Wie europäisch ist die Geschichte Afrikas? Das Journal of African History (1960)

Das Titelblatt des 1960 gegründeten Journal of African History aus dem Jahr 1960 soll im Folgenden als Dokument der europäisch-afrikanischen Beziehungsgeschichte und der Geschichte der Historiographie interpretiert werden. Unterhalb des Namens der Zeitschrift und einer afrikanisch anmutenden Vignette werden im Titel die beiden Herausgeber Roland Oliver und John Fage von der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS) genannt. Die Vignette greift aber keine Motive der Zulu oder der Asante auf, sondern dürfte eine Erfindung des Verlags sein und über die Symmetrie das geordnete, ‚zivilisierte‘ Afrika zu symbolisieren versuchen. Auf der ersten Seite folgt die Liste mit den Namen und Institutionszugehörigkeit der Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats, die an Lehr- und Forschungseinrichtungen in Witwatersrand, Livingstone, Wisconsin, Ibadan, Paris, Rabat, Cambridge, Oxford, Dakar und Brüssel tätig und mit einer Ausnahme Absolventen europäischer Hochschulen waren.

Wie europäisch ist die Geschichte Afrikas? Das Journal of African History (1960)

Von Anne Friedrichs

Das Titelblatt des 1960 gegründeten Journal of African History aus dem Jahr 1960[1] soll im Folgenden als Dokument der europäisch-afrikanischen Beziehungsgeschichte und der Geschichte der Historiographie interpretiert werden. Unterhalb des Namens der Zeitschrift und einer afrikanisch anmutenden Vignette werden im Titel die beiden Herausgeber Roland Oliver und John Fage von der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS) genannt. Die Vignette greift aber keine Motive der Zulu oder der Asante auf, sondern dürfte eine Erfindung des Verlags sein und über die Symmetrie das geordnete, ‚zivilisierte‘ Afrika zu symbolisieren versuchen. Auf der ersten Seite folgt die Liste mit den Namen und Institutionszugehörigkeit der Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats, die an Lehr- und Forschungseinrichtungen in Witwatersrand, Livingstone, Wisconsin, Ibadan, Paris, Rabat, Cambridge, Oxford, Dakar und Brüssel tätig und mit einer Ausnahme Absolventen europäischer Hochschulen waren.

Afrika war das Interessengebiet, nicht die gemeinsame Herkunftsregion dieser Gelehrten, die die afrikanische Geschichte mithilfe der Zeitschrift gegen erheblich wissenschaftliche und politische Widerstände an europäischen und amerikanischen Universitäten etablierten. Bis auf Onwuka Dike handelt es sich bei ihnen um Briten, einen Belgier, zwei Franzosen und einen Amerikaner. Damit wird suggeriert, dass die Afrikanische Geschichte, die mit dem Journal of African History erstmals ein eigenständiges geschichtswissenschaftliches Forum erhielt, überwiegend durch Nichtafrikaner aus den (zerbrechenden) kolonialen Imperien begründet wird und nicht auf gemeinsame Anstrengungen von Afrikanern und Europäern zurückgeht. Die Neuartigkeit des Journals hätte demzufolge darin bestanden, dass Historiker unter dem Titel „African History“ damals innovative Themen, wie die Frühgeschichte der Region, die Volksgeschichte, die Entwicklung afrikanischer Königreiche, Methoden zur Erhebung mündlicher Überlieferungen oder die kritischen Reflexion von Forschungstraditionen zu Afrika, als eigenständiges Feld behandelten und einen besonderen Fachbereich an Historischen Seminaren begründeten. Fortan sollten unter ‚afrikanischer Geschichte‘ nicht mehr allein die Leistungen britischer Administratoren, französischer Missionare und belgischer Handelsunternehmungen in der akademischen Historiographie betrachtet werden, sondern auch die Geschichte der ansässigen Bevölkerung.

Die Tendenz, Afrika und den Afrikanern einen eigenen und besonderen Platz in der Geschichte zuzuweisen, hatte damals schon eine längere Tradition. 1916 hatte der nordamerikanische Historiker Carter G. Woodson das Journal of Negro History gegründet, das sich hauptsächlich der Geschichte der schwarzen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten widmete. Ähnlich wie andere, meist kulturelle, literarische und politische Journale, war diese Zeitschrift nicht in das Universitäts- und Wissenschaftssystem integriert. Träger war vielmehr ein privater Verein. Auch hatten einzelne Vertreter anderer Disziplinen, wie der Geographie oder der Ethnologie, Lehrer sowie Privatpersonen vielfältige und widersprüchliche Geschichten Afrikas verfasst und vermittelt. Die Gründung des Journal for African History bedeutete nun aber, dass die Geschichte der Afrikaner in den 1960er Jahren zum Gegenstand der historischen Lehre und Forschung an Universitäten wurde, an denen es noch zwanzig Jahre zuvor unmöglich gewesen war, Afrika als autonome Region mit eigener Geschichte jenseits von europäischen Aktivitäten zu behandeln.

Die Institutionalisierung einer neuen afrikanischen Geschichte in den Universitäten erfolgte im Weitesten im Gefolge der weltweiten politischen Dekolonisation, die ab 1956/57 mit der Unabhängigkeitserklärung Tunesiens, Marokkos und Ghanas auch Afrika erfasste. Seit dem Zweiten Weltkrieg hatten die Imperialmächte akademische Einrichtungen in Afrika gegründet und zu Universitäten ausgebaut. Obschon diese anfangs noch über begrenzte Prüfungsrechte verfügten und ihr Personal aus Absolventen der Universitäten in den imperialen Zentren rekrutierten, entfalteten sie eine eigene Dynamik. Auch in den imperialen Zentren entstanden die ersten Dozenturen für afrikanische Geschichte. Doch richtete man erst in den 1960er Jahren neue Lehrstühle und Institute für die Erforschung der Entwicklungen in den ehemaligen und gegenwärtigen Kolonien ein. Das ermöglichte den Neuerern, disziplinäre Konventionen und akademische Traditionen aufzubrechen und neue Zugänge zur Geschichte zu eröffnen.

Aufzubrechen war dabei die Auffassung, dass Afrikaner keine „Geschichte“ haben können, weil afrikanische Gesellschaften das Wissen über die Vergangenheit größtenteils nicht in verschriftlichter Form weitergegeben sondern Traditionen meist mündlich überliefert hätten, womit sie nicht jenem Überlieferungsmodus nachkamen, auf den sich professionelle Historiker lange Zeit fast ausschließlich bezogen. Da die Verfahren und Kriterien der damals üblichen europäischen Historiographie nicht auf die mündliche Überlieferung und materielle Artefakte angewendet wurden, erschien Afrika den damaligen professionellen Historikern in den imperialen Zentren als geschichtslos. Geschichtsdarstellungen, die von afrikanischen Lehrern, Pfarrern, Journalisten oder Rechtsanwälten, d.h. nicht-professionellen Historikern, verfasst wurden, wurden Wissenschaftlichkeit und akademische Dignität abgesprochen. Damit wurden auch Ansätze einer autochtonen modernen afrikanischen Geschichtsschreibung übergangen.

Die Geschichtswissenschaft an europäischen Universitäten konzentrierte sich bis dahin auf die Vergangenheit der eigenen Nation, der Nachbarstaaten und anderer ‚moderner‘ Gesellschaften. In der Historiographie der europäischen Imperien geriet Afrika insofern in das Blickfeld, als dort Interessen der eigenen Nation oder der Europäer auf dem Spiel gestanden hatten. Die etablierte Historiographie reflektierte und begründete imperiale und zivilisatorische Herrschaftsansprüche – nicht gegenüber der afrikanischen Bevölkerung, sondern vielfach vor allem gegenüber der eigenen Gesellschaft und den europäischen Nachbarn. Britische Historiker etwa hoben hervor, dass sich die seit 1815 bestehende Aufteilung der kolonialen Territorien zwischen Großbritannien und Frankreich als solide und dauerhafte Grundlage des Friedens erwiesen habe. Vor diesem Hintergrund stellten die späteren imperialen Ambitionen des Deutschen Kaiserreichs eine bewährte Ordnung in Frage.

Indem die Geschichte der afrikanischen Bevölkerung vernachlässigt wurde, erschien die imperiale Herrschaft als legitim. Seit dem 19. Jahrhundert lautete die Regel, dass nur Nationalstaaten und Imperialmächte, die über eine längere politische Vergangenheit und eine Gemeinschaft stiftende Geschichtswissenschaft verfügen, legitime und dauerhafte Ansprüche auf ein Territorium haben. In Europa selbst wurde seit der Französischen Revolution das Recht auf souveräne Nationalstaatlichkeit von immer mehr ‚Nationen‘ beansprucht und mithilfe einer wissenschaftlichen Nationalhistoriographie unterstrichen. Während in Europa 1918 das Zeitalter der Imperien (bis auf Russland bzw. die Sowjetunion) im Wesentlichen beendet war, konnten die europäischen Imperialmächte bis in die 1960er Jahre hinein afrikanischen Völkern das Recht auf den eigenen Nationalstaat und eine eigene Geschichte verweigern. An den ersten Hochschulen in Afrika lehrte daher das europäische Personal nicht ‚afrikanische Geschichte‘, sondern die Geschichte der jeweiligen Kolonialmacht. Erst seit den frühen 1950er Jahre griffen einige Dozenten die Forderung auf, afrikanische Studierende auch in ‚afrikanischer Geschichte‘ zu unterrichten. Nachdem ihnen das zögernd zugestanden worden war, setzte sich schließlich das Fach ‚afrikanische Geschichte‘ selbst in den europäischen Universitäten als fakultatives Studienfach und besonderes Forschungsgebiet durch.

In den 1960er und 1970er Jahren sowie in den jüngern Debatten über Eurozentrismus und Postkolonialismus wurde wiederholt die Frage gestellt, wie ‚afrikanisch‘ die neue afrikanische Geschichte sein könne, wenn sie nach dem Muster der ‚europäischen‘ Historiographie konzipiert wird und das institutionalisierte Forschungsfeld in hohem Maße den disziplinären und professionellen Regeln unterliege, die seit dem 19. Jahrhundert in Europa entwickelt und standardisiert wurden. Diese Polarisierung könnte künftig aufgrund des Ausbaus der Kooperationsbeziehungen und im Rahmen neuer interkultureller, vergleichender, transfer- und verflechtungsgeschichtlicher Ansätze in den europäischen und amerikanischen Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften ein Stück weit verblassen. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass afrikanische Historiker in der Erforschung und Darstellung ihrer Vergangenheit nicht einseitig auf dem ursprünglich ‚europäischen‘, in den jungen Nationalstaaten von ihnen dann aber auch ‚afrikanisierten‘ Nationalgeschichtsparadigma insistieren. In Europa hat sich die Afrikanische Geschichte seit den 1960er Jahren weiter verbreitet, so dass es heute in zahlreichen Universitäten möglich ist, die Vergangenheit afrikanischer Bevölkerungsgruppen, Wirtschaftsformen und Staaten zu studieren und auch jenseits der klassischen Kolonialgeschichte zu verfolgen, wie Afrikanern ihre Geschichte nicht nur erlitten, sondern – in verschiedenen Regionen der Welt – aktiv gestaltet haben und gestalten. Die Gründung des Journal of African History war ein Schritt in diese Richtung.



[1] Essay zur Quelle: Journal of African History 1 (1960), no. 1, Titelbild und Inhaltsverzeichnis.



Literaturhinweise

  • Dulucq, Sophie, Aux origines de l’histoire de l’Afrique: Historiographie coloniale et réseaux de savoir en France et dans les colonies françaises d’Afrique subsaharienne (de la fin du 19ème siècle aux indépendances), Habilitation à diriger des recherches, Université Paris 7 Denis-Diderot 2005.
  • Eckert, Andreas, Dekolonisierung der Geschichte? Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Afrika nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Middell, Matthias; Lingelbach, Gabriele; Hadler, Frank (Hgg.), Historische Institute im internationalen Vergleich, Leipzig 2001, S. 451–476.
  • Fyfe, Christopher (Hg.), African Studies Since 1945. A Tribute to Basil Davidson, London 1976.
  • Jewsiewicki, Bogumil; Newbury, David (Hgg.), African Historiographies. What History for which Africa?, Beverly Hills 1986.

Journal of African History 1 (1960), no. 1, Titelbild und Inhaltsverzeichnis

[…]


Für das Themenportal verfasst von

Anne Friedrichs

( 2009 )
Zitation
Anne Friedrichs, Wie europäisch ist die Geschichte Afrikas? Das Journal of African History (1960), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2009, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1476>.
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