Weimarer Intellektuelle und das Projekt deutsch-französischer Gesellschaftsverflechtung.

Im Jahre 1928 lancierte die Redaktion der „Deutsch-Französischen Rundschau“ eine Enquête, in der bekannte und einschlägig ausgewiesene Wissenschaftler und Schriftsteller dazu befragt wurden, wie sich aus ihrer Sicht die deutsch-französischen Beziehungen praktisch verbessern ließen. Die Initiative ging von den Berliner Gründern der Deutsch-Französischen Gesellschaft (DFG) aus, die Ende 1927 ins Leben gerufen wurde.[...]

Weimarer Intellektuelle und das Projekt deutsch-französischer Gesellschaftsverflechtung[1]

Von Hans Manfred Bock

Im Jahre 1928 lancierte die Redaktion der „Deutsch-Französischen Rundschau“ eine Enquête, in der bekannte und einschlägig ausgewiesene Wissenschaftler und Schriftsteller dazu befragt wurden, wie sich aus ihrer Sicht die deutsch-französischen Beziehungen praktisch verbessern ließen. Die Initiative ging von den Berliner Gründern der Deutsch-Französischen Gesellschaft (DFG) aus, die Ende 1927 ins Leben gerufen wurde. Diese begann sich in den Jahren 1928 bis 1930 in mehreren deutschen Großstädten zu etablieren, wobei alle Mitglieder der Gesellschaft die Deutsch-Französische Rundschau als Publikationsorgan bezogen.[2]

Auf die Fragen antworteten rund zwei Dutzend namhafte Intellektuelle, ihre Stellungnahmen wurden in der Deutsch-Französischen Rundschau abgedruckt. Neun dieser Einlassungen kamen von französischen, dreizehn Texte von deutschen Autoren. Auf der französischen Seite befanden sich neben Wissenschaftlern und Publizisten auch zwei führende Politiker (Edouard Herriot und Paul Painlevé); die deutschen Teilnehmer waren ausschließlich Wissenschaftler und Schriftsteller, die, obgleich jeweils durch sehr unterschiedliche Wertvorstellungen und Milieuzugehörigkeiten geprägt, gleichwohl alle Anhänger der Republik waren.[3]Dem praxisnahen Duktus der Fragen folgend fielen die Antworten durchaus konkret und konstruktiv aus. Davon geben die folgenden Auszüge aus den Texten von einem Wissenschaftler und zwei Schriftstellern aus Deutschland einen Eindruck, die in je eigener Weise und ihrem Erfahrungsbereich entsprechend praktische Vorschläge zur deutsch-französischen Verständigung von der gesellschaftlichen Basis her formulierten.

Die Mitglieder der DFG und Abonnenten ihrer Monatsschrift gehörten ganz überwiegend dem Bildungsbürgertum an. Wie die Auswertung der publizierten Mitgliederlisten zeigt, waren Lehr- und Verwaltungsberufe überrepräsentiert (Lehrer 8,8 Prozent, Hochschullehrer 4,7 Prozent, Öffentliche Verwaltung 7,4 Prozent, Promovierte ohne Berufsangabe 8,7 Prozent).[4]Die DFG war mit ihren rund 2.700 Mitgliedern eine kleine, aber keineswegs unbedeutende Vereinigung. Als „zwischenstaatliche Gesellschaft“ versuchte sie, den „Geist von Locarno“, also die mit dem Locarno-Vertrag vom Oktober 1925 diplomatisch eröffnete Perspektive der Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland, in die lebensweltlichen Zusammenhänge der Weimarer Republik hineinzutragen.[5]Überdies stand die Vereinigung, die ihre stärksten Stützpunkte in Berlin, Frankfurt am Main und Stuttgart hatte, im fortgesetzten Kontakt mit der „Ligue d’études germaniques“ (LEG) in Frankreich.[6]Diese hatte soziologisch ein etwas anderes Profil und organisierte, mehr noch als die DFG, die Gymnasial- und Hochschullehrer (vor allem der Fachrichtung Deutsch). Mit zwölf Ortsgruppen stellte die LEG während der späten 20er und frühen 30er Jahre in Frankreich, was das Ziel einer Vermittlung von Kontakten zu und Kenntnissen von Deutschland anbelangt, die stärkste organisierte Kraft dar.

Angesichts der verheerenden materiellen und mentalen Folgen des Ersten Weltkrieges in beiden Nationen war die transnationale Kommunikation, so wie sie den Mitgliedern der DFG wie der LEG vorschwebte, ein anfälliges, fragiles Vorhaben von geringer unmittelbarer Wirkungsmächtigkeit. Zu seiner Marginalität trug nicht zuletzt bei, dass die aus den genannten Gründen ohnehin schwachen gesellschaftlichen Kräfte einer Verständigung mit Frankreich in der Weimarer Republik auch überdies intern fraktioniert waren. Die Deutsch-Französische Gesellschaft war zwar die größte, jedoch nicht die einzige Verständigungsorganisation. Zum Zeitpunkt der Gründung der DFG bestanden bereits zwei andere Vereinigungen, die sich zum Ziel gesetzt hatten, die im Krieg errichtete Mauer der mentalen Abgrenzung zwischen den beiden Nationen durch neue grenzübergreifende gesellschaftliche Kommunikation abzutragen. Gemeinsam war diesen beiden Organisationen mit der DFG, dass sie erstens eng mit bestimmten gesellschaftlichen Milieus verbunden waren, zweitens auch organisatorische Ansprechpartner in Frankreich hatten und dass sie drittens – über das bilaterale Verständigungsziel hinaus – als Protagonisten je eigener Entwürfe einer übernationalen Integration Europas in Erscheinung traten. Während die DFG bildungsbürgerlich geprägt war, war die 1922 gegründete „Deutsche Liga für Menschenrechte“ im sozialdemokratischen Milieu verankert und das 1926 ins Leben gerufene „Deutsch-Französische Studienkomitee“, auch „Mayrisch-Komitee“ genannt, seinerseits ein Produkt der wirtschaftsbürgerlichen Eliten in Deutschland und Frankreich.[7]Für die Repräsentanten dieser Organisationen hatte die (Wieder-)Aufnahme des Kontakts zwischen Deutschen und Franzosen in möglichst vielen lebensweltlichen Bereichen der Gesellschaft, in Wirtschaft, Kultur und Verwaltung, die oberste Priorität. Dieser klare Vorrang der deutsch-französischen Versöhnung beruhte nicht zuletzt auf der zentralen Rolle, die der deutsch-französische Konflikt für eine europäische Friedensordnung spielte. In der Regel verband sich mit dem bilateralen Nahziel auch eine Konzeption der übernationalen europäischen Neuordnung. In der Deutschen Liga für Menschenrechte (DLfM) galt die „Republikanisierung und Vereinheitlichung Europas“ als das erstrebenswerte Fernziel, das in der Form der „Vereinigten Staaten von Europa“ im Rahmen des Völkerbundes Gestalt annehmen sollte.[8]In der Deutsch-Französischen Gesellschaft hingegen gab es eine ausgeprägte personelle und ideelle Affinität zur Paneuropa-Bewegung sowie zum „Europäischen Zollverein“. Hinzu kam eine entschiedene Ablehnung des in der DLfM vorherrschenden Pazifismus.[9]Das Deutsch-Französische Studienkomitee erfüllte im Wesentlichen die Funktion einer länderübergreifenden Vermittlungs- und Schlichtungsstelle für die kartellpolitisch aktiven Großindustriellen des Montan-, Chemie- und Nahrungsmittelbereichs.[10]Im Gegensatz zur DFG, deren Vertreter im Übrigen vor allem der DVP und dem Zentrum nahe standen, unterhielt es eine – obschon nicht ganz offizielle – Verbindung zum neokonservativen, von Anton Prinz Rohan ins Leben gerufenen „Europäischen Kulturbund“.[11]

Die weit reichenden Unterschiede zwischen den verschiedenen, an der deutsch-französischen Verständigung interessierten Organisationen sind unübersehbar. Dennoch kann hier von einem Feld organisierter gesellschaftlicher Verständigungsinitiativen gesprochen werden, zumal, wenn man den Blick auf die Wort führenden Intellektuellen sowie auf die von ihnen formulierten Vorstellungen von transnationaler Kommunika­tion und interkulturellem Lernen lenkt. Von unterschiedlichen Seiten gleichzeitig wurde hier erstmals in der Geschichte der bilateralen Beziehungen das Projekt einer deutsch-französischen Gesellschaftsverflechtung artikuliert. Unter dem Eindruck der politisch-diplomatisch unlösbar erscheinenden Probleme der Versailler Nachkriegsordnung, und insbesondere auch während der Locarno-Ära von 1925 bis 1930 zeitweilig von der Hoffnung auf eine konstruktive Annäherung beider Nationen angeregt, entdeckten einige Intellektuelle in Ergänzung zu den Verhandlungen auf der diplomatischen Ebene die Gesellschaft beider Seiten als sinnvolle Vermittlungsinstanz. Die in den jeweiligen Gesellschaften verankerten Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen sollten als Fundament für die Vorbereitung und Festigung künftiger politischer Problemlösungen dienen, die deutsch-französische Gesellschaftsverflechtung wurde so Programm.

Zu bemerken ist in diesem Zusammenhang, dass die so entwickelten Ideen zur Förderung der deutsch-französischen Gesellschaftskontakte den Maßnahmen der staatlichen auswärtigen Kulturpolitik, die in der Weimarer Republik noch in den Anfängen steckte, grundsätzlich immer vorausgingen.[12]Dies gilt für den Bereich des Schüler-, Studenten-, Lehrer- bzw. Professoren-Austausches[13]genauso wie für die Begegnung von anderen Berufsgruppen sowie Wirtschafts- und Kulturvertretern. Beachtenswert ist es auch, dass fast alle der Vorschläge, die in der „Enquête“ der DFG von 1928 gemacht wurden, nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland wieder aufgegriffen und – allerdings mit unterschiedlichem Erfolg – in die Praxis umgesetzt werden sollten.[14]Die deutsch-französische Verständigung galt bereits den Enquête-Teilnehmern von 1928 nicht als Selbstzweck, sondern als erster Schritt zur Vereinigung Europas. Das Projekt Gesellschaftsverflechtung, in dem friedenssichernde, wirtschaftliche und kulturelle Motive zusammenkamen, war durchdrungen von dem Willen zur Integration Europas auf allen diesen Ebenen. Um noch einmal Arnold Zweig zu Worte kommen zu lassen: „Wir wollen nicht, daß dies Festland, auf dem seit Jahrhunderten alle Entscheidungen über die ganze Erde gefallen sind, zu einem kläglichen, absterbenden, von Streitsucht zerrissenen Vasallen anderer Kontinente werde […]. Macht die Grenzen gleichgültig den Politikern, so wie sie den wahren Geistigen gleichgültig sind. Und in fünfzig Jahren wird das geeinte Europa eine ebensolche Selbstverständlichkeit sein und ebenso auf wirtschaftlicher und geistiger Basis zustande gekommen sein, wie das geeinigte Deutschland uns Vierzigjährigen eine Selbstverständlichkeit war“.[15]



[1] Essay zur Quelle Nr. 7.2, Enquête der Deutsch-Französischen Gesellschaft von 1928 über die Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen.

[2] Vgl. Belitz, Ina, Befreundung mit dem Fremden. Die Deutsch-Französische Gesellschaft in den deutsch-französischen Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen der Locarno-Ära, Frankfurt am Main 1997.

[3] Die deutschen Autoren waren: August Gallinger, Paul Hartig, Georg Kartzke, Robert Kauffmann, August Müller, Gustav Radbruch, Leo Spitzer, Karl Stählin, Ernst Toller, Berthold Widmann, Arnold Zweig, Stefan Zweig und Klara Fassbinder. Die französischen Beiträger waren: Edouard Herriot, Paul Painlevé, Maurice Boucher, Paul Dubray, Wladimir Comte d’Ormesson, L. Rivaud, Christian Sénéchal, René Lauret und Léon Blin. Text und Kontext der französischen Antworten mussten aus Platzgründen leider entfallen.

[4] Siehe dazu Bock, Hans Manfred, Die Deutsch-Französische Gesellschaft 1926 bis 1934. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der deutsch-französischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, 17/3 (1990), S. 57-101, hier S. 80ff.

[5] Zur diplomatiegeschichtlichen Entwicklung siehe Knipping, Franz, Deutschland, Frankreich und das Ende der Locarno-Ära 1928-1931, München 1987.

[6] Siehe dazu Bock, Hans Manfred: Les associations de germanistes français. L’exemple de la Ligue d’Etudes Germaniques, in: Espagne, Michel; Werner, Michael (Hg.): Histoire des études germaniques en France (1900-1970), Paris 1994, S. 267-285.

[7] Vgl. dazu Bock, Hans Manfred, Heimatlose Republikaner in der Weimarer Republik. Die Deutsche Liga für Menschenrechte (vormals Bund Neues Vaterland) in den deutsch-französischen Beziehungen, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France. Vergleichende Frankreichforschung 23/1 (1998), S. 68-102, und Müller, Guido, Deutsch-französische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, Habilitationsschrift Aachen 1997.

[8] Vertreten z.B. von Harry Graf Kessler, Otto Lehmann-Rußbüldt, Robert Kuczynski und Kurt Grossmann.

[9] Als namhafte Repräsentanten der DFG können gelten Otto Grautoff, Edgar Stern-Rubarth und Gottfried Salomon.

[10] Dazu umfassend Müller (wie Anm. 7). Prominente Intellektuelle der Weimarer Republik, die in das Mayrisch-Komitee kooptiert wurden, waren v.a. Ernst Robert Curtius und Arnold Bersträsser.

[11] Dazu und zu dessen einflussreicher Kulturzeitschrift „Europäische Revue“ siehe Bock, Hans Manfred, Das „Junge Europa“, das „Andere Europa“ und das „Europa der Weißen Rasse“. Diskurstypen in der Europäischen Revue 1925-1939, in: Grunewald, Michel (Hg.): Le discours européen dans les revues allemandes (1933-1939). Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1933-1939), Bern 1999, S. 311-351.

[12] Dazu noch immer der beste Gesamtüberblick: Laitenberger, Volkhard, Akademischer Austausch und auswärtige Kulturpolitik, Göttingen 1976. Vgl. auch die einschlägigen Beiträge in Bock, Hans Manfred; Meyer-Kalkus, Reinhart; Trebitsch, Michel (Hg.), Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, 2 Bde, Paris 1993.

[13] Zu den praktischen Umsetzungsversuchen in diesem Bereich siehe Tiemann, Dieter, Deutsch-französische Jugendbeziehungen der Zwischenkriegszeit, Bonn 1989, bes. S. 166-338.

[14] Durch zahlreiche Beispiele belegt in Bock, Hans Manfred (Hg.), Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998, und Ders. (Hg.), Deutsch-französische Begegnung und europäischer Bürgersinn. Studien zum Deutsch-Französischen Jugendwerk 1963-2003, Opladen 2003.

[15] Zweig, Arnold, Zur deutsch-französischen Verständigung, in: Deutsch-Französische Rundschau 1928, S. 1001.

 


Literaturhinweise:
  • Belitz, Ina, Befreundung mit dem Fremden. Die Deutsch-Französische Gesellschaft in den deutsch-französischen Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen der Locarno-Ära, Frankfurt am Main 1997
  • Bock, Hans Manfred, Die Deutsch-Französische Gesellschaft 1926 bis 1934. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der deutsch-französischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 17/3 (1990), S. 57-101
  • Ders. (Hg.), Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998
  • Knipping, Franz, Deutschland, Frankreich und das Ende der Locarno-Ära 1928-1931, München 1987
  • Müller, Guido, Deutsch-französische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, Habilitationsschrift Aachen 1997

Deutsch-Französische Gesellschaft: Enquête über die Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen (1928)[1]

Der Vorstand der Deutsch-Französischen Gesellschaft ist aus den Kreisen seiner Mitglieder gebeten worden, unter seinen Mitgliedern, Mitarbeitern und Freunden über folgende Probleme eine Umfrage zu veranstalten:

1. Soll den Germanisten Frankreichs, Dozenten wie Studierenden, der Besuch einer Universität in Deutschland und umgekehrt den Romanisten Deutschlands das Universitätsstudium in Frankreich systematisch ermöglicht werden, und wie wäre die Durchführung dieser Gedanken gegebenenfalls praktisch vorzubereiten und zu verwirklichen?

2. In welchem Umfange käme ein solcher Austausch auch für Historiker, Juristen, Nationalökonomen und Techniker in Betracht?

3. Wäre es erwünscht, wenn deutsche Gymnasialpädagogen in größerer Anzahl alljährlich mit französischen ausgetauscht und den entsprechenden Unterrichtsanstalten des anderen Landes eine Zeitlang zugeteilt würden?

4. Ist es zu empfehlen und durchzuführen, dass Zeitungen, Zeitschriften und Verlagsanstalten in Deutschland französische, in Frankreich deutsche Mitarbeiter als Volontäre einstellen?

5. In welcher Weise wäre ein systematischer Austausch von Arbeitnehmern in Finanz-, Handels- und Industriebetrieben am besten zu organisieren?

[...]

Deutsch-französischer Austausch

Antworten auf unsere Umfrage [...][2]

Leo Spitzer, Dr. phil, Professor und Direktor des Romanischen Seminars der Universität Marburg.[3]

Ad 1 [...] Seit Jahren bemühe ich mich, für die besten meiner Seminarmitglieder (etwa zehn jährlich) ein Reisestipendium für etwa zwei bis drei Monate zu erhalten, das die jungen Leute in Stand setzte, noch vor ihren Prüfungen Frankreich mit eigenen Augen zu sehen. Ich lege dabei den höchsten Wert auf dies Sehen Frankreichs vor dem Eintritt der Romanisten in den Lehrberuf, weil sie noch frisch, empfindungsfähig, noch nicht durch das Pädagogische vom Sachinteresse an der Kultur Frankreichs abgezogen sind, auch die Möglichkeit haben, das von ihren Universitätsprofessoren Gehörte am Lebenden und Seienden zu überprüfen. [...]

Meine Bemühungen um solche Reisestipendien scheiterten an den politischen Bedenken der Regierung, die von einem Massenauftreten deutscher Studenten etwa auf Pariser Boden üble Konsequenzen für die deutsch-französischen Beziehungen befürchtet. [...] So wäre denn das Gebot des Augenblicks, auf unsere Regierung (oder Regierungen) dahin einzuwirken, daß sie mit der französischen ein Stipendienverfahren verabredet, nach dem etwa alljährlich 150 deutsche Romanisten nach Frankreich, 150 französische Germanisten nach Deutschland entsandt resp. mit kleinen Stipendien in der oben geschilderten Weise beteilt würden. [...]

Ernst Toller, Berlin.[4]

Der Austausch deutscher und französischer Intellektueller, Arbeiter und Studenten ist schon darum wünschenswert, weil trotz aktueller „Verständigungspolitik“ vom Wesen jenseits der Grenze wenig gewußt wird, sein Gesicht morgen schon wieder vom Trommelfeuer der Presse entstellt und zerfetzt sein kann. Staatlich organisierter Austausch genügt nicht. Ich erinnere mich daran, daß wir an unserem Gymnasium einen französischen Lehrer hatten, der wurde mißtrauisch kontrolliert und von den deutschen Lehrern als heimlicher Spion uns Schülern ziemlich deutlich denunziert. Aus der freien Initiative der Gemeinschaften, Bünde, Gruppen, Organisationen müßte der Austausch begonnen und systematisch durchgeführt werden. Ausgezeichnet war der Gedanke der Internationalen Abeiterhilfe, deutsche Arbeiterkinder zu französischen Arbeiterfamilien zu schicken. Dieses Werk sollte weiter ausgebaut werden und alle Kreise des schaffenden Volkes umfassen.

Arnold Zweig, Berlin.[5]

[...] 5. In welcher Weise ein systematischer Austausch von Arbeitnehmern in Finanz-, Handels- und Industriebetrieb am besten zu organisieren wäre? Solange die Industrien der beiden Nachbarländer und ihre Finanz- und Handelsunternehmungen in einem Zustande gegenseitigen Wettbewerbs verharren, wird man aus Gründen der Geschäftsgeheimnisse und der Bewahrung seiner eigenen Geschäftsmethoden von vornherein auf den Widerstand derjenigen Institute stoßen, die solche Anstellungen vorzunehmen hätten. Es muß daher vor allem auf eine Verbindung und Verständigung der Wirtschaftskörper beider Länder hingearbeitet werden, aus der Erkenntnis heraus, daß wirtschaftliche Konkurrenz unter so kleinen Gebilden, wie moderne Großstaaten sie wirtschaftspolitisch gesehen darstellen, nur schädigend und sogar vernichtend wirken kann. Die ungeheuren Wirtschaftsorganismen, die von den vier Hauptgruppen der Erde – englisches Imperium, Amerika, Rußland, China – dargestellt werden, verlangen, wenn man nicht die kurzsichtigste Politik treiben will, früher oder später den europäischen Zusammenschluß, d.h. die Beseitigung der Zollgrenzen von der französischen Küste bis zur Ostgrenze Polens. Innerhalb eines solchen Gebildes würde der Austausch von Angestellten sich schon daraus bezahlt machen, daß intime Sprachkenntnisse und Vertrautheit mit den jeweiligen Arbeitsmethoden der Stammländer in die neue Stellung mit eingebracht werden könnten. Heute noch Utopie, ist dieser Austausch ebenso unvermeidlich, wie heute die Anstellung eines bayerischen Volontärs in einer hamburgischen Schiffswerft oder die eines provencalischen Tippfräuleins in einer bretonischen Käsefabrik. [...]



[1] Deutsch-Französische Rundschau 1 (1928), Heft 3, S. 265-266.

[2] Die hier folgenden Antworten sind abgedruckt in: Deutsch-Französische Rundschau 1 (1928), Heft 6, S. 516-536. Weitere Antworten wurden in Heft 7, S. 605-608 publiziert. Die Antwortschreiben von Christian Sénéchal und Stefan Zweig sind vollständig wiedergegeben in: Bock, Hans Manfred, Projekt deutsch-französische Verständigung, Opladen 1998, S. 269ff.

[3] Leo Spitzer (1887-1960) wurde 1930 an die Universität Köln berufen und gründete dort ein Deutsch-Französisches Institut mit zivilgesellschaftlicher Zielsetzung.

[4] Der expressionistische Dichter und zeitweilige Sprecher der Arbeiter- und Soldatenräte in Bayern Ernst Toller (1893-1939) hatte u.a. in Grenoble studiert.

[5] Arnold Zweig (1887-1968) hatte kurz zuvor mit seinem Antikriegs-Roman „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ einen großen schriftstellerischen Erfolg erzielt.

 


Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
Für das Themenportal verfasst von

Hans Manfred Bock

( 2008 )
Zitation
Hans Manfred Bock, Weimarer Intellektuelle und das Projekt deutsch-französischer Gesellschaftsverflechtung, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2008, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1316>.
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