sie heute mehr als je.“[11]Deutschlands Aufgabe sei es nicht, eine Weltwirtschaftspolitik zu betreiben, sondern mit anderen europäischen Staaten darauf hinzuarbeiten, dass auf wirtschaftspolitischen Feldern ein gemeinsames Vorgehen möglich wird.

Nach der Gründung des Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins (MWV) 1904 in Deutschland wurden auch in Ungarn, Österreich und Belgien solche Vereine gegründet, während die Planungen in der Schweiz und in Holland sich nicht realisieren ließen. Der MWV geriet immer stärker in den politischen Strudel eines expansionistisch ausgerichteten deutschen Mitteleuropakonzepts,[12]was Julius Wolf gerade vermeiden wollte, der die wirtschaftliche Integration Europas zu stärken versuchte. Obwohl auf Schutzzoll eingestellte Politiker, Interessenverbände und Unternehmen zu den Mitgliedern des MWVs zählten – der Höchststand der Mitgliederzahl wurde 1907 mit circa 700 Mitgliedern erreicht[13]–, fand der MWV nach dem Ersten Weltkrieg keine Fortsetzung. Und dass die Schweiz dem MWV nicht beitrat, begründete Wolf 1924 damit: Vor 1914 „gelang es bemerkenswerter Weise weder die Schweiz hereinzuziehen, die mit Deutschland allein im Bunde sich in Frankreich mißliebig zu machen fürchtete, noch – aus gleichen Gründen – Holland, noch natürlich Frankreich selbst“.[14]Er bestätigte damit indirekt die Bedenken, die der französische Generalkonsul Jacquemin 20 Jahre früher in seinem Bericht geäußert hatte.

 



[1] Essay zur Quelle Nr. 7.1, Mitteleuropäischer Wirtschaftsverein. Bericht des französischen Generalkonsuls in Zürich über eine Diskussion in der Schweiz 1904.

[2] Vgl. dazu ausführlich: Wolf, Julius (Hg.), Materialien betreffend den Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein (Veröffentlichungen des Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins 1), 2. Ausgabe, Berlin 1904, zuerst 1903 veröffentlicht.

[3] Vgl. z.B. Wolf, Julius,Die gegenwärtige Wirtschaftskrisis. Antrittsrede gehalten an der Universität Zürich im Sommersemester 1888, Tübingen 1888; Ders.,Zur Reform des Schweizerischen Notenbankwesens. Eine eidgenössische Giro-Stelle als Lösung, Zürich 1888, Ders.,Internationale Sozialpolitik. Ein Vortrag, gehalten zu Anfang Januar 1889 in der Zürcher statistisch-volkswirthschaftlichen Gesellschaft, Zürich 1889; Ders.,Börsenreform in der Schweiz. Gutachten, erstattet an das Justiz- und Polizeidepartment der Schweiz. Eidgenossenschaft, Zürich 1895; Ders.,Die Wohnungsfrage als Gegenstand der Sozialpolitik. Vortrag, gehalten im Rathaus zu Zürich am 5. Dezember 1895, Jena 1896.

[4] Eine gekürzte Wiedergabe von Sulzers Ausführungen, wie sie in der Neuen Zürcher Zeitung vom 17. März 1904 abgedruckt waren, findet sich unter dem Titel „Eine Schweizer Stimme über den Plan eines mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins“ in: Materialien betreffend den Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein (wie Anm. 2), 1. Ausgabe, S. 36-39, 2. Ausgabe, S. 55-58.

[5] Wolf, Julius,Das Deutsche Reich und der Weltmarkt, Jena 1901, S. 3.

[6] Ebd., S. 31.

[7] Ebd., S. 36. Dort heißt es weiter, Europa werde sich mancher „Quelle des Reichtums für seine Völker entrissen sehen“.

[8] Ebd., S. 45.

[9] Ebd., S. 47. Dabei sei „an ein Zusammengehen Englands mit den Staaten des europäischen Kontinents nicht zu denken. Wenigstens heute und morgen nicht!“ (S. 48).

[10] Ein solcher Plan sei eine „baare Utopie“. „Dagegen ist es allerdings wohl richtig, daß, wenn Staatengebiete wie Deutschland, Oesterreich-Ungarn, die Schweiz, späterhin vielleicht die Niederlande im Nordwesten und die Balkanstaaten im Südosten, abermals in einem späteren Zeitpunkt Italien, Frankreich, Belgien sich wirtschaftlich einander nähern wollen unter vorbehaltloser und uneingeschränkter Wahrung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts jedes einzelnen Landes in diesem Zusammenschluß, in dieser Verständigung über gemeinsame wirtschaftliche Interessen und Ziele jeder von den Staaten eine Stärkung seiner Position erfahren und Gewinnender sein muß.“ (S. 48f., Hervorhebung im Original).

[11] Ebd., S. 49.

[12] Stellvertretend für viele derartige Veröffentlichungen, die weit verbreitet wurden: Naumann, Friedrich, Mitteleuropa, Berlin 1915; Petermann, Erich, Julius Wolf. Zum 20. April 1932, in: Kardorff, Siegfried von; Schäffer, Hans; Briefs, Götz; Kroner, Hans (Hg.), Der internationale Kapitalismus und die Krise. Festschrift für Julius Wolf zum 20. April 1932, Stuttgart 1932, S. XIX, schrieb, dass Wolfs Mitteleuropa sich „fundamental von dem Mitteleuropa Naumanns“ unterschied. „Das Mitteleuropa Naumanns ist, ohne geradezu imperialistisch zu sein, reichlich antiwestlich“ (Hervorhebung im Original).

[13] Vgl. Fujise, Hiroshi,Der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein in Deutschland 1904-1918. Ein Versuch der wirtschaftlichen Integration von Europa, in: Schulz, Günther (Hg.), Von der Landwirtschaft zur Industrie. Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Friedrich-Wilhelm Henning zum 65. Geburtstag, Paderborn 1996, S. 152.

[14] Wolf, Julius, Selbstdarstellung, in: Meiner, Felix (Hg.), Die Volkswirtschaftslehre der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1924, S. 224. Dort heißt es: „Meine Absicht war, durch diese Konföderation etwa auch einem mitteleuropäischen Zollverein, zunächst zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn, die Wege zu bahnen, obschon ich öffentlich diesen Plan fürs erste verleugnen mußte, um ihm nicht gleich zu Beginn Steine in den Weg gewälzt zu sehen.“ (S. 223, Hervorhebung im
Original).

 


Literaturhinweise:
  • Fujise, Hiroshi, Der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein in Deutschland 1904-1918. Ein Versuch der wirtschaftlichen Integration von Europa, in: Schulz, Günther (Hg.), Von der Landwirtschaft zur Industrie. Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Friedrich-Wilhelm Henning zum 65. Geburtstag, Paderborn 1996, S. 149-161
  • Wolf, Julius (Hg.), Materialien betreffend den Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein (Veröffentlichungen des Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins 1), Berlin 1904, zuerst 1903 veröffentlicht
  • Ders., Selbstdarstellung, in: Meiner, Felix (Hg.), Die Volkswirtschaftslehre der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1924, S. 209-247

Mitteleuropäischer Wirtschaftsverein: Bericht des französischen Generalkonsuls in Zürich über eine Diskussion in der Schweiz (1904) [1]

Der französische Generalkonsul in Zürich an Herrn Delcassé, Minister der Auswärtigen Angelegenheiten.

Zürich, den 18. März 1904

Der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein und die Handelskammer Zürich.

Die bereits ziemlich alte Idee eines Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins ist kürzlich vor dem Kaufmännischen Verein Zürich in einer Weise wiederaufgenommen worden, die Beachtung verdient.

Herr Wolf, Professor in Breslau, hat sich für diese Sache eingesetzt, wobei er sich natürlich jeder politischen Stellungnahme enthielt. Es war schon ein ziemlich einzigartiger Anblick: daß einem deutschen Professor vor einer schweizerischen Handelskammer (die ihn selbst eingeladen hatte) bei einem solchen Thema so große Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Noch erstaunlicher erscheint allerdings die ausdrückliche Zustimmung von Herrn Sulzer, einem sehr bedeutenden Industriellen und Nationalrat von Winterthur, zu der vorgetragenen Idee und sein direkter Appell an den deutschen Kaiser: „Es wäre äußerst wünschenswert, daß die Ideen von Professor Wolf einen qualifizierten Fürsprecher fänden, zum Beispiel in der Person von Kaiser Wilhelm II.“

Diese Ausdrucksweise entspricht ganz zweifellos der Einstellung einer bestimmten Zahl von Großunternehmern, die von den Gefahren, wie sie die derzeitige Situation für die Zukunft der Schweizer Industrie darstellt, in Schrecken versetzt werden und bereit sind, alles zu unternehmen, um zu überleben.

Beiliegend finden Sie:

Eine Zusammenfassung des Vortrags von Herrn Wolf;

Eine fast vollständige Übersetzung der Ausführungen von Herrn Sulzer, die es nach meiner Meinung verdienen, aufmerksam studiert zu werden.

Ich lege ebenfalls einen Auszug des „Moniteur de la Fédération belge“ bei, der im „Schweizer Handelsblatt“ vom 16. Februar abgedruckt war und der dieselben Ideen vertritt, wobei es um das Projekt einer Zollunion zwischen Holland und Belgien geht.

Gezeichnet: Jacquemin



[1] Dieser Bericht des französischen Generalkonsuls in Zürich an den Außenminister in Paris ist einer Akte in den Archives Nationales (F12/7309) entnommen, in der neben den angegebenen Beilagen viele Konsulatsberichte sowie Stellungnahmen des Außenministers enthalten sind; Übersetzung aus dem Französischen von Hubert Kiesewetter und Dagmar Niemann.

 


 
Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.

L’Association économique de l’Europe Centrale : M. le Consul Général de France à Zurich à M. Delcassé, Ministre des Affaires Etrangères (1904) [1]

                                                                                           Zurich, le 18 mars 1904.

L’Association économique de l’Europe Centrale et la Chambre de Commerce de Zurich.

L’idée assez ancienne déjà, d’une Association économique que de l’Europe centrale vient d’être reprise récemment dans des conditions dignes d’attention devant la Société des commerçants de Zurich.

M. Wolf, professeur à Breslau, a soutenu cette cause, en se défendant, bien entendu, de toute idée politique. C’était déjà un spectacle assez singulier que de voir un professeur allemand écouté avec bienveillance par une Chambre de Commerce suisse (qui l’avait elle–même mandé), sur un pareil sujet. Plus curieuse encore paraît l’adhésion expresse formulée par M. Sulzer, très important industriel, Conseiller national de Winterthur, à la thèse soutenue, et son appel direct à l’Empereur d’Allemagne: „Il serait hautement à désirer que les idées du Professeur Wolf trouvassent un champion qualifié, par exemple, dans la personne de l’Empereur Guillaume.“

Ce langage correspond sans aucun doute à l’état d’esprit d’un certain nombre de grands producteurs, effrayés des dangers que présente la situation actuelle pour l’avenir de l’industrie suisse, et prêts à tout pour vivre.

Vous trouvez, ci-joint :

Un résumé de l’exposé de M. Wolf;

Une traduction presque complète des observations de M. Sulzer, qui méritent, à mon avis, d’être lues attentivement.

Dans le même ordre d’idées, je joins également un extrait du „Moniteur de la Fédération belge“ reproduit dans le „Bulletin commercial suisse“ du 16 février, sur un projet d’union douanière hollando-belge.

Signé: Jacquemin.



[1] Dieser Bericht des französischen Generalkonsuls in Zürich an den Außenminister in Paris ist einer Akte in den Archives Nationales (F12/7309) entnommen, in der neben den angegebenen Beilagen viele Konsulatsberichte sowie Stellungnahmen des Außenministers enthalten sind.

 


 
Zugehöriger Essay:
Hubert Kiesewetter: Der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein. Eine Schweizer Initiative im frühen 20. Jahrhundert

Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.

Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
Für das Themenportal verfasst von

Hubert Kiesewetter

( 2008 )
Zitation
Hubert Kiesewetter, Der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein. Eine Schweizer Initiative im frühen 20. Jahrhundert, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2008, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1335>.
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