"That Most Terrible Weapon". Hungerstreik und Zwangsernährung in der europäischen Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts

Am 9. Juli 1909 verbreitete sich eine Nachricht aus dem berüchtigten Londoner Frauengefängnis Holloway weit über die britischen Inseln hinaus. Nach 91 Stunden im Hungerstreik wurde Marion Wallace Dunlop, die Anerkennung als politische Gefangene einforderte, vorzeitig entlassen. Ihre einmonatige Haftstrafe wegen unerlaubten Plakatierens endete bereits nach fünf Tagen. In Votes for Women, der Wochenzeitung der militantesten Organisation der britischen Frauenbewegung, Women’s Social and Political Union (WSPU), hieß es: „At last the Authorities had to give way. [...]

„That Most Terrible Weapon“. Hungerstreik und Zwangsernährung in der europäischen Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts[1]

Von Maximilian Buschmann

Am 9. Juli 1909 verbreitete sich eine Nachricht aus dem berüchtigten Londoner Frauengefängnis Holloway weit über die britischen Inseln hinaus. Nach 91 Stunden im Hungerstreik wurde Marion Wallace Dunlop, die Anerkennung als politische Gefangene einforderte, vorzeitig entlassen. Ihre einmonatige Haftstrafe wegen unerlaubten Plakatierens endete bereits nach fünf Tagen.[2] In Votes for Women, der Wochenzeitung der militantesten Organisation der britischen Frauenbewegung,Women’s Social and Political Union(WSPU), hieß es: „At last the Authorities had to give way. They saw that Miss Wallace Dunlop’s spirit was strong enough to carry out her determination even to a fatal conclusion […], and they knew that such an action on their part would bring down upon them the hatred and scorn of the people of the country.”[3] Noch im gleichen Jahr traten zahlreiche weitere Suffragetten, die aufgrund ihres entschlossenen Engagements für das Frauenwahlrecht in Großbritannien regelmäßig mit Haftstrafen konfrontiert waren, in Hungerstreik.[4]

Diese Praxis wurde in Westeuropa als eine neue Form des Protests wahrgenommen. Über weite Strecken des 19. Jahrhunderts waren Hungerstreiks nicht als politisches Druckmittel bekannt. Doch mit der Ausdifferenzierung und dem Wandel der Praktiken, Darstellungen und Wahrnehmungsweisen von Nahrungsverweigerungen traten Hungerstreiks als eigenständige Form hervor. Die Hungerstreikkampagne der Suffragetten war eine der bedeutendsten Episoden dieser Geschichte. Zahlreiche Narrative und Diskursstränge, die sich hier entfalteten, prägten die Anwendung und öffentliche Diskussion von Hungerstreiks noch auf Jahrzehnte maßgeblich. Denn nur wenige Jahre nach Marion Wallace Dunlops Hungerstreik hatte „that most terrible weapon”[5] eine europaweite, ja sogar globale Verbreitung erfahren. Der folgende Beitrag skizziert diese Entwicklung und zeigt die prägenden Faktoren für die Etablierung und Verbreitung von Hungerstreiks im frühen 20. Jahrhundert auf.[6]

Der Hungerstreik, als Begriff und Konzept, begegnete aufmerksamen Beobachterinnen und Beobachtern des Zeitgeschehens des späten 19. Jahrhunderts erstmals in Berichten über politische Gefangene im russischen Zarenreich. Es waren die sozialrevolutionären Narodniki, die aus Protest gegen Haftbedingungen die Nahrungsaufnahme verweigerten.[7] Vor allem die Vorträge, Artikel und der 1891 als Monografie erschienene Reisebericht des amerikanischen Journalisten George Kennan machten Hungerstreiks außerhalb Russlands bekannt.[8] Kennan, der das russische Golodovka als hunger strike ins Englische übersetzte[9], lieferte auch eine Definition der Protestform: „A ‘hunger strike’ […] means organized voluntary self-starvation, undertaken by the prisoners as a last desperate protest against intolerable treatment, and continued until the prison authorities yield to the strikers’ demands, or the strikers themselves break down or die under the self-imposed torture.“[10]

Sowohl Kennan als auch russische Aktivisten im westeuropäischen Exil, so beispielsweise Sergei Stepniak-Kravchinsky und Peter Kropotkin, verloren nur wenige Worte über die militanten Aktivitäten der Narodniki, um sie für ihr vornehmlich liberales Publikum in ein positiveres Licht zu stellen. Allzu augenfällig wäre ihre Nähe zum Anarchismus gewesen, der seinerzeit in Westeuropa und den USA gefürchtet war.[11] Vielmehr präsentierten sie die Hungerstreikenden als Helden im Kampf gegen grausame Praktiken einer rückständigen Autokratie. Die anklagenden Berichte Kennans, der vor seiner Russlandreise noch den Zaren verteidigt hatte, lösten eine publizistische Debatte aus und hatten großen Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung über das Zarenreich.[12] Die aufsehenerregenden Hungerstreiks zogen dabei auch das Interesse der Tageszeitungen auf sich.[13]

Als Marion Wallace Dunlop 1909 ihren ersten Hungerstreik beging, stellte Votes for Women einen direkten Bezug zu den politischen Gefangenen Russlands her. Während die liberale britische Presse die russischen Revolutionäre bewundert habe, würde sie über die Suffragetten schweigen.[14] Ihre Haftbedingungen beschrieben sie mit den Worten: „[T]he treatment […] is inferior in some respects to that which Russian political prisoners are receiving to-day.“[15] Die politische Repression im Zarenreich wurde in der Folge zu einem stets wiederkehrenden Motiv in den Kampagnen der Suffragetten. Anlässlich des Besuchs des russischen Zaren in London titelte Votes for Women beispielsweise mit einer Karikatur des „britischen Zaren“, dem liberalen Premierminister Herbert Henry Asquith.[16] Und wenngleich ihre Hungerstreiks, wie gemeinhin die Militanz der WSPU, viele Kritikerinnen und Kritiker auch aus der Frauenbewegung fanden, machten die Suffragetten damit doch öffentlichkeitswirksam auf ihre politischen Ziele und auf die Repression, der sie begegneten, aufmerksam – vielleicht gerade weil ihre Praktiken so umstritten waren und auch die Kritik an ihnen den Resonanzraum für ihre Stimmen vergrößerte.

Dass sie ihre Nahrungsverweigerungen als nachvollziehbare und rationale Protestform verständlich machen konnten, war auch auf kulturelle und soziale Transformationen im 19. Jahrhundert zurückzuführen. Neue Drucktechniken, gesunkene Druckkosten, die gestiegene Alphabetisierungsrate und die Dynamisierung des Pressewesens erweiterten das Koordinatensystem des öffentlichen Raums.[17] Dies erhöhte die gesellschaftliche Reichweite politischer Kampagnen, die mithilfe von transnationalen Netzwerken mitunter auch an der internationalen Reputation von Staaten kratzen konnten.

Wissenschaft und Journalismus zeichneten darüber hinaus ein neues Bild des Hungers. Lange als Ausdruck göttlicher Strafe und moralischen Fehlverhaltens angesehen, sei Hunger, so James Vernon, als ein soziales und politisches Problem hervorgetreten. Der Hungertod sei zum Sinnbild von Grausamkeit und Unmenschlichkeit geworden.[18] Allgemein war die Gewährleistung der Ernährung, des Überlebens und der Sicherheit der Bevölkerung zunehmend zur zentralen Aufgabe moderner Staaten geworden.[19] Aus diesem Grund wurde auch der Suizid „eines der ersten Rätsel einer Gesellschaft, in der die politische Macht eben die Verwaltung des Lebens übernommen hatte.“[20] Denn während das religiöse Suizidverbot an Bedeutung verlor und Denker wie Nietzsche eine Neubewertung der Selbsttötung vornahmen, verstärkte sich auch die Beschäftigung mit dem Suizid als sozialem Phänomen. Maßnahmen zur dessen Verhinderung, nicht zuletzt in Einrichtungen staatlicher Obhut wie Psychiatrien und Gefängnissen, wurden gesucht und erprobt.[21]

Dazu zählte auch die künstliche Ernährung, bei der mittels eines Schlauchs flüssige Nahrung, zumeist auf Basis von Milch und Ei, durch Nase oder Mund eingeflößt wurde. Ihre Anwendung und Instrumente wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts, zu einer Zeit also, in der die Medizin auch Anorexia nervosa als psychische Störung ausmachte[22], diskutiert und weiterentwickelt.[23] Detailreich schilderte die Fachpresse, wie die zu ernährende Person fixiert werden müsse und der Schlauch gegebenenfalls gegen ihren Willen in den Mund oder die Nasenlöcher eingeführt werden könne.[24]

Obwohl der Zwangscharakter kaum zu übersehen war, rief die Praxis der künstlichen Ernährung jedoch keine öffentliche Entrüstung hervor. Die Nahrungsaufnahme zu verweigern wurde als pathologisches Verhalten und die künstliche Ernährung als medizinische Notwendigkeit eingestuft. Noch 1892 wurde das Verhalten der Sozialistin Agnes Wabnitz auch im sozialdemokratischen Vorwärts als Ausdruck einer „nervösen Überreizung“ interpretiert.[25] Wabnitz hatte nach eigenen Angaben wegen eines Versprechens an ihre Mutter und aus Protest gegen das Gefängnis zunächst im Untersuchungsgefängnis Alt-Moabit, später in der Charité und der Psychiatrie Dalldorf die Nahrung verweigert und wurde zwangsernährt.

Im Zuge der Transformation „moderner Hungerregime“ (Vernon) um 1900 erlangten jedoch Formen des freiwilligen Nahrungsverzichts neue Popularität. Sie reichten von Diäten und Fastenpraktiken bis hin zum Phänomen der Hungerkünstler, die ihre abgemagerten Körper als öffentliches Schauspiel inszenierten.[26] Ihr Hungern, nicht als Folge materieller Not, sondern als Praxis des Verzichts, symbolisierte dem urbanen Publikum in europäischen und amerikanischen Metropolen Ausdauer, Entschlossenheit und Stärke. Schilderungen jenseits der psychiatrisch-medizinischen Veröffentlichungen häuften sich und beschrieben Praktiken des Nahrungsverzichts in allgemeinverständlicher Sprache. Wenngleich diese Praktiken durchaus als irritierend und außergewöhnlich erachtet worden waren, so konnten Beobachterinnen und Beobachter doch eine spezifische, Umständen und Intentionen entsprechende Rationalität in den Verhaltensweisen erkennen.

Es ist meines Erachtens daher plausibel, dass diese veränderte diskursive Konstellation den Weg für politische Kritik an der Zwangsernährung ebnete. Als der britische Staat ab September 1909 damit begann, die hungerstreikenden Suffragetten gegen deren Willen künstlich zu ernähren, entstand eine langandauernde Kontroverse in Politik und Presse. Darüber hinaus kamen auch unter Medizinerinnen und Medizinern erste, wenngleich leise Zweifel über ihre ethische Zulässigkeit auf – auch weil Zwangsernährung für die Ausführenden selbst eine Belastung darstellte.[27] Die Fragen der systematischen Differenzierung zwischen hungerstreikenden Gefangenen und der „Nahrungsverweigerung psychisch wirklich Defekter“[28] sowie den unterschiedlichen Anforderungen bezüglich ihrer medizinischen Behandlung wurden jahrzehntelang diskutiert. Dies führte schließlich 1975 zur Tokioter Erklärung des Weltärztebundes, in der die Zwangsernährung Hungerstreikender abgelehnt wurde.[29]

Wegweisend hierfür war die Kampagne der Suffragetten ab 1910, die sowohl textlich als auch ikonografisch auf den Diskurs der Folterkritik zurückgriff.[30] Einflussreiche Motive und Narrative waren bereits von den Initiativen zur Abschaffung der Folter und der Sklaverei etabliert worden. Sie stellten seit dem späten 18. Jahrhundert das körperliche Leiden von Individuen in den Mittelpunkt ihrer emphatischen Erzählungen und prägten somit das humanitäre Empfinden vor allem bürgerlicher Schichten.[31] Auch die Suffragetten schilderten detailreich ihre Erfahrungen der Zwangsernährung und die Schmerzen und Ohnmachtsgefühle, die sie auslösten. Lady Constance Lytton berichtete von ihren Erlebnissen: „[I]t was a living nightmare of pain, horror, and revolting degradation. The sensation is of being strangled, suffocated by the thrust down of the large rubber tube […]. The anguish and effort of retching while the tube is forcibly pressed back into the stomach and the natural writhings of the body restrained defy description. There is also a feeling of complete helplessness, as of an animal in a trap”.[32]

Die im Januar 1910 während der britischen Parlamentswahlen erschienene Ausgabe von Votes for Women widmete sich vornehmlich der Zwangsernährung der Hungerstreikenden im Gefängnis. Das Titelblatt zierte eine fast halbseitige Zeichnung des Karikaturisten Alfred Pearse[33] (unter dem Pseudonym „A. Patriot“), über der in großen Lettern der Titel „The Government’s Methods of Barbarism“ stand. Die Karikatur zeigt die Zwangsernährung einer Frau: von vier Wärterinnen an Armen und Beinen festgehalten und am Kopf von einem Mann fixiert, wird ihr mittels Trichter und Schlauch von einem weiteren Mann Nährlösung durch die Nasenlöcher eingeflößt.[34] Die Zeichnung bildete auch die Grundlage für ein farbiges Plakat, das in verschiedenen Größen bestellt werden konnte, um im Stadtbild verbreitet zu werden. Auch beim Plakat wurde die Botschaft des Bildes durch Text verstärkt: „The Modern Inquisition. Treatment of Political Prisoners Under a Liberal Government“. Die Aufforderung an das Publikum war klar benannt: „Electors! Put a stop to this Torture by voting against the Prime Minister“.[35]

Ebenso wie die Vergleiche mit dem russischen Zarenreich zielte diese Parallelstellung von Folter und Liberalismus auf die amtierende Regierung ab, die doch behauptete, fortschrittlich und modern zu sein. Mit dem Folternarrativ kratzten die Suffragetten an der Souveränität der liberalen Regierung Asquiths, die sich zunächst auf die Position zurückzog, die Zwangsernährung sei eine medizinische Notwendigkeit zur Lebensrettung „hysterischer Frauen“[36]. Zugleich bezeugten die Leidensberichte und die mitunter bleibenden Spuren, die Hungerstreik und Zwangsernährung am Körper hinterließen, die Opferbereitschaft der Hungerstreikenden. In den Augen ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer wurden sie so zu Märtyrerinnen, deren Qualen ihre Glaubwürdigkeit zusätzlich hervorhoben.

Die Hungerstreiks der Suffragetten irritierten und unterliefen dabei dominierende normative Vorstellungen von Weiblichkeit. Denn dass die Suffragetten explizit die Erfahrungen weiblicher Körper in den Vordergrund rückten, ist nicht auf einen humanitären Appell zu reduzieren. Vielmehr sollten die demonstrierte Leidensfähigkeit und Opferbereitschaft untermauern, dass Frauen jene Voraussetzungen für das Wahlrecht besaßen,[37] die ihnen in einer patriarchalen Gesellschaft immer wieder abgesprochen wurden. Darauf verweisen nicht zuletzt die Herabwürdigung der Suffragetten als „Hysterikerinnen“ und die gegenläufigen Interpretationen und Schmähungen, die Gegnerinnen und Gegnern der WSPU angesichts der Bilder der Zwangsernährung hervorbrachten.[38]

Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, zu dem die WSPU ihre Kampagnen für das Frauenwahlrecht aussetzte, stand die britische Regierung in dieser Frage in der Kritik. Auch der 1913 erlassene sogenannte „Cat and Mouse Act“, der es erlaubte die Hungerstreikenden bei schlechtem Gesundheitszustand aus dem Gefängnis zu entlassen, bei gesundheitlicher Besserung jedoch erneut zu inhaftieren, stieß auf Ablehnung und konnte zudem als Schwäche der Regierung ausgelegt werden.[39]

Die Wirkung der Hungerstreiks der Suffragetten blieb dabei nicht auf Großbritannien begrenzt, denn sie machten die Praxis innerhalb Europas und darüber hinaus bekannt. Die Worte Alexander Berkmans, einem der prominentesten Köpfe der anarchistischen Bewegung, zeugen von der Faszination, die sie auf radikale politische Bewegungen unterschiedlichster Couleur ausübten: „The militant women of Europe have made the powerful government of Great Britain the laughing stock of the world. […] They have demonstrated that the determination and will power of the strongest personality […] is more potent than the strongest government.”[40]

Europa war seit 1914 von Krieg, Revolutionen, antikolonialen und nationalistischen Erhebungen geprägt – und die Regierungen Deutschlands und Großbritanniens verhängten teilweise Ausnahme- und Belagerungszustände, schränkten Freiheitsrechte ein und verschärften die politische Repression.[41] Dagegen schienen Hungerstreiks eine geeignete Protesthandlung und Widerstandsstrategie zu sein, denn sie trugen die politische Auseinandersetzung hinter die Mauern der Gefängnisse und demonstrierten die Entschlossenheit, sich keiner noch so drastischen Repression zu beugen. Auf gewisse Weise sind wohl auch sie als Ausdruck einer Kultur und „Mentalität des Ausnahmezustandes“[42] zu verstehen, die auf Taten und Entscheidungen drängte, wenngleich es zu betonen gilt, dass Hungerstreiks jenseits der großen politischen Kampagnen vielfach ein Ausdruck tiefer, individueller Verzweiflung waren. Der Hungerstreik als „letztes Mittel“ – diese prägnante und häufig wiederkehrende Formulierung gilt es als Ausdruck wahrgenommener Ausweglosigkeit durchaus ernst zu nehmen.

Dem Beispiel der Suffragetten in England folgten zunächst ihre Mitstreiterinnen in Irland. Wie William Murphy überzeugend herausarbeitet, waren sie die ersten, die in Irland auf diese Taktik zurückgriffen und an denen sich 1913 auch männliche Gefangene aus der Arbeiterbewegung orientierten.[43] Irische Nationalisten, die ab 1916 während der Rebellion und des Unabhängigkeitskriegs in Hungerstreiks traten, bemühten sich indes, ihren Protest von dem der Suffragetten abzugrenzen. Terence MacSwiney, Bürgermeister von Cork, präsentierte seinen Hungerstreik als Akt männlicher Stärke und Ausdruck christlichen Opferwillens. Im Gegensatz zu den britischen Suffragetten starben einige irische Nationalisten in ihren Hungerstreiks. Der Tod MacSwineys nach 74 Tagen im Hungerstreik löste 1920 international großes Aufsehen und Proteste aus.[44]

Auch außerhalb des Empires häuften sich die Berichte über Hungerstreiks; insbesondere radikale Linke griffen in Haft immer wieder auf sie zurück. In Italien war es der Anarchist Errico Malatesta, dessen Hungerstreik 1921 internationale Aufmerksamkeit erregte.[45] In der noch jungen Sowjetunion sahen Anarchistinnen und Anarchisten ein neues, das Zarenreich an repressiven Haftbedingungen noch übertreffendes Regime entstehen und klagten mit Hungerstreiks den Verlauf und die Entwicklung der Revolution an.[46] Und aus der turbulenten Frühphase der Weimarer Republik berichteten unter anderem Erich Mühsam und Ernst Toller von Hungerstreiks, die im Vergleich zu jenen im Empire allerdings nicht die erwünschte Resonanz hervorriefen. Die Presse habe „ihre Kenntnis von dem Hungerstreik Lamps zu garkeinem [sic!] Protest verwandt. Sie haben ihn verenden lassen wie eine Ratte und sind mit sich und der Welt zufrieden. Jetzt ist es Sache des Proletariats, diesen schandbaren Mord zu rächen“, stellte der über die mangelnde öffentliche Kenntnisnahme erzürnte Mühsam fest.[47]

Seine Worte weisen darauf hin, dass Hungerstreiks nach außen in zwei Richtungen wirken konnten.[48] Einerseits klagten Streikende die staatlichen Behörden an, andererseits konnte das selbstgewählte Hungern auch ein Mittel sein, um Empathie und Solidarität in den eigenen Reihen hervorzurufen. Nicht zuletzt Mohandas Gandhi betonte: „I fasted to reform those who loved me.“[49]

Diese soziale und kommunikative Dimension von Hungerstreiks war zentral. Ohne die Einbettung des körperlichen Hungerns in ein wirkungsvolles Narrativ und ohne den Zugang zu effektiven Netzwerken, die als Multiplikatoren des Berichteten wirkten, blieben zahlreiche Hungerstreiks ohne öffentliche Notiz. So sehr der hungernde Körper an ein vermeintlich universelles moralisches Empfinden zu appellieren schien, zeigt dieser kurze Einblick in die Geschichte von Hungerstreik und Zwangsernährung, dass ihre Wahrnehmung und Bewertung umkämpft war, sich historisch wandelte und Regierungen unterschiedlich auf sie reagierten. Debattiert und ausgelotet wurde dabei nichts Geringeres als die Grenzen des individuellen Selbstbestimmungsrechts und die Reichweite der Pflicht des Staates, das Überleben seiner Bürgerinnen und Bürger zu sichern.



[1] Essay zur Quelle: Women’s Social and Political Union: The Modern Inquisition. Die Zwangsernährung der britischen Suffragetten (1910).

[2] Hear Suffragettes, the King Commands, in: The New York Times, 07.09.1909.

[3] Miss Wallace Dunlop Released, in: Votes for Women, 16.7.1909.

[4] Vgl. Tickner, Lisa, The Spectacle of Women. Imagery of the Suffrage Campaign, 1907–14, London 1987; zu den Hafterlebnissen der Suffragetten vgl. auch Purvis, June, The Prison Experiences of the Suffragettes in Edwardian Britain, in: Women’s History Review 4 (1995), S. 103–133.

[5] Miss Wallace Dunlop Released, in: Votes for Women, 16.7.1909.

[6] Jeder Hungerstreik hat seine eigene Geschichte, deren lokale und historisch spezifische Kontexte zu berücksichtigen sind. Es kann somit keine allgemeingültige Ursprungserzählung „des Hungerstreiks“ geben. Für einen knappen Überblick zur Geschichte des Hungerstreiks, der auch die jüngere Vergangenheit miteinbezieht vgl. Buschmann, Maximilian, Hungerstreiks. Notizen zur transnationalen Geschichte einer Protestform im 20. Jahrhundert, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 65 (2015), H. 49, S. 34–40.

[7] Zu den Hungerstreiks in Russland und deren Rezeption in Großbritannien vgl. insbesondere Grant, Kevin, British Suffragettes and the Russian Method of Hunger Strike, in: Comparative Studies in Society and History 53 (2011), S. 113–143.

[8] Kennan, George, Siberia and the Exile System, Bd. 2, New York 1891. Es erschienen mehrere deutschsprachige Übersetzungen seiner Ausführungen, z.B. im Reclam Verlag, Kennan, George, Sibirien. Schilderungen. Aus dem englischen übertragen von David Haek, Leipzig [1891].

[9] Bei Kennan „Golodofka“ geschrieben. In den Übersetzungen der Schriften von Sergei Stepniak-Kravchinsky und Peter Kropotkin wechselten sich unterschiedliche Formulierungen ab. U.a. war von „famine strikes“ die Rede. Stepniak [=Sergey Mikhaylovich Stepnyak-Kravchinsky], Russia Under the Tzars, New York 1885, S. 126; Kropotkin, Petr Alekseevich, In Russian and French Prisons, London 1887, S. 101.

[10] Kennan, George, A Visit to Count Tolstoi, in: The Century Magazine 34 (1887), S. 252.

[11] Vgl. Grant, British Suffragettes, S. 118; zu den anarchistischen Attentaten vgl. Rübner, Hartmut, Kampf gegen die Attentäter und Verschwörer. Anarchismus in den „Terrorist Studies“ – ein Forschungsüberblick, in: Sozial.Geschichte Online 16 (2015), S. 9–52.

[12] Zu Kennans Einstellungswandel und seiner Rezeption vgl. Travis, Frederick F., George Kennan and the American-Russian Relationship 1865–1924, Athens 1990, S. 111–194.

[13] The Siberian Suicides and Hunger Strikes, in: The Times (London), 28.02.1890.

[14] The Outlook, in: Votes for Women, 16.7.1909.

[15] Miss Wallace Dunlop Released, in: Votes for Women, 16.7.1909, S. 934.

[16] „The British Czar“, in: Votes for Women, Sep 24, 1909.

[17] Vgl. u.a. Osterhammel, Jürgen, Die Verwandlung der Welt eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Bonn 2010, S. 63–67.

[18] Vernon, James, Hunger. A Modern History, Cambridge 2007, S. 3.

[19] Vgl. auch Foucault, Michel, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt am Main 2006, S. 53–72.

[20] Foucault, Michel, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Bd. 1, Frankfurt am Main 1983, S. 134.

[21] Vgl. Baumann, Ursula, Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Weimar 2001; Shepherd, Anne; Wright, David, Madness, Suicide and the Victorian Asylum. Attempted Self-Murder in the Age of Non-Restraint, in: Medical History 46 (2002), S. 175–196.

[22] Vgl. Brumberg Jacobs, Joan, Fasting Girls, The Emergence of Anorexia Nervosa as a Modern Disease, Cambridge 1988, S. 101–125.

[23] Vgl. Chernoff, Ronni, An Overview of Tube Feeding. From Ancient Times to the Future, in: Nutrition in Clinical Practice 21 (2006), S. 408–410; Korsch, Albrecht, Die Geschichte der Magensonde (Diss.), Köln 1971.

[24] Vgl. u.a. Sutherland, Henry, On the Artificial Feeding of the Insane, in: The Journal of Psychological Medicine and Mental Pathology 1 (1875), S. 98–115.

[25] Vorwärts, 19.7.1892. Zur Lebensgeschichte von Agnes Wabnitz vgl. Kühnel, Klaus, Freiheit du siegst. Leben und Sterben der Agnes Wabnitz. Eine biografische Collage aus Akten, Aufzeichnungen und Artikeln, Berlin 2008.

[26] Vgl. Vandereycken, Walter; van Deth Ron, From Fasting Saints to Anorexic Girls. The History of Self-Starvation, London 1994, S. 75–95.

[27] Vgl. Miller, Ian, ‘A Prostitution of the Profession’? Forcible Feeding, Prison Doctors, Suffrage and the British State, 1909–1914, in: Social History of Medicine 26 (2013), S. 225–245.

[28] Hellstern, Erwin P., Über die Zwangsernährung Gefangener, in: Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin 3 (1924), S. 133.

[29] WMA Declaration of Tokyo. Guidelines for Physicians Concerning Torture and other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment in Relation to Detention and Imprisonment, in: World Medical Association, URL: <http://www.wma.net/en/30publications/10policies/c18/index.html> (22.12.2016).

[30] Zur Darstellung der Zwangsernährung von den Suffragetten vgl. Howlett, Caroline J., Writing on the Body. Representation and Resistance in Britsh Suffragette Accounts of Forcible Feeding, in: Foster, Thomas; Siegel, Carol; Berry, Ellen E. (Hgg.), Bodies of Writing, Bodies in Performance, New York 1996, S. 3–41.

[31] Vgl. Hunt, Lynn, Inventing Human Rights. A History, New York, London 2008; Laqueur, Thomas W., Bodies, Details, and the Humanitarian Narrative, in: dies. (Hg.), The New Cultural History, Berkely 1989, S. 176–204.

[32] Prison Experiences of Lady Constance Lytton, in: Votes for Women, 28.1.1910

[33] Der anerkannte Zeichner Alfred Pearse (1856–1933) veröffentlichte unter diesem Pseudonym zahlreiche Karikaturen für „Votes for Women“. Weitere Arbeiten erschienen unter anderem in „London Illustrated News“ und „Pictorial World“. Tickner, Spectacle of Women, S. 247.

[34] The Government’s Methods of Barbarism, in: Votes for Women, 28.10.1910.

[35] A Forcible Feeding Poster, in: Votes for Women, 28.1.1910; vgl. die zu diesem Essay veröffentlichte Quelle Women’s Social and Political Union, The Modern Inquisition. Treatment of Political Prisoners under a Liberal Government, in: Museum of London, URL: <http://collections.museumoflondon.org.uk/online/object/290747.html> (22.12.2016). Hervorhebungen jeweils im Original.

[36] Vgl. zur Position der britischen Regierung Vernon, Hunger, S. 67.

[37] Vgl. Grant, British Suffragettes, S. 140.

[38] Howlett, Writing on the Body, S. 5.

[39] Vgl. Grant, Kevin, The Transcolonial World of Hunger Strikes and Political Fasts. 1909–1935, in: Ghosh, Durba; Kennedy, Dane Keith (Hgg.), Decentring Empire. Britain, India, and the Transcolonial World, Hyderabad 2006, S. 252.

[40] Berkman, Alexander, Becky Edelsohn. The First Political Hunger Striker in America, in: Mother Earth 9 (1914), S. 193.

[41] Zum Ausnahmezustand vgl. Geyer, Martin H., Grenzüberschreitungen. Vom Belagerungszustand zum Ausnahmezustand, in: Werber, Niels et al. (Hgg.), Erster Weltkrieg. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2014, S. 341–384, hier S. 341; Morton, Stephen, States of Emergency. Colonialism, Literature and Law, Liverpool 2013, S. 51–59.

[42] Geyer, Grenzüberschreitungen, S. 341.

[43] Murphy, William, Political Imprisonment and the Irish, 1912–1921, Oxford 2014, S. 11–33.

[44] Antikoloniale Revolutionäre in Indien, wo es seit dem Ende des Ersten Weltkriegs immer wieder zu Hungerstreiks kam, führten Mac Swiney u.a. als Referenz für ihre späteren Proteste an. Zu den Hungerstreiks in Irland und Indien vgl. Grant, Transcolonial World of Political Fasts, S. 252–262; Vernon, Hunger, S. 61–79.

[45] Buttà, Fausto, Living Like Nomads. The Milanese Anarchist Movement Before Fascism, Newcastle upon Tyne 2015, S. 213.

[46] Vgl. hierzu u.a. die Broschüre International Committee for Political Prisoners (Hg.), Letters from Russian Prisons. Consisting of Reprints of Documents by Political Prisoners in Soviet Prisons, Prison Camps and Exile, and Reprints of Affidavits Concerning Political Persecution in Soviet Russia, Official Statement by Soviet Laws Pertaining to Civil Liberties, and Other Documents, London 1925, S. 90.

[47] Erich Mühsam, 03.01.1921, in: ders., Tagebücher, URL: <http://www.muehsam-tagebuch.de/tb/hs.php?id=24&date=1921-01-03> (22.12.2016); zum Hungerstreik Tollers vgl. Toller, Ernst, Eine Jugend in Deutschland, Leipzig 1936.

[48] Ein an dieser Stelle nicht verfolgter Aspekt ist die Bedeutung und der Effekt dieser Praxis für das hungerstreikende Selbst. Vgl. hierzu die Überlegungen von Streng, Marcel, „Hungerstreik“. Eine politische Subjektivierungspraxis zwischen „Freitod“ und „Überlebenskunst“ (Westdeutschland, 1970–1990), in: Elberfeld, Jens; Otto, Marcus (Hgg.), Das schöne Selbst. Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik, Bielefeld 2009, S. 333–365.

[49] Letter to George Joseph, 12.04.1924, in: The Collected Works of Mahatma Gandhi Online, URL: <http://www.gandhiserve.org/e/cwmg/cwmg.htm> (22.12.2016). Gandhi wollte indes seine politischen Fastenaktionen von Hungerstreiks unterschieden wissen. Zur Geschichte der Fastenaktionen von Gandhi vgl. Pratt, Tim; Vernon, James, „Appeal from this fiery bed …“. The Colonial Politics of Gandhi’s Fasts and Their Metropolitan Reception, in: Journal of British Studies 44 (2005), S. 92–114.



Literaturhinweise

  • Grant, Kevin, British Suffragettes and the Russian Method of Hunger Strike, in: Comparative Studies in Society and History 53 (2011), H. 1, S. 113–143.
  • Ders., The Transcolonial World of Hunger Strikes and Political Fasts. 1909–1935, in: Ghosh, Durba; Kennedy, Dane Keith (Hgg.), Decentring Empire. Britain, India, and the Transcolonial World, Hyderabad 2006, S. 243–269.
  • Murphy, William, Political Imprisonment and the Irish, 1912–1921, Oxford 2014.
  • Tickner, Lisa, The Spectacle of Women. Imagery of the Suffrage Campaign, 1907–14, London 1987.
  • Vernon, James, Hunger. A Modern History, Cambridge 2007.

Women’s Social and Political Union: The Modern Inquisition. Die Zwangsernährung der britischen Suffragetten (1910)[1]


© Museum of London. Die Veröffentlichung dieser Abbildung geschieht mit freundlicher Genehmigung des Museum of London, 150 London Wall, London EC2Y 5HN, email: info@museumoflondon.org.uk, URL: <http://www.museumoflondon.org.uk/museum-london>.


[1] Women’s Social and Political Union, The Modern Inquisition. Treatment of Political Prisoners under a Liberal Government, 1910, Museum of London, URL: <http://collections.museumoflondon.org.uk/online/object/290747.html> (22.12.2016).


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Maximilian Buschmann

( 2017 )
Zitation
Maximilian Buschmann, "That Most Terrible Weapon". Hungerstreik und Zwangsernährung in der europäischen Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2017, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1697>.
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