Arbeiterinnenselbstverwaltung? Normalität und Aufbruch im Arbeitsalltag der Belegschaftseigenen Glashütte Süßmuth

Im März 1970 übernahm zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine Belegschaft ihren Betrieb in eigene Verantwortung. Angesichts des drohenden Verlusts ihrer Arbeitsplätze fanden die Beschäftigten damit eine kollektive Antwort, wie sie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts auch in anderen Industriegesellschaften Westeuropas, allen voran in Italien, Spanien und Frankreich, zu beobachten war. Die nun beginnende Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth in der nordhessischen Kleinstadt Immenhausen wurde zum Politikum. [...]

Arbeiterinnenselbstverwaltung? Normalität und Aufbruch im Arbeitsalltag der belegschaftseigenen Glashütte Süßmuth[1]

Von Christiane Mende

Im März 1970 übernahm zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine Belegschaft ihren Betrieb in eigene Verantwortung.[2] Angesichts des drohenden Verlusts ihrer Arbeitsplätze fanden die Beschäftigten damit eine kollektive Antwort, wie sie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts auch in anderen Industriegesellschaften Westeuropas, allen voran in Italien, Spanien und Frankreich, zu beobachten war.[3] Die nun beginnende Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth in der nordhessischen Kleinstadt Immenhausen wurde zum Politikum. Während sozial-liberale Kreise von einem „in die Zukunft weisende[m] Modell“ erweiterter Mitbestimmung sprachen, so mancher Unternehmer darin erste Anzeichen einer „sozialistischen Machtergreifung“ befürchtete, begrüßten andere hingegen die „rote Hütte“.[4] So unterschiedlich die politischen Deutungen dieses Ereignisses ausfielen, so einig waren sie sich jedoch in einem Punkt: Es waren die Arbeiter, nicht die Arbeiterinnen, die hier als Akteure im Fokus standen. Die erfolgreiche Betriebsübernahme nach monatelangen Auseinandersetzungen mit dem alten Eigentümer und Glaskünstler Richard Süßmuth sowie die vielfältigen, zunehmend radikaleren Proteste im Vorfeld wurden in der Berichterstattung auf eine Gruppe ausschließlich männlicher Facharbeiter zurückgeführt. Und tatsächlich waren es vor allem die gewerkschaftlich aktiven Glasmacher, welche als die größte und mächtigste Beschäftigtengruppe innerhalb des Unternehmens einer interessierten Öffentlichkeit sehr selbstbewusst und kämpferisch gegenüber traten. Dass die knapp 270-köpfige Belegschaft der Glashütte Süßmuth zu einem Drittel aus Frauen bestand, war dagegen höchstens eine Randbemerkung wert. Eine oberflächliche Betrachtung schien zudem auch sehr schnell zu bestätigen, dass diese Arbeiterinnen sowohl in der Zeit der Übernahme als auch während der Selbstverwaltung keine große Rolle spielten. In den verschiedenen neu gegründeten Gremien, in welchen nun die unternehmerischen Entscheidungen beraten wurden, befand sich unter den gewählten Belegschaftsvertretern keine einzige Frau.[5]

Die Perspektive von Arbeiterinnen auf die am Arbeitsplatz vorgefundenen Realitäten, auf die Arbeitsprozesse und Machtbeziehungen im Betrieb sowie ihr Bezug zu und ihre Ansprüche an die Erwerbstätigkeit bildete bis in die 1980er-Jahre eine Leerstelle in der bundesdeutschen Arbeitergeschichte.[6] Das mit dem Aufkommen der Frauenforschung sowie der Alltagsgeschichte und Oral History zunehmende Interesse an Arbeiterinnen-Geschichte erschien zunächst als eine Kuriosität.[7] Dies resultierte zum einen aus einer Repräsentationspolitik der traditionellen Institutionen der Arbeiterbewegung – den Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei –, welche bis zum letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die Interessen dieser Gruppe kaum erfasste. Zum anderen kam der Organisations- und Konfliktgeschichte in der Arbeiter(bewegungs)geschichte generell eine weitaus größere Forschungsaufmerksamkeit zu als dem Arbeitsalltag.[8] Auch unternehmenshistorische Fallstudien tendieren dazu, eher die Chef-Etage als den Shop Floor in den Blick zu nehmen. Die Marginalisierung von Arbeitenden im Kontext historisch spezifischer Machtverhältnisse sowie deren Historisierung greifen somit ineinander: Erstes schlägt sich in der Überlieferungslage und den Erinnerungsnarrativen nieder beziehungsweise eben nicht nieder, welche folglich eine sehr selektive Quellenlage zur Ausgangsbedingung für Letzteres macht.

Die Selbstverwaltung der Glashütte Süßmuth war hingegen mit einer Quellenproduktion verbunden, die einen ungewöhnlich tiefen Einblick in die Vorstellungen und Deutungen der Beschäftigten ebenso wie in die Dynamiken innerbetrieblicher Machtbeziehungen gewährt, wie er einer historischen Analyse konventionell geführter Unternehmen häufig verstellt ist. Doch selbst die während der Arbeit der Selbstverwaltungsgremien entstandenen schriftlichen Quellen sprechen von den Arbeiterinnen ausschließlich über sie als zu schützende, zu belehrende oder zu disziplinierende Personen, kaum jedoch als Handelnde mit eigenen ernstzunehmenden Bedürfnissen oder Vorschlägen. Das hier auszugsweise vorgestellte Tondokument eines knapp 80-minütigen Gruppengesprächs vom 2. September 1973 ist die einzige Quelle, in welcher sich Arbeiterinnen der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth selbst repräsentierten.[9] Zu verdanken ist sie dem Schriftsteller Erasmus Schöfer, der als Mitbegründer des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt in den Jahren 1973 und 1974 mehrfach die Glashütte aufsuchte, um die Erfahrungen der Belegschaft während der Betriebsübernahme und in der Selbstverwaltung zu dokumentieren.[10] Die meisten Gespräche führte Schöfer mit den Facharbeitern. An diesen Gesprächen nahmen – wenn überhaupt – Frauen oft nur als bewirtende und meist schweigende Zuhörerinnen teil. Da er sich als Aktivist an der Schnittstelle zwischen „alten“ und neuen sozialen Bewegungen jedoch explizit auch für die Wahrnehmungen der Arbeiterinnen interessierte, bemühte sich Schöfer diese in einem separaten Gespräch zum „Sprechen“ zu bringen.

Insgesamt nahmen an diesem Gespräch vier Frauen im Alter zwischen 20 und 50 Jahren teil, von denen zum damaligen Zeitpunkt lediglich zwei in der Glashütte arbeiteten und eine diese bereits vor der Selbstverwaltung verlassen hatte. Eine der Gesprächsteilnehmerinnen arbeitete am Kühlband, wo sie für die Abnahme der Glasartikel nach dem Kühlprozess sowie deren manuellen Transport in die sich anschließenden weiterverarbeitenden Arbeitsbereiche verantwortlich war. Hierzu gehörte die Sprengerei als dem (einstigen) Arbeitsbereich der beiden anderen Frauen. Inwiefern die vierte, mit den anderen befreundete Gesprächsteilnehmerin in der Glashütte beschäftigt war, wird aus dem Gespräch nicht ersichtlich. Sie war jedoch, wie auch die drei anderen Frauen, mit einem Glasfacharbeiter verheiratet. Anwesend war zudem ein Arbeitskollege, der sich während des Gesprächs weitestgehend zurückhielt und daher nicht identifizierbar ist. Soweit rekonstruierbar waren alle Frauen aufgrund der Tätigkeit ihres Ehemannes nach Immenhausen zugezogen und hatten jeweils ein bis zwei Kinder.

Mit Ausnahme der kaufmännischen Angestellten in der Verwaltung übten Frauen in der Glashütte Süßmuth generell Tätigkeiten in der Produktion aus, zu denen es keiner formalen Qualifikation bedurfte und die am schlechtesten bezahlt waren.[11] Das Kühlband und die Sprengerei gehörten, ebenso wie die Wäscherei oder die Packerei, zu den Arbeitsbereichen, in denen nahezu ausschließlich Frauen unter der Leitung von männlichen Vorgesetzten arbeiteten. Mit der Zuteilung monotoner Teilarbeitsschritte sowie von Zu- und Säuberungsarbeiten fanden sich Frauen in ausführenden Tätigkeiten wieder, die ihnen in den Arbeitsabläufen kaum Gestaltungsspielräume gewährten. Die Arbeitsteilung in der Glashütte Süßmuth entsprach damit klassischen Geschlechterrollen, wie sie sich auch außerhalb des Betriebs wiederfanden. Hausarbeit und Kindererziehung sowie sonstige Pflege- und Reproduktionsarbeiten waren klarer Aufgabenbereich der Frauen, für den sie trotz der Berufstätigkeit allein zuständig waren. Dass überhaupt so viele Frauen in der Glashütte beschäftigt waren, resultierte zunächst aus der Notwendigkeit, die Existenzgrundlage der Familie im ländlich-provinziellen Arbeitermilieu über ein zweites Einkommen zu sichern beziehungsweise den Lebensstandard zu verbessern.[12] Indem nicht wenige Ehefrauen von Glasfacharbeitern in der Glashütte Süßmuth arbeiteten, überlagerten sich am Arbeitsplatz betriebliche und außerbetriebliche Machtbeziehungen. Welche Bedeutung maßen die interviewten Arbeiterinnen der Betriebsübernahme und Selbstverwaltung bei? Inwiefern änderte sich hierdurch ihr Alltag?

I Die Arbeitsbedingungen in der Produktion

Im Sprechen über ihre Arbeitsbedingungen in der Glashüte Süßmuth fiel den Interviewten die grundlegende Unterscheidung zwischen der Zeit vor und nach der Betriebsübernahme eher schwer. Diese Tendenz mag zum einen durch die Anwesenheit der ehemaligen Kollegin verstärkt worden sein, die bereits zuvor den Betrieb verlassen hatte. Vor allem ist dies jedoch ein Hinweis darauf, dass sich auch in der Selbstverwaltung an den grundsätzlichen Entscheidungsstrukturen im Arbeitsalltag der Frauen nicht viel änderte. Suchten Schöfers Fragen nach eindeutigen Zäsuren, so fielen die Antworten der Arbeiterinnen differenziert aus, demnach „früher“ wie „heute“ die Arbeit in der Produktion mit jeweils spezifischen Herausforderungen verbunden war. Da der alte Eigentümer mehr Wert auf repräsentative Werksgebäude legte als beispielsweise auf die Erneuerung der Kühlbänder oder die Instandhaltung der Arbeitsräume, waren die Arbeiterinnen „früher“ an ihrem Arbeitsplatz starken Temperaturschwankungen ausgesetzt. Zudem mussten sie zusehen, wie mit den veralteten Kühlbändern die Ausschussproduktion stark anstieg, sodass sie das zerbrochene Glas „mit der Schippe“ herunternehmen mussten. Aufgrund der damit verbundenen Schwankungen im Arbeitsanfall ergab sich für eine der Arbeiterinnen die Notwendigkeit zwischen den Tätigkeiten der Kühlbandabnahme und des Sprengens zu „springen“. Dennoch erinnerten sich die Frauen sehr gern an diese Zeit zurück, die sie sich im Kolleginnenkreis mit gemeinsamen Essen oder kleinen Feiern auch „schön“ gestalteten.

Während der Selbstverwaltung wurde in die Produktionsanlage neu investiert, womit einige Missstände beseitigt wurden. Die körperlich anstrengende Tätigkeit des Kistenschleppens wurde durch die Einführung von Transportwägen abgeschafft. Mit den neuen Kühlbändern reduzierten sich die extremen Temperaturschwankungen und der Umfang der zu Bruch gegangenen Produkte. Da sich der Artikeldurchlauf folglich erhöhte und sich auf den neuen Bändern im Gegensatz zu früher unterschiedliche Artikel auf einmal zur Kühlung befanden, war die Arbeit am Kühlband für die Arbeiterinnen nun mit der neuen Tätigkeit der Sortierung verbunden. Zudem verstärkte sich der Schwerpunkt auf der Qualitätsprüfung, weshalb die Kühlbandabnehmerinnen zusätzlich eine erste Auswahl von Mängelware vornehmen mussten. Damit verdichtete und intensivierte sich die Arbeit. Zugleich reduzierten sich dadurch die Räume für ein geselliges Miteinander während der Arbeitszeit, wie es ihnen bis dahin den Arbeitsalltag erträglicher machte.

Trotz der Schwere und Monotonie ihrer Arbeit, an welcher sich in der Selbstverwaltung nur wenig änderte, lässt sich aus den Schilderungen der Arbeiterinnen eine gewisse Identifikation mit ihrer Erwerbstätigkeit ableiten.[13] Dies ist umso bemerkenswerter, als sie weder eine hohe soziale und lohnpolitische Anerkennung für ihre Tätigkeit erhielten, noch deren Anstrengungen durch eine gestalterische Kreativität kompensieren konnten, wie es bei den Glasmachern und -schleifern der Fall war. Zudem waren die Arbeitsverhältnisse von Frauen in der Glashütte Süßmuth sehr viel wechselhafter, der Fluktuationsgrad in unmittelbaren Zusammenhang mit den ihnen allein zugewiesenen Reproduktionsarbeiten sehr viel höher als jener der Facharbeiter, deren Berufsbiografie in der Regel von einer linearen Aufwärtsentwicklung geprägt war. Ungeachtet der strukturellen Diskriminierung konnte die Bindung der Arbeiterinnen an den Betrieb mitunter sehr hoch sein, was auf Prozesse der Vergemeinschaftung am Arbeitsplatz verweist. In improvisierter Umnutzung des früher defekten und große Hitze abstrahlenden Kühlbands eigneten sich die Arbeiterinnen beispielsweise die Produktionssphäre für das gemeinsame Zubereiten des Mittagessens für sich und gegebenenfalls die Ehemänner im Betrieb an, wodurch zugleich ein Ort der seltenen Begegnung mit der griechischen Kollegin entstand, zu welcher sie sonst offensichtlich keinen Kontakt hatten.[14] Es entwickelten sich freundschaftliche Beziehungen, die über den Betrieb hinausreichten – wie die Beteiligung der ehemaligen Arbeiterin am Gruppengespräch zeigt –, und die mitunter ein Grund für die Vorfreude auf die Rückkehr in die Erwerbstätigkeit nach der „Kinderpause“ war.

Über die Notwendigkeit des Geldverdienens hinaus verwies die Betriebsbindung zudem auf das spezifische Erfahrungswissen, welches auch die als unqualifizierte Arbeitskräfte beschäftigten und bezahlten Frauen mit der Zeit über ihren Arbeitsbereich gewannen und welches sie in dem von vielfältigen Unregelmäßigkeiten geprägten Fertigungsprozess in einer Mundglashütte auszeichnete. Das Mundblasverfahren sowie die große Artikelvielfalt bedingte, dass „jedes Glas anders“ war, woraus jeweils unterschiedliche Anforderungen an die weiterverarbeitenden Tätigkeiten wie beispielsweise an das Sprengen resultierten. Während die frühere Kollegin sich an den Druck erinnerte, den sie bei der Überwachung durch ihren Vorgesetzten empfand, und das Glas während des Sprengens durch ihre Aufregung dabei gerade kaputt ging, wehrte ihre jüngere Freundin allein die Vorstellung einer solchen Situation ab. Da sie schon „so lange gesprengt“ hat und „weiß, wie [sie] zu sprengen habe“, wollte sie sich weder von ihrem Abteilungs- noch vom Betriebsleiter „belehren“ lassen. Ebenso wenig scheuten sich die zwei im Betrieb arbeitenden Frauen den Glasmachern gegenüber Arbeitsfehler anzumerken, trotz der Gewissheit, dass diese daraufhin „auf 180 gingen“. Herausgefordert war damit die genderspezifische Codierung von Qualifikation als „männliche Facharbeit“ in Abgrenzung zur „weiblichen Hilfsarbeit“.

II Die Betriebsübernahme und Selbstverwaltung

Inwiefern diese selbstbewusste Haltung der Arbeiterinnen gegenüber ihren Vorgesetzten und den Facharbeitern auf der Basis ihrer Arbeitserfahrungen sich im Zuge der Selbstverwaltung verstärkt hatte, geht aus dem Interview nicht hervor. Sehr deutlich wird hingegen, dass sich diese Arbeiterinnen aufgrund des Bezugs zu ihrer Arbeit und der engen Bindung an den Betrieb am Kampf um die Rettung des Unternehmens beteiligt sahen. Dass sie dabei nicht jene aktive Rolle einnahmen, wie sie Schöfer durch seine Fragen versuchte herauszufinden, lag weniger in einem fehlenden Interesse oder „politischen Bewusstsein“ begründet. Die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung begrenzte vielmehr die Handlungsoptionen für politische Aktionen, für welche den Frauen geringere Zeitkapazitäten zur Verfügung standen und ihnen folglich einen höheren Organisationsaufwand abverlangten. Ihre Teilnahme am Protestzug durch Immenhausen wurde auf diese Weise abhängig vom Wetter oder von verfügbaren Betreuungsalternativen für die Kinder. Hinzu kam das exklusive Agieren der männlichen Betriebsaktivisten (ebenso wie das der sie unterstützenden Gewerkschaftsfunktionäre). Das Verfassen und Verteilen von Flugblättern sowie die Vorbereitung einer Demonstration durch Immenhausen erfolgte ausschließlich im Kreis der gewerkschaftlich organisierten Glasfacharbeiter, der maximal 30 Personen umfasste. In diesem wurde darüber hinaus unter strengster Geheimhaltung die erste Betriebsbesetzung in der Bundesrepublik geplant, für den Fall, dass Richard Süßmuth nicht einlenken sollte.[15] Den Frauen wurde hierbei zugedacht, mit den Kindern ebenfalls im Betrieb zu bleiben und ihn nur zum Kochen des Essens zu verlassen. Der Rest der Belegschaft wurde erst kurz zuvor über die geplanten Protestaktionen informiert, auf die folglich kaum noch Einfluss genommen werden konnte. Dabei ist im Gespräch zu erfahren, dass zumindest eine der Arbeiterinnen durchaus auch die eigene Idee entwickelt hatte, zusammen mit Kolleginnen bei dem alten Unternehmer vorzusprechen. In der dichten Ereignisabfolge dieser Zeit kam diese letztlich nicht zum Tragen.

Der Aktivismus der Facharbeiter ließ wenig Raum für eine Beteiligung ihrer Kolleginnen. Die wichtige Rolle, welche die Arbeiterinnen beziehungsweise die Ehefrauen der Facharbeiter in dieser Auseinandersetzung dennoch einnahmen, wurde hingegen nicht als eine politische verhandelt und erinnert. Dass das politische Engagement der Männer ohne die Übernahme sämtlicher reproduktiver Arbeiten durch die Frauen gar nicht möglich gewesen wäre, wurde ebenso wenig gewürdigt wie die Bedeutung der alltäglichen Gespräche beim „Metzger oder Krämer“ in ihrer genuin politischen – nämlich Öffentlichkeit herstellenden und Partei ergreifenden – Dimension. In diesen trugen die Frauen jedoch ganz wesentlich zur Aufklärung, zum Verständnis und zur Legitimation für die radikal anmutenden Forderungen der Belegschaft innerhalb der Immenhausener Bevölkerung bei, in welcher der Unternehmer Richard Süßmuth ein hohes Ansehen genoss. Reproduzierten sich damit während der Betriebsübernahme betriebliche wie häusliche Hierarchien allein dadurch, dass sie weiterhin nicht reflektiert wurden, so empfanden die interviewten Frauen ihr Verhältnis zu ihren Ehepartnern nicht als eines der Unterwerfung. Vielmehr strichen sie die gemeinsame „Stimme“ als Zeichen einer Solidarität innerhalb der Ehe heraus. Im Verständnis für die Abwesenheit während und nach der Betriebsübernahme zollten die Frauen ihren Ehemännern zudem Anerkennung für ihren Einsatz „für die Kollegen“, worin sie sie unterstützten. Schließlich kam im geschlossenen Fordern gegenüber dem Unternehmer Richard Süßmuth ein geteiltes Interesse, den eigenen (zukünftigen) Arbeitsplatz und den des Ehepartners zu erhalten, ein gemeinsames Verantwortungsgefühl für den Betrieb und die Belegschaft als Ganzes zum Ausdruck – ebenso wie in gewisser Weise auch für die Kleinstadt Immenhausen, in welcher sich die Arbeiterinnen sehr wohl fühlten. In der Aussage, „das ging ja alle an“, steckt somit ein aktivierender Impuls. Um diesen in konkrete Taten umzusetzen, standen den Arbeiterinnen jedoch in Relation zu den Facharbeitern höchst ungleiche Handlungsoptionen zur Verfügung.

Die knapp fünf Jahre anhaltende Praxis der Selbstverwaltung gestaltete sich als Prozess permanenter und mitunter sehr konfliktträchtiger Auseinandersetzungen innerhalb des Unternehmens, die stets arbeitsbezogene Themen zum Gegenstand hatten. Diese im Arbeitsalltag intensivierten Kommunikationsprozesse ermöglichten auch den Arbeiterinnen ihre (erfahrungs-) wissensbasierten Vorstellungen einzubringen, wie zum Beispiel bei der Diskussion über die Beseitigung der Mängelproduktion, deren Ursachen vielfältig sein konnten. Wurden hierbei indirekt auch Fragen nach Gleichberechtigung verhandelt, ermöglichte der vermeintliche unpolitische Modus der Auseinandersetzung den Arbeiterinnen Anerkennung für ihre Verbesserungsvorschläge und generell für ihre Tätigkeiten zu erhalten. Eine gemeinsame Identifikation mit der Arbeit, den Produkten und der Gemeinschaft im Betrieb bildete die Basis dafür, dass sich durch die in der Selbstverwaltung angestoßenen Verständigungsprozesse die verschiedenen Beschäftigtengruppen anzunähern begannen. Dafür stehen beispielsweise auch die Diskussionen über eine gerechtere Entlohnung der unteren Lohngruppen, in denen überwiegend Arbeiterinnen eingestuft waren, oder über die Gründung eines Betriebskindergartens. Dahingehende Bemühungen sind nicht allein auf den Idealismus oder die geläuterte Einsicht der männlichen Facharbeiter zurückzuführen, sondern in Relation zu entsprechenden Ansprüchen der Arbeiterinnen zu denken, die in expliziter Form jedoch nicht überliefert sind.

Diese Annäherungsprozesse gingen letztlich nicht soweit, dass die männlichen Beschäftigten ihre eigene Position im Geschlechterverhältnis reflektierten. Die aus der vergeschlechtlichten Arbeitsteilung resultierende Mehrfachbelastung der Arbeiterinnen wurde von ihren Kollegen zwar anerkannt und zum Teil als Erklärung dafür herangezogen, dass Frauen folglich gar keine Zeit für eine Beteiligung an den außerhalb der Arbeitszeit tagenden Gremien der Selbstverwaltung hätten.[16] Statt als ein strukturelles, durch eine gerechtere Verteilung der häuslichen Pflichten zu behebendes Problem, sahen die Männer hierin eine sozial abzufedernde „Belastung“, welche es durch einen (letztlich nicht gegründeten) betriebseigenen Kindergarten zu reduzieren galt. Die Arbeitsteilung an sich blieb jedoch unangetastet. Die Möglichkeiten für weiterreichende Aufbrüche in den betrieblichen Machtverhältnissen waren schließlich nicht zuletzt auch durch die wirtschaftlich durchweg prekäre Lage des Unternehmens begrenzt. Im Zuge dessen intensivierte sich die Arbeit für fast alle Beschäftigten. Dies veränderte die sozialen Verhältnisse am Arbeitsplatz und produzierte neue Konflikte innerhalb des Betriebs, wodurch sich alte Hierarchien reproduzierten. Eine fehlende Reflexion des eigenen Dominanzverhaltens auf Seiten der Facharbeiter korrespondierte dabei mit einer spezifischen Sozialisation der Arbeiterinnen, die in der direkten Konfrontation oftmals eher unsicher und zaghaft auftraten beziehungsweise diese scheuten.

III Wie stand's mit der Emanzipation?

Das gesamte Gespräch veranschaulicht sehr eindrücklich, welche persönlichen Rücksichtnahmen und Einschränkungen sowie Ausschlüsse und Diskriminierungen die Erfahrungen dieser Arbeiterinnen sowohl im Privatleben als auch im Betrieb prägten. Die offensichtlich bestehenden genderspezifischen Ungleichheiten in den Arbeits- und Reproduktionsbeziehungen wurden auch nach der Betriebsübernahme nicht auf einer (identitäts-) politischen Ebene verhandelt. Schöfers am Ende des Gesprächs nach dem Gehörten eher feststellende als fragende Bemerkung, dass es ja scheinbar „mit der Emanzipation noch nicht so weit“ sei „auf dem Dorf“, mag vor diesem Hintergrund auf den ersten Blick plausibel erscheinen. Zugleich verwundert jedoch der Zeitpunkt, an dem Schöfer die Frauen mit seiner Einschätzung konfrontierte, nämlich nachdem sie sich gerade darüber verständigt hatten, dass sie natürlich auch die Glasmacher auf ihre Fehler bei der Arbeit aufmerksam machen würden. Der Kontrast zwischen der mangelhaften Vertretung in den offiziellen Gremien der Selbstverwaltung und Schöfers Diagnose einer noch nicht so weit vorangeschrittenen Emanzipation auf der einen Seite und dem Auftreten der Arbeiterinnen während des Gesprächs auf der anderen Seite, markiert ein grundlegendes Unverständnis und verweist auf die Grenzen Gehör zu finden.

Bei genauerer Betrachtung der Interviewsituation fällt auf, dass Schöfers Fragen nach der Arbeit und dem politischen Aktivismus der Arbeiterinnen in der selbstverwalteten Glashütte eben jene Ausschlüsse voraussetzten, die im Zentrum der Kritik der Neuen Frauenbewegung stand. Die in Schöfers Fragen vorgenommene Engführung im Verständnis von „Arbeit“ auf die außerhäusliche Erwerbsarbeit perpetuierte deren Trennung von der unbezahlten Reproduktionsarbeit, den Haus- und Familienarbeiten, die gerade in den Antworten der Arbeiterinnen aus der Unsichtbarkeit des Privaten in ihrer Verbindung zur Produktionssphäre hervortraten. Jene Aufbrüche und Hoffnungen, die auch für die Frauen mit der Betriebsübernahme und der Selbstverwaltung verbunden gewesen sein mögen, konnte Schöfers Verständnis von der Emanzipation nicht erfassen. Akzeptierten die Gesprächsteilnehmerinnen zwar die vergeschlechtlichte Arbeitsteilung im und außerhalb des Betriebs sowie die daraus für ihre (Berufs-) Biografien resultierenden Konsequenzen, so forderten sie innerhalb dieser Rollenverteilung aber doch die Anerkennung des in ihren Tätigkeitsbereichen gewonnenen Erfahrungswissens. Dieses ermöglichte es ihnen am Arbeitsplatz eine Handlungsposition einzunehmen, aus welcher heraus sie sich gegenüber den als ungerecht empfundenen Zumutungen ihrer männlichen Vorgesetzten und Arbeitskollegen zu behaupten wussten. Das im Arbeitsprozess gewonnene Selbstbewusstsein dieser Arbeiterinnen scheint sich darüber hinaus auch auf die außerbetrieblichen Beziehungen ausgewirkt zu haben. Denn „[b]ei uns wird zu Hause auch gearbeitet!“

Nicht zufällig sprechen in diesem Tondokument die Ehefrauen von Glasfacharbeitern, welche in den Selbstverwaltungsgremien sehr aktiv waren. Den darüber gewonnenen Einblick und Zugang zu unternehmensinternen Informationen, den andere Arbeiterinnen im Betrieb nicht hatten, stellte im selbstverwalteten Unternehmen eine nicht unwesentliche Handlungsressource dar. Dem „Sprechen“ dieser Arbeiterinnen steht somit das „Schweigen“ des großen Rests der Arbeiterinnenschaft (ebenso wie generell der migrantischen Beschäftigten) gegenüber, womit die historische Betrachtung den Bereich des Nicht-(Mehr-)Sagbarens betritt. Daraus resultieren methodische Herausforderungen bei der Quellenanalyse und -kritik, wenn aus dem Gespräch mit den „sprechenden“ Arbeiterinnen verallgemeinernde Überlegungen auf die Gesamtheit der Arbeiterinnen angestellt werden. Das Mitdenken dieser Perspektive als „Leerstelle“ erfordert daher eine permanente Reflexion und kritische Überprüfung bei der Analyse vorhandener Quellen, welche dadurch jedoch mit neuem Erkenntnisgewinn gelesen werden können. Vom Wissen um die sprachliche Vermittlung von Wirklichkeit geht letztlich ein zweifacher Reflexionsimpetus aus, der sich nicht nur auf den Entstehungskontext der Quelle selbst bezieht, sondern auf die Praxis der Quellenkritik gleichermaßen.



[1] Essay zur Quelle: Über Arbeit und Politik in der Re/Produktion. Die Arbeiterinnen der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth im Gespräch mit Erasmus Schöfer (2. September 1973). Die Geschichte der Selbstverwaltung in der Glashütte Süßmuth steht im Zentrum meiner Dissertation im Rahmen des Forschungsprojekts „Moralische Ökonomie? Selbstverwaltete Industrieunternehmen Westeuropas in den 1970er und 1980er Jahren“ am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, vgl. URL: (07.04.2017). Für Hinweise beim Schreiben des Artikels danke ich Anne Sudrow, Sarah Graber Majchrzak sowie den Herausgeberinnen des Sammelbandes.

[2] Vgl. Fabian, Franz, Arbeiter übernehmen ihren Betrieb, Reinbek 1972; Literarische Verarbeitung der Belegschaftsübernahme, in: Erasmus Schöfer, Zwielicht, Band 2 der Romantetralogie „Die Kinder des Sisyfos“, Berlin 2011.

[3] Paton, Rob, Reluctant Entrepreneurs. The Extent, Achievements and Significance of Worker Takeovers in Europe, Milton Keynes 1989.

[4] Manuskript „Eigentum verpflichtet“ von Ulrich Happel und Peter Merseburger, Sendebeitrag für „Panorama“ (ARD), ausgestrahlt am 6. April 1970, in: Archiv Fritz-Hüser-Institut (FHI) Dortmund, Schöf-1212; unbekannte/r Autor/in, Glashartes hessisches Sozialisierungs-Modell. Wie man einen mittelständischen Unternehmer erpreßt, in: Der Selbstständige. Offizielles Organ des Deutschen Gewerbeverbandes e.V. 9 (1970), H. 4, S. 1f.; unbekannte/r Autor/in, Die rote Hütte, in: konkret. Zeitschrift für Kultur und Politik (1972), H. 3, S. 42–45.

[5] Dies änderte sich erst, als im Zuge von Neuwahlen im Herbst 1973 mit einer kaufmännischen Angestellten die erste Frau in die Gesellschafterversammlung, als einem der zentralen Entscheidungsgremien in der Selbstverwaltung, gewählt wurde.

[6] Wegweisende Forschungen zur Geschichte der Arbeit aus geschlechtshistorischer Perspektive unter anderen von: Hausen, Karin, Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012. Zur spezifischen Situation einer „Arbeiterinnen-Kooperative“ vgl. die sozialwissenschaftliche Fallstudie von Wajcman, Judy, Women in Control. Dilemmas of a Workers’ Co-operative, New York 1983.

[7] Diese Erfahrung machte beispielsweise Ingrid Bauer, als sie in den frühen 1980er-Jahren ihr Oral-History-Projekt über die Zigarrenfabrikarbeiterinnen von Hallein begann. Vgl. Ingrid Bauer, „Tschikweiber haums uns g’nennt...“ Die Zigarrenfabrikarbeiterinnen von Hallein, 1. Auflage der erweiterten Neuausgabe, Berlin 2015 [1987], S. 14.

[8] Welskopp führt dies auf das Fehlen eines tragfähigen Konzepts vom „Betrieb in industrialisierenden und industriellen Gesellschaften“ zurück, welches ein Auseinanderfallen von Industrie- und Arbeitergeschichte befördert habe. Vgl. Welskopp, Thomas, Der Betrieb als soziales Handlungsfeld. Neuere Forschungsansätze in der Industrie- und Arbeitergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 117–141.

[9] Vgl. Interview mit Arbeiterinnen der Glashütte Süßmuth, 2. September 1973. Das Tondokument stammt aus dem Vorlass von Erasmus Schöfer, der sich im Archiv des Fritz-Hüser-Instituts für Literatur und Kultur der Arbeitswelt in Dortmund befindet (Signatur: Schöf-1230). Das Transkript wurde von der Autorin erstellt. Für die Einwilligung zur Veröffentlichung danke ich Erasmus Schöfer und dem Fritz-Hüser-Institut. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus den hier mit veröffentlichten Quellenausschnitten.

[10] Der „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ wurde im Jahr 1970 von einer Gruppe westdeutscher Schriftsteller/innen mit dem Motiv gegründet, der Perspektive arbeitender Menschen zu einer breiteren Öffentlichkeit zu verhelfen und sie in ihrem eigenen Schreiben zu unterstützen, URL: <http://werkkreis-literatur.de/de/geschichte/geschichte> (07.04.2017).

[11] Vierzehn der im Jahr 1971 beschäftigten 23 kaufmännischen Angestellten und 87 der im Jahr 1969 insgesamt 228 beschäftigten Personen in der Produktion waren Frauen. Vgl. Personallisten der Glashütte Süßmuth, in: Archiv Glasmuseum Immenhausen und FHI Dortmund, Schöf-1222.

[12] Zur quantitativen Dimension weiblicher Erwerbsarbeit in der Bundesrepublik der 1950er- und 1960er-Jahre vgl. von Oertzen, Christine, Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland , 1948–1969, Göttingen 1999.

[13] Die Fähigkeit zur beruflichen Identifizierung wurde Arbeiterinnen aufgrund einer häufig fehlenden formalen Qualifikation und der schlechten Bezahlung von Vertretern der deutschen Sozialgeschichte lange Zeit dezidiert abgesprochen und als ein Faktor diskutiert, weshalb Arbeiterinnen weniger „klassenfähig“ gewesen seien. Trotz Erwerbsarbeit wurden stattdessen in „Ehe und Mutterschaft“ die „konstatierenden Merkmale ihrer Identität“ gesehen. Vgl. Canning, Kathleen, Geschlecht als Unordnungsprinzip. Überlegungen zur Historiographie der deutschen Arbeiterbewegung, in: Schissler, Hanna (Hg.), Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel, Frankfurt am Main 1993, S. 140, 147.

[14] In den Jahren 1969 bis 1974 arbeiten zwischen 15 und 30 Arbeitsmigrant/innen aus Italien, Portugal, der Türkei, Griechenland und Jugoslawien in der Glashütte Süßmuth, womit diese Gruppe ungefähr zehn Prozent der Belegschaft ausmachte. In den Gremien der Selbstverwaltung waren sie nicht vertreten. Über ihre Wahrnehmungen von den Arbeits- und Lebensrealitäten in der Glashütte Süßmuth sind so gut wie keine Dokumente überliefert.

[15] Die nachweislich erste Betriebsbesetzung in der Geschichte der Bundesrepublik erfolgte stattdessen fünf Jahre später in der Zementfabrik Seibel & Söhne in Erwitte. Vgl. Braeg, Dieter (Hg.), „Wir halten den Betrieb besetzt“. Texte und Dokumente zur Betriebsbesetzung der Zementfabrik Seibel & Söhne in Erwitte im Jahre 1975, Berlin 2015.

[16] Vgl. Stellungnahme des Magazinleiters in seiner Funktion als Vorsitzender der Gesellschafterversammlung im Rundfunkbeitrag „280 Arbeiter = 280 Chefs“ der Sendung „Welt von heute“ (Südwestrundfunk), Manuskript von Peter Marchal, gesendet am 4. August 1971, in: FHI Dortmund, Schöf-1212; Gespräch von Erasmus Schöfer mit einer Gruppe von Beschäftigten am 19. März 1973, Teil 2, 5. Minute, in: FHI Dortmund, Schöf-1230.



  • Canning, Kathleen, Geschlecht als Unordnungsprinzip. Überlegungen zur Historiographie der deutschen Arbeiterbewegung, in: Schissler, Hanna (Hg.), Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel, Frankfurt am Main u.a. 1993, S. 139–163.
  • Fabian, Franz, Arbeiter übernehmen ihren Betrieb oder Der Erfolg des Modells Süßmuth, Reinbek 1972.
  • Hausen, Karin, Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 22012.
  • Schöfer, Erasmus, Zwielicht. Die Kinder des Sisyfos, Berlin 22011.
  • Wajcman, Judy, Women in Control. Dilemmas of a Workers’ Co-operative, New York 1983.

Über Arbeit und Politik in der Re/Produktion. Die Arbeiterinnen der selbstverwalteten Glashütte Süßmuth im Gespräch mit Erasmus Schöfer (2. September 1973)[1]

[Das Gespräch fand am 2. September 1973 bei Kaffee und Kuchen in einem Raum des Betriebs statt. Die Gliederung des von Erasmus Schöfer moderierten offenen Gruppengespräch wurde im folgenden Transkript-Auszug in der Grundstruktur beibehalten, einzelne Gesprächsteile wurden jedoch entlang der im Essay vorgenommenen Schwerpunktsetzung verschoben.]

I Die Arbeitsbedingungen in der Produktion

[…]

Erasmus Schöfer: Als was haben sie gearbeitet damals [vor der Betriebsübernahme, CM]?

Sprengerin: Ich hab, von Anfang an war ich in der Sprengerei.

Frühere Kollegin: Ich hab mehrere Arbeiten gemacht – erst Schleifen, ist mir sehr schwer gefallen. Vor allem wegen dem Augenlicht [war das] sehr schlecht. Da war das Tageslicht und nachher dann durch das bunte Glas haben die Augen furchtbar gelitten. Da hab ich mich dann bemüht, dass ich eine andere Arbeit kriege. Dann hab ich gesprengt und dann bin ich ans Kühlband, fast drei Jahre. War immer mal da und mal da – hatte eine Zeit lang keine feste Arbeitsstelle. Musste aber noch nebenbei noch sprengen, weil zu wenig Arbeit [am Kühlband] war. […] Es war eine Zeit sehr gut, eine Zeit war aber auch alles kaputt.

Kühlbandabnehmerin: Aber es geht, es geht [jetzt]. Das liegt auch an den neuen Kühlbändern jetzt. Ist ja alles neu gemacht worden.

Frühere Kollegin: [unverständlich] ... gibt einige Probleme mit den neuen Kühlbändern!

Sprengerin: Das war jetzt erst, letzte Woche, das so viel kaputt gegangen ist. Davor ist das noch häufiger passiert. Da haben wir das [Glas, CM] mit der Schippe heruntergenommen.

Frühere Kollegin: Erst gab es Wochen, wo es nachgekühlt werden musste – dann war es zu heiß. Da kriegten sie gar nichts raus.

Sprengerin: Früher ist das viel passiert. Das war sehr schlimm [unverständlich]. Jetzt mit den neuen Kühlbändern ist es schon wieder besser.

Frühere Kollegin: Früher wurde das Essen auf dem Kühlbändern warm gemacht. Konnte ich Bratwurst und Spiegelei braten. Das war ganz toll auf meinem Kühlband.

Kühlbandabnehmerin: Geht heute nicht mehr.

Frühere Kollegin: Also es war vorher auch eine schöne Zeit gewesen. Mittags kamen die Frauen und haben ihr Töpfchen drauf gestellt.

Erasmus Schöfer: Und das haben Sie dann einmal durchlaufen lassen?

Frühere Kollegin: Nein oben auf dem Deckel drauf. Da sind doch die Klappen da und da haben wir es oben drauf gestellt. Und diese Ausländer-Frau, diese Familie da aus Griechenland, ne, die kamen da immer Mittags da, ne, zum Essen warm machen. Da haben wir ein schönes Eckchen da eingerichtet, da an meinem Arbeitsplatz, und da haben wir uns da immer schön wohl gefühlt.

Sprengerin: War früher auch eine schöne Zeit. Ist wirklich wahr.

Frühere Kollegin: Obwohl der Winter war auch nicht angenehm – da haben wir sehr gefroren. Bei uns am Kühlband, wo ich stand, da hat es furchtbar reingezogen, weil das Dach oben alles kaputt war. Und da standen wir da mit Schal [...] und waren richtig eingemummst waren wir, ne.

Sprengerin: Hauptsächlich die Finger, oh weih.

Frühere Kollegin: Im Sommer konntest du es nicht aushalten vor Hitze und im Winter hast du keine Wärme gefunden. War eiskalt.

Sprengerin: Das geht heute auch. Weil jetzt das eine Kühlband, was vorne durchläuft [unverständlich] Heute ist es so warm! Oh, also ganz furchtbar, was wir früher um diese Zeit schon gefroren haben, [...].

[…]

Kühlbandabnehmerin:…ist aber heute viel schlimmer geworden, [Anrede der früheren Kollegin mit Vornamen], was müssen wir heute alles machen. […] Guck mal: Damals war's nicht wie heute - was müssen wir heute durchzählen: Glasfehler, Arbeitsfehler - alles was ist weg ...

Sprengerin: Nur ein gutes, wir haben jetzt Wagen und brauchen keine Kisten mehr heben. Das macht auch schon viel aus. Was musste ich damals Kisten schleppen! Also, ich weiß nicht, ob das ein Mann lange gemacht hätte .[…]

Frühere Kollegin: Freitags war kein Mann da - die Kühlbänder. Das mussten wir alles alleine machen. Wir mussten uns gegenseitig mal ein bisschen helfen. Und das waren diese schweren Zylinder und das schwere Zeug von der Beleuchtung. Na wir zwei haben uns gegenseitig geholfen. Wir standen ja nebeneinander. Aber meine eine Kollegin, die ein bissl weiter weg war - die hat dann auch manchmal gerufen, aber meistens hat sie auch alles selber gemacht. Es war schon sehr schwer auch für die Frauen. Also arbeitsmäßig war es nicht schön.

Sprengerin: Doch heute geht das prima!

[...]

Erasmus Schöfer [gerichtet an frühere Kollegin]: Und warum sind Sie weggegangen?

Frühere Kollegin: Die Schwiegermutter war damals schwer krank. Und das da immer einer da war. Nachts war mein Mann da und tagsüber war ich zu Hause. [Pause] Hab ich dann die Nachtschichtstelle bei der Post übernommen, weil wir konnten auf das Geld nicht verzichten - da hab ich ein großes Opfer gebracht! [Pause] Naja.

Erasmus Schöfer: Aber Sie waren demnach dann sehr gerne in der Hütte?

Frühere Kollegin: Ja, ich gehe heute noch gerne in die Hütte rein! [Pause] Viele fragen, wenn ich da bin und meinem Mann Essen bringe: „Wann willst du wieder anfangen?“

[...]

Erasmus Schöfer: Das Sprengen sieht so einfach aus, dass man eben bloß so mit der Flamme ...

Sprengerin: Ist aber nicht so einfach!

Frühere Kollegin: Man muss alles genau wissen.

Sprengerin: Und dann muss es immer so gerade sein. Gerade bei den Zylindern, jetzt bei den Schaum[glaszylindern] – die werden ja nicht noch einmal geschliffen, die meisten. [...]

Frühere Kollegin: Weißt du was ich schlecht finde: Diese Beleuchtung da [unverständlich]

Sprengerin: Ja, ja, [...] das war auch so eine Sache - diese schräge Beleuchtung! Statt gerade gesprengt, werden sie schräg abgesprengt.

Frühere Kollegin: ...das ging ganz schlecht! Ach die ersten – und mein Herz hat geklopft und da steht er [der Vorgesetzte] und guckt also... [unverständlich]

Sprengerin: ...ich weiß nicht, was kaputt geht, geht kaputt! [unverständlich]

Frühere Kollegin: [unverständlich] Er ging weg und dann ging es auch. Und als er wieder kam, ging es wieder kaputt. [Lachen]

Sprengerin: Genauso hat er [einer anderen Kollegin] immer Vorschriften gemacht: „Kein Wasser nehmen!“ oder „Nicht so viel anreißen!“ Ich sage: Sollte einmal zu mir einer kommen und mir sagen, wie ich zu sprengen habe! Und wenn es der [Betriebsleiter] ist! Ich sage: Ich sprenge, nicht Sie! Und das hat mein Mann auch [dem Betriebsleiter] gesagt: „Gehen Sie mal zu meiner Frau und sagen Sie mal, wie die sprengen soll.“ [Lachen] Ich lass mich nicht belehren!

Freundin: Na vor allem, wenn man es kann!

Sprengerin: Na, deswegen! Ich hab so lange gesprengt! Ich weiß, wie ich zu sprengen habe. Jedes Glas ist wieder anders. Da muss man wieder anders [absprengen] – einmal mehr und einmal weniger, ne.

[...]

II Die Betriebsübernahme und Selbstverwaltung

Erasmus Schöfer: Man müsste mal versuchen, zu erzählen, wie das so angefangen hat. Also da im Sommer 1969. Wenn Sie sich daran noch erinnern. Vielleicht, wenn Sie sich auch mal erinnern, wann ihr Mann das erste Mal was davon erzählt hat, dass es jetzt hier so kriselt in der Hütte und dass da eine Belegschaftsversammlung war und so was.

Freundin: Ach du liebe Zeit.

Erasmus Schöfer: Ob Sie sich daran noch erinnern? [Pause]

Kühlbandabnehmerin [zögerlich]: Na, dann vor der Zeit, nach der Zeit, wie Süßmuth nicht abgeben wollte. Dann fing es ja erst richtig an. Wo man nur laufend dachte: Was wird? Werden wir die Arbeit verlieren oder nicht?

[…]

Erasmus Schöfer: Aber selbst mitgemacht haben Sie nicht beim Flugblätter verteilen? Oder wo haben die Frauen denn da mal mitgemacht?

Kühlbandabnehmerin: Wir haben nur alle mitgemacht, wie es dann so weit war, dass wir alles aufgeben sollten.

Frühere Kollegin: Da hat sich dann hier die Familie beteiligt.

Kühlbandabnehmerin: Bei dem [Protestzug durch Immenhausen, CM].

Sprengerin: Also ich hatte zu meinem Mann gesagt damals: „Weißt du, was wir machen? Ich wollte mich mit so ein paar Frauen zusammentun...“ Ich habe so einen Vorschlag gemacht und das hätte ich auch gemacht. Zusammentun und dann hoch zum Süßmuth, ne. Und dann hätten wir gesagt, wie das ist. Aber danach gingen sie dann - nächsten Tag oder wann, ich weiß es nicht mehr, - mit dem Sarg dann.[2] Das hat dann gewirkt. [Pause] Also ich wär' hochgegangen! Ich hätte ihm das...

[…]

Erasmus Schöfer [zur Freundin]: Warum sind Sie denn nicht mitgegangen bei dem Zug?

Freundin: Ja, das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Ich weiß es nicht.

Erasmus Schöfer: Na, ich mein nur, ob sie nicht wollten, nicht sollten – von ihrem Mann aus oder so?

Freundin: Nee, also dass ich nicht sollte, nein. Vielleicht wollte ich auch nicht – vielleicht wegen den Kindern. Ich weiß es nicht.

Sprengerin: Ich bin damals auch nicht mit![3]

Erasmus Schöfer: Nee? Na, ich hab nur gehört, dass Verschiedene [Frauen, CM] auch nicht wollten, einfach, aus Überzeugung, weil Sie es nicht gut fanden oder so.

Freundin: Nee, nee. Wenn mein Mann da mit geht. Ich glaube, dass ich da eine Stimme hab mit meinem Mann in dieser Richtung. Nee, das ich dagegen war nicht, deswegen nicht – muss irgend ein anderer Grund gewesen sein.

Erasmus Schöfer [zu Sprengerin]: Und warum sind Sie nicht mitgegangen?

Sprengerin: Zu dieser Zeit war unser Kind noch ziemlich klein. Ich glaube, es war auch nicht … wegen ... das Wetter war nicht so gut ... Weiß auch nicht genau.

Kühlbandabnehmerin: Es war auch kalt. Es hatte geschneit! […]

Sprengerin: Mitgegangen wäre ich dann auf alle Fälle!

Frühere Kollegin: Ich hab nicht mehr [hier] gearbeitet und bin trotzdem mit [gegangen]. Ich mein, das war praktisch so - man musste auch kämpfen! Wenn der Mann noch da ist ...

Sprengerin: Ja sicher!

Kühlbandabnehmerin: Das ging ja alle an! Das ging ja alle an!

Sprengerin: Ich wollte dann später auch wieder [hier] arbeiten gehen.

Erasmus Schöfer: Hat man das denn nun gemerkt, zum Beispiel beim Einkaufen im Dorf? Haben die Leute da drüber gesprochen?

Frühere Kollegin: Wird viel, wird viel gesprochen!

Kühlbandabnehmerin: Sehr viel. Es wurde sehr viel da drüber gesprochen!

Frühere Kollegin: Es war praktisch … also ganz Immenhausen, kann man bald sagen, war alles im Aufruhr. Die Geschäftsleute vor allen Dingen. Die haben sich auch viel mit beteiligt. Einzelne waren dagegen, die Einen waren dafür.

Freundin: Ich würde sagen, der ältere Teil hat doch mehr zum Süßmuth gehalten, als wie zu den jungen Leuten da, die jetzt da versucht haben aus diesem Zusammenbruch irgendwie noch was zu machen.

Frühere Kollegin: Ja, das habe ich eben gemeint. Es waren viele, ein Großteil dagegen. [...] Wurde gesagt: „Was wollt ihr machen? Der arme Mann [Richard Süßmuth]! Ihr müsst daran denken, der hat alles aufgebaut!“. Ich sagte: „Das wissen wir selbst auch! Das geht ja nicht darum. Es geht ja jetzt um den Arbeitsplatz – von so vielen Menschen.“ [Pause] […] Grad so ältere Leute, so ältere Damen, die haben sich natürlich sehr eingesetzt für den Süßmuth. Das kann ich persönlich auch sagen. Also die haben da nur geschimpft gegen die Arbeiter.

Freundin: Na vor allen Dingen schon dagegen, dass was Neues geschaffen wurde. Das ist ja das gewesen, ne. Ich glaube, dass findet man überall.

Frühere Kollegin: „Ihr könnt doch zufrieden sein und jeder hat doch sein Brot verdient“ hat es geheißen da und „jetzt ist keiner mehr zufrieden“. Da fingen sie erst mal so an. Und wie sie dann gehört haben, dass praktisch alles so pleite geht, da haben sie auch wieder ein bissl anders geredet, ne. [Pause]

Erasmus Schöfer: Und wodurch haben sie das erfahren? Durch die Zeitung oder...?

Frühere Kollegin: Naja, es wird ja viel gesprochen. Eben grade so, wenn wir sagen, beim Fleischer und so. Wie die haben gefragt, ne. Das hat sich halt herumgesprochen. In der Zeitung war es ja praktisch weniger, also, ich glaube nicht....

Arbeitskollege: Ja, in der ersten Zeit, nicht. [Da gab es noch keine Berichterstattung, CM]

[…]

Erasmus Schöfer: Naja, und wie das dann passiert war – die Übergabe. Kann man davon noch was erzählen? Hat sich das Klima so verändert, auch zu Hause? Haben Sie [gerichtet an die Freundin] das dann zum Beispiel bei Ihrem Mann gemerkt? War er dann wieder lustiger?

Freundin: Was heißt lustiger! Dann kam die Arbeit erst mal. Die vielen Überstunden, die sie gemacht haben, um da wirklich was zu unternehmen, damit der Betrieb erneuert wird. Die ganzen Öfen, die neue Öfen, die sie gesetzt haben. Die alten Öfen abgerissen. Das haben sie alles nach der Arbeit getan. Das war natürlich weniger schön, wenn sie jeden Arbeit bis spät in die Nacht rein weg waren.

[…]

Erasmus Schöfer: Na ich könnte mir vorstellen, dass es halt auch richtige Schwierigkeiten zu Hause gegeben hat, so - Wenn man also den Mann so wenig zu Hause gesehen hat und so. Da wird man ja auch dann mal ungeduldig und ...

Frühere Kollegin: Na wir haben ja Verständnis gehabt! Wir dachten ja auch, dass muss jetzt sein, wegen zum Vorankommen. Sie haben das übernommen und sie sind auch [unverständlich], dass muss alles – wie soll man sagen...

Kühlbandabnehmerin: ...[dass es] bergauf geht!

Erasmus Schöfer: Naja, der [eine Glasmacher] hat erzählt, dass er dann oft bis Nachts, wer weiß wie lang [aufgrund der Kreditverhandlungen, CM] in [beim Wirtschaftsministerium, CM] Wiesbaden war. Morgens dann gleich wieder um sechs dann an die Arbeit. Dann kaum zum Schlafen gekommen. Oder die Frau [des anderen Glasmachers] hat da auch mal angedeutete, dass, also wirklich, wenn sie nicht so viel Geduld gehabt hätte, dann wäre ihre Ehe daran gescheitert.

Sprengerin: Ja, das glaub ich auch! Mein Mann war meistens mit [Name des Kollegen] weg.

Frühere Kollegin: Hm, die haben sich schwer eingesetzt für die Kollegen. Das stimmt.

Sprengerin: Manchmal spät in der Nacht nach Hause gekommen. [Pause]

[…]

Erasmus Schöfer: Ja und so in der jüngsten Vergangenheit – ist nun jetzt vieles anders als früher oder...?

Frühere Kollegin: Ja, es war früher auch sehr schön. [...]

[…]

III Wie stand‘s mit der Emanzipation?

Kühlbandabnehmerin: ...kommt oft vor [,dass Arbeiterinnen Kritik an den Glasmachern üben, CM.] Das kriegen sie schon mal! [Lachen]

Sprengerin: Ja, oft! Bei uns wird zu Hause auch gearbeitet! [Lachen]

Arbeitskollege: Ja, ist auch nicht schlimm.

Kühlbandabnehmerin: Die [Glasmacher] lachen dann und sagen „Mach du‘s besser!“, aber...

Sprengerin: Ja, das muss auch! Wenn ich weiß, dass er es besser machen kann, dann soll er es auch das nächsten Mal besser machen. Ich muss meine Arbeit auch ordentlich machen!

Frühere Kollegin: Bei Arbeitsfehlern – wenn ich sage, da sind ganz viele Fehler – da geht er gleich auf 180!

Kühlbandabnehmerin [lachend]: Da gehen sie [die Glasmacher] auf 180, ja!

Sprengerin: Da sagt er [mein Mann] zu mir schon immer: „Bei mir schimpfst du immer, aber bei den anderen?“ Sag ich: „Ja, nu – bei den anderen geh ich auch hin, wenn irgendwas nicht richtig ist!“

Frühere Kollegin: Ja, ist ja deine Pflicht. Du musst ja hingehen, ne. Und du sollst ja sogar auch! Das weiß ich auch schon, wenn es viele Arbeitsfehler gibt, musste gleich hin...

Sprengerin: Ja, denn sonst ist nächstes Mal wieder der selbe Fehler!

Frühere Kollegin: Ja, sie müssen ja auch die Fehler herausfinden, nicht, wo es dran liegt und so.

Erasmus Schöfer: So, aber sonst ist es mit der Emanzipation noch nicht so weit, auf dem Dorf, scheinbar!

Freundin atmet tief ein, lacht.

Kühlbandabnehmerin: Aber, Herr Schöfer, wir haben doch kein Dorf! [Lachen]

Frühere Kollegin: Stadt Immenhausen!

Erasmus Schöfer: Ja, aber es wirkt schon recht ländlich.

Frühere Kollegin: Früher vielleicht mal. Ist schon ein Städtchen geworden!

Kühlbandabnehmerin: Ja schon, aber da hätten sie früher mal hier sein - [19]51 oder 52, wie wir hier sind her gekommen. Ah Gott! Da war es ein Dorf!

Frühere Kollegin: Armseliges Dorf!

Kühlbandabnehmerin: Ganz armselig.

Sprengerin: Aber in Immenhausen kann man sich wohlfühlen, also ist wirklich wahr!

[…]


[1] Interview mit Arbeiterinnen der Glashütte Süßmuth, 2. September 1973; Ort des Interviews: Immenhausen; Interviewer: Erasmus Schöfer; Dauer des Interviews: ca. 80 Minuten; Format: 4 Tonbandspulen in: Archiv des Fritz-Hüser-Instituts Dortmund, Schöf-1230; Transkript: Christiane Mende (im Besitz der Autorin). Für die Einwilligung zur Veröffentlichung danke ich Erasmus Schöfer und dem Fritz-Hüser-Institut.

[2] Mit dem Protestzug führten die Beschäftigten in einem Sarg symbolträchtig ihre Hoffnungen „zu Grabe“, weil Richard Süßmuth ihnen nicht den Betrieb übergeben wollte. Zum damaligen Zeitpunkt war die Belegschaftsübernahme als einzige Option übrig geblieben, das Unternehmen vor dem Konkurs zu retten.

[3] Während dieser Zeit befand sich diese Arbeiterin in Elternzeit und nahm erst ein Jahr nach der Übernahme wieder ihre Arbeit im Betrieb auf.


Für das Themenportal verfasst von

Christiane Mende

( 2017 )
Zitation
Christiane Mende, Arbeiterinnenselbstverwaltung? Normalität und Aufbruch im Arbeitsalltag der Belegschaftseigenen Glashütte Süßmuth, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2017, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1703>.
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