Der Haager Gipfel 1969. Von den Krisen der Europäischen Gemeinschaften der 1960er Jahre zum europäischen politischen System

In bemerkenswertem Gegensatz zum altehrwürdigen Konferenzort, dem mittelalterlichen Rittersaal des Binnenhofs zu Den Haag – einem europäischen Erinnerungsort , seit 1948 Winston Churchill dort über den Kongress der europäischen Bewegung präsidiert hatte – gab es auf der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaften (EG) am 1. und 2. Dezember 1969 viel Neues. Während einige britische Kommentatoren noch den langen Schatten Charles de Gaulles über den Häuptern der Konferenzteilnehmer vermeinten wahrzunehmen , betonten andere Beobachter bereits im Vorfeld des Gipfels, dass eine neue, jüngere „zweite Generation“ im Begriff war, sich der Geschicke der EG anzunehmen.

Der Haager Gipfel 1969. Von den Krisen der Europäischen Gemeinschaften der 1960er Jahre zum europäischen politischen System[1]

Von Jan-Henrik Meyer

In bemerkenswertem Gegensatz zum altehrwürdigen Konferenzort, dem mittelalterlichen Rittersaal des Binnenhofs zu Den Haag – einem europäischen Erinnerungsort[2], seit 1948 Winston Churchill dort über den Kongress der europäischen Bewegung präsidiert hatte – gab es auf der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaften (EG) am 1. und 2. Dezember 1969 viel Neues. Während einige britische Kommentatoren noch den langen Schatten Charles de Gaulles über den Häuptern der Konferenzteilnehmer vermeinten wahrzunehmen[3], betonten andere Beobachter bereits im Vorfeld des Gipfels, dass eine neue, jüngere „zweite Generation“ im Begriff war, sich der Geschicke der EG anzunehmen.[4] Die Vertreter der beiden wichtigsten Mitgliedsstaaten waren neu in ihren Ämtern. De Gaulle's Nachfolger, der am 15. Juni 1969 neu gewählte französische Präsident Georges Pompidou traf hier auf den ehemaligen deutschen Außenminister der Großen Koalition. Willy Brandt war nach den Bundestagswahlen vom 28. September 1969 erster sozialdemokratischer Bundeskanzler geworden. Pompidou war, wie im ersten Absatz des hier diskutierten Schlusskommuniqué[5] angedeutet wird, Initiator der Gipfel-Konferenz. Die Idee eines Treffens auf der höchsten politischen Ebene hatte er schon als Präsidentschaftskandidat am 6. Juni 1969 ins Spiel gebracht und ein „Triptychon“ aus drei Leitthemen vorgeschlagen. Neben dem „achèvement“, also der Vollendung des Gemeinsamen Marktes durch Festzurren der Finanzierungsregelung für das Budget, war ihm ein zweites wichtiges Ziel das „approfondissement“, nämlich die Vertiefung der Zusammenarbeit in neuen Politikfeldern. „Elargissement“, also die Erweiterung der Gemeinschaft, war für den Gaullisten eher ein Zugeständnis an die Wünsche der fünf übrigen Mitgliedsstaaten als seine eigene politische Präferenz. Mit diesen drei Rahmenthemen machte Pompidou deutlich, dass er die konfrontative Politik de Gaulles nicht fortzuführen gedachte. Der General hatte im Verlauf der 1960er Jahre zweimal den britischen Beitritt und damit jede Erweiterung im Alleingang durch sein „Veto“ durchkreuzt, was in Großbritannien als grobe Zurückweisung empfunden wurde.[6] Die Vollendung der Finanzordnung und damit der langfristigen Finanzierung der Agrarpolitik, von der Frankreich überproportional profitierte, begriff er als Voraussetzung für den Beitritt neuer Mitgliedsstaaten. So zeigte Pompidou nach der langen Blockade durch de Gaulle erstmals Lösungsmöglichkeiten für die beiden Probleme auf, die in der EG der 1960er Jahre mehrfach zu krisenhafter Konfrontation geführt hatten.[7] Damit eröffnete Pompidou den Weg für eine konstruktive Diskussion über neue Politikfelder jenseits der Agrarpolitik und institutionelle Veränderungen, die in den 1970er Jahren das in den Römischen Verträgen angelegte europäische politische System komplettierten.

Neben Pompidous Initiative spielte auch die von den Römischen Verträgen vorgegebene zeitliche Ordnung eine Rolle für das Timing der Konferenz. Im Dezember 1969 lief nicht nur die Frist für die abschließende Neuregelung der Finanzordnung ab, sondern es ging auch die Übergangszeit zum Eintritt in die Endphase des Gemeinsamen Marktes zu Ende. Schon 1967 waren die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS/Montanunion), die Atomgemeinschaft (EURATOM) und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu den Europäischen Gemeinschaften (EG) verschmolzen. Im Juli 1968 war die Zollunion vorfristig erreicht worden. Der Moment des Übergangs in die Schlussphase gab Anlass zur Selbstverortung EG-Europas in der Zeit – zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ohne Scheu vor großen Worten bezeichneten die Staats- und Regierungschefs den Gipfel als „Wendepunkt“ und blickten zurück mit Stolz auf das bisher Erreichte, dessen „Unumstößlichkeit“ sie beschworen [§3]. Gleichzeitig proklamierten sie in der utopischen Tradition des „progressiven Europäismus“[8] den „Glauben“ an die Notwendigkeit der „politischen Zielsetzungen“, der finalité politique. Diese würden unumstößlich zur Vollendung der Einigung Europas in der Zukunft führen [§4]. Rekurrierend auf den vorgeblichen europäischen Zivilisationsauftrag deuteten die Staats- und Regierungschefs Europa als „ungewöhnliche Quelle der Entwicklung, des Fortschritts und der Kultur“ [§4]. „Verantwortung in der Welt von morgen [zu] übernehmen“ entspreche der „Tradition und Aufgabe“ Europas [§3]. Derartige Argumente einer europäischen zivilisatorischen Berufung waren seit dem 19. Jahrhundert zur Rechtfertigung des Kolonialismus verwendet worden[9] und fanden sich in expliziterer Form noch in der Schuman Deklaration von 1950.[10] In dieser Tradition steht auch die Bemerkung, dass Europa „seine Anstrengungen zugunsten der Entwicklungsländer zu steigern“ habe [§4]. Vor dem Hintergrund der Entspannungs- und Ostpolitik lag der Fokus der weltpolitischen Berufung nun aber auf dem europäischen Kontinent. Aufgabe war jetzt Frieden und Völkerverständigung „in erster Linie zwischen den Völkern des ganzen europäischen Kontinents“ [§4]. So schien Mittel- und Osteuropa zwar nicht vergessen, blieb aber ambivalent. Das Europa jenseits des eisernen Vorhangs war sowohl das andere als auch das in eine Friedensordnung einzuschließende. Neben den bereits erwähnten Elementen föderalistisch inspirierter Europa-Ideologie enthält dieses Kompromissdokument gleichfalls eine Verneigung vor dem gaullistischen Europa der Vaterländer und der „Wahrung der nationalen Eigenart“ [§4]. Dieses Motiv, die Beschwörung des Paradoxons der Einheit in Vielfalt, prägt die Debatte um Europa bis heute.

Als Pompidou eine Gipfelkonferenz vorschlug, suchte er in gaullistischer Tradition die Probleme durch Zusammenarbeit der Regierungen auf der höchsten politischen Ebene zu lösen. Damit begann eine Reihe von Gipfelkonferenzen in den frühen 1970er Jahren, die 1974 zur Schaffung einer neuen Institution führten. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs war in den Römischen Verträgen so nicht vorgesehen. Als Entscheidungsgremium und Vertretung der Mitgliedsstaaten fungierten vertragsgemäß lediglich die Ministerräte. EG-Gipfeltreffen allerdings hatte es bereits dreimal zuvor gegeben, 1961 in Paris und Bonn auf Initiative de Gaulles im Kontext des Fouchet-Plans zur europäischen Verteidigung, sowie 1967 in Rom zur Feier des zehnten Jahrestags der Römischen Verträge. Dort war auch festgelegt worden, dass ein nächster Gipfel in Den Haag stattfinden solle. In der zweiten Jahreshälfte 1969 hatten die Niederlande den Ratsvorsitz inne, so dass die niederländische Regierung nun die Einladung nach Den Haag aussprach. Da der Gipfel aber formal keine Sitzung einer europäischen Institution war, sondern ein Treffen der Staats- und Regierungschefs, war die Teilnahme der Europäischen Kommission nicht geregelt. Gerade die supranational orientierten kleineren Mitgliedsstaaten sahen angesichts der gaullistischen Tradition die intergouvernementale Orientierung des Vorschlags mit Sorge und bestanden darauf, dass der Kommissionspräsident, der Belgier Jean Rey, zumindest am zweiten Tag anwesend sein sollte [§1].

Der zweite Aspekt institutioneller Neuerung betraf die Rolle des Europäischen Parlaments. Zwar sah der Artikel 138 des Vertrags über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft von 1957 vor, dass das Parlament dem Rat Vorschläge zu seiner Direktwahl zur Entscheidung unterbreiten sollte. Obwohl das Europäische Parlament 1960 bereits erstmals einen Entwurf vorgelegt hatte, war der Rat aber untätig geblieben. Eine einstimmige Entscheidung war nicht möglich, solange die französischen Minister die Zustimmung verweigerten. Präsident de Gaulle begriff ein direkt gewähltes Europäisches Parlament als Einschränkung der französischen Souveränität. Ungeduldig hatte die Straßburger Versammlung 1969 mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof gedroht. Daher scheint der Hinweis, die Direktwahl des Parlaments weiterhin im Ministerrat zu prüfen, zunächst beschwichtigend gemeint [§5].

Pompidou versuchte unter dem Leitmotiv der „Vollendung“, also der endgültigen Regelung über die Eigenmittel zur Finanzierung der Agrarpolitik, den Konflikt grundsätzlich zu lösen, der 1965 zur „Krise des leeren Stuhls“ geführt hatte. Der damalige Kommissionspräsident Hallstein hatte mit einem ambitionierten Vorschlag die französische Regierung zu institutionellen Zugeständnissen bewegen wollen. Die Finanzierung der Agrarsubventionierung durch Zölle und Abgaben sollte mit einer Stärkung von Parlament und Kommission in Budgetfragen einhergehen, der Rat mit Zweidrittelmehrheit entscheiden. [11] Nach dem Luxemburger Kompromiss von 1966, der das Einstimmigkeitsprinzip bestätigt und Hallsteins Pläne ad acta gelegt hatte, ging die Lösung der Budgetfrage von 1969 viel schonender mit Sorgen um nationale Souveränität um. Der Rat blieb zentral in Finanzangelegenheiten, das nationale Veto erhalten. Die Einführung der Eigenmittel – also die Übertragung von Zöllen und Abgaben und eines Anteils von einem Prozentpunkt der Mehrwertsteuer auf die Europäische Gemeinschaft – verbanden die Staats- und Regierungschefs mit einer Stärkung der „Haushaltsbefugnisse“ des Parlaments [§5]. Nach dem Grundsatz „no taxation without representation“ nahm damit auch der Druck auf die Einführung von Direktwahlen zu. Die Regierungen gerieten in Erklärungsnot, wenn sie begründen wollten, warum auf nationalstaatlicher Ebene akzeptierte Grundsätze parlamentarischer Budgetrechte auf europäischer Ebene nicht gälten.[12] Nach einer grundsätzlichen Entscheidung auf dem Gipfel von Paris 1974, parallel zur Schaffung des Europäischen Rates auch die Direktwahl des Parlaments einzuführen, dauerte es noch bis zum Juni 1979, ehe die Europäer ihre Vertretung in Straßburg erstmals selbst wählen konnten.[13]

Nach der Klärung der Finanzfrage, die nicht nur mittels Einstimmigkeitsprinzip sondern auch durch die Klausel, dass „die Grundsätze dieser Regelung nicht verfälscht werden dürf[t]en“ nunmehr doppelt vor Veränderung gesichert war [§7], erschien aus der Sicht des französischen Präsidenten die Erweiterung weit weniger bedrohlich. Das Zugeständnis an die Nettozahler, vor allen an die deutsche Regierung, dass „Anstrengungen für eine bessere Beherrschung des Marktes durch eine landwirtschaftliche Erzeugungspolitik, die eine Beschränkung der Haushaltslasten gestattet“, unternommen würden [§6], erwies sich als Papiertiger. Zur gleichen Zeit gab beispielsweise der Ministerrat italienischen Forderungen nach der Einbeziehung der Obstproduktion in das Garantiepreis-Regime nach, was die Kosten eher ausweitete als beschränkte.[14] Die Staats- und Regierungschefs sicherten zudem den acquis communautaire, also den gemeinsamen Besitzstand gemeinschaftsrechtlicher Regelungen gegen Veränderung im Zuge oder Gefolge eines britischen Beitritts ab. Sie legten fest, dass die Mitgliedsstaaten sich zunächst untereinander auf eine einheitliche Verhandlungsposition einigen würden, um dann als geschlossene Front gegenüber den Kandidaten auftreten zu können. Außerdem verlangten sie von den beitrittswilligen Staaten, dass diese „die Verträge und deren politische Zielsetzung, das seit Vertragsbeginn eingetretene Folgerecht und die hinsichtlich des Ausbaus getroffenen Optionen akzeptier[t]en“ [§13]. Damit war sichergestellt, dass vom 1950/57 begonnenen Entwicklungspfad kerneuropäischer Integration nicht abgewichen würde.[15] Trotz dieser vielfältigen Absicherung ließ sich Präsident Pompidou nicht auf einen konkreten Termin für den Beginn von Beitrittsverhandlungen festlegen. In einem separaten Statement erklärte die niederländische Ratspräsidentschaft, dass die Vorbereitungen für die Beitrittsverhandlungen in der ersten Jahreshälfte 1970 beginnen und die Verhandlungen selbst direkt im Anschluss daran stattfinden würden.[16] Aber nicht nur die Sorgen der französischen Regierung, sondern auch die Gründe der übrigen Mitgliedsstaaten für das Interesse am britischen Beitritt fanden ihren Niederschlag im Dokument. Eine größere Gemeinschaft, ein größerer Markt würde Skaleneffekte ermöglichen, ein Wirtschaften in Dimensionen, „die mehr und mehr dem heutigen Stand der Wirtschaft und der Technologie entsprechen“. Hier verbindet sich Fortschrittsoptimismus mit dem Denken in Kategorien des internationalen Wettbewerbs zwischen den Weltregionen. Dies nimmt zentrale Argumente für die Verwirklichung des Binnenmarkts in den 1980er Jahren vorweg [§4].

Die Vertiefung der Zusammenarbeit in neuen Politikfeldern wies endgültig über das Erbe der Krisen der 1960er Jahre hinaus. Drei Bereiche standen dabei im Vordergrund: die Wirtschafts- und Währungsunion, die politische Zusammenarbeit und die Forschungs- und Technologiepolitik. Daneben wurde auch die Reform des Europäischen Sozialfonds angemahnt, sowie die Abstimmung der Sozialpolitik [§12]. Auch wenn der Rat 1974 ein Aktionsprogramm in der Sozialpolitik akzeptierte, das grundsätzliche Regelungen zur Gleichbehandlung und zu den Arbeitsbedingungen vorsah und nachfolgend umgesetzt wurde, blieb der Kern der Sozialpolitik bis heute fest in den Händen der Nationalstaaten, für die dieses Politikfeld eine wichtige finanzielle und Legitimitätsressource darstellt.

Die Frage der Wirtschafts- und Währungsunion war auf die Tagesordnung gekommen, als sich gegen Ende der 1960er erste Auflösungserscheinungen des Systems von Bretton Woods zu zeigen begannen, das seit den 1940er Jahren für feste Wechselkurse auf der Basis einer amerikanischen Garantie gesorgt hatte. Die Kosten des Vietnamkrieges und die Zahlungsbilanzungleichgewichte zwischen den USA und den exportstarken Europäern stellten die Währungsparitäten in Frage. Die D-Mark wurde 1969 auf-, der schwächelnde französische Franc dagegen abgewertet, allerdings ohne dass sich die Regierungen auf ein koordiniertes Vorgehen einigen konnten. Diese Währungsverschiebungen untergruben das System einheitlicher Agrarpreise und führten zu Verzerrungen und Planungsunsicherheit auf dem Gemeinsamen Markt. Nicht zuletzt deshalb befürwortete die EG-Komission die Idee der Währungsunion, für die der französische Kommissar Raymond Barre das erwähnte Memorandum ausgearbeitet hatte. Trotz anfänglichen Zögerns der deutschen Seite einigten sich die Regierungen in Den Haag darauf, auf Ratsebene einen Plan dafür zu erarbeiten [§8]. Unter Vorsitz des Luxemburger Premiers Pierre Werner legte die Arbeitsgruppe im Oktober 1970 den Werner-Plan vor, der die Verwirklichung der Währungsunion in drei Etappen bis 1980 vorsah. Die turbulente Entwicklung der Währungsmärkte und das Auseinanderbrechen des Bretton Woods Systems in den frühen 1970er Jahren machten diesen Plan rasch obsolet. Im Jahr 1978 allerdings konnten sich die Regierungen in einem neuen währungspolitischen Anlauf auf das weniger ambitionierte Europäische Währungssystem einigen, das auch den bereits in Den Haag angedachten Europäischen Reservefonds umfasste [§8]. Kommissionspräsident Jacques Delors griff in den späten 1980er Jahren das Dreistufenmodell des Werner-Plans wieder auf. Die Hauptkonfliktlinie zur Frage der Währungsunion, die besonders in der Bundesrepublik Deutschland als eine Gefahr für die Währungsstabilität abgelehnt wurde, zeichnete sich bereits in Den Haag ab. Während die „Monetaristen“, vor allem aus Frankreich und Belgien, annahmen, dass die Währungsunion die Konvergenz der Volkswirtschaften nach sich ziehen würde, waren die „Ökonomen“, vor allem aus der Bundesrepublik, den Niederlanden und Italien, der Ansicht, dass eine Währungsunion nur erfolgreich sein konnte, wenn zuvor die Volkswirtschaften in Einklang gebracht würden. Entsprechend ist auch die Mahnung des Schlusskommuniqués zu lesen, dass sich die „Entwicklung der Zusammenarbeit in Währungsfragen […] auf die Harmonisierung der Wirtschaftspolitik stützen“ müsse [§8].

Die „Fortschritte auf dem Gebiet der politischen Einigung“ ließen sich dagegen eher verwirklichen [§15]. Die Vorschläge, die im Jahr 1970 gleichfalls von einer Arbeitsgruppe der Regierungen – unter dem Vorsitz des belgischen Diplomaten Etienne Davignon – ausgearbeitet wurden, führten zur Etablierung der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), die streng intergouvernemental blieb. Allerdings schufen die regelmäßigen Konsultationen, der ständige Austausch zwischen den politischen Direktoren der Außenministerien ein Klima der Kooperation und des Vertrauens. Die Politische Zusammenarbeit bewährte sich bereits im Helsinki-Prozess, der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, auf der Ratspräsident Aldo Moro 1975 die Schlussakte unterzeichnete. Die etablierte Praxis der EPZ fand erst mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1987 Eingang in die Verträge und war Grundlage für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) im Maastrichter Vertrag von 1993.

Mit Bildung, Forschung und Technologiepolitik markierten die Staats- und Regierungschefs ein weiteres wichtiges neues europäisches Politikfeld. Inwieweit der Staat Industrieforschung finanzieren sollte, blieb aber gerade zwischen deutschen und französischen Politikern umstritten [§9]. So richtete die Gemeinschaft zwar 1974 Forschungsprogramme ein, in denen sich Forschungseinrichtungen und Industrie die Kosten teilten. Umfassende Europäische Forschungsrahmenprogramme wurden aber erst 1984 eingeführt. Das Forschungszentrum von EURATOM litt bereits in den 1960er Jahren darunter, dass die Nationalstaaten ihre Atompolitik und -forschung jeweils national organisierten [§10]. Mit der Einrichtung des Europäischen Hochschulinstituts, das schließlich 1976 seine Tore für den Lehrbetrieb in Florenz öffnete, wurde das lang gehegte Interesse an einer Europäischen Universität relativ rasch umgesetzt [§11]. Das Hochschulinstitut jedoch war keine Volluniversität, sondern lediglich eine postgraduale Ausbildungsstätte der Wirtschafts-, Rechts-, Sozial- und Geschichtswissenschaften.

Der Schlussappell an die Jugend, „engen Anteil“ an der europäischen Sache zu nehmen, wirkte schon in den Augen zeitgenössischer Beobachter seltsam und pathetisch [§16].[17] Dahinter verbarg sich die Idee eines Europäischen Jugendwerks nach dem Vorbild des deutsch-französischen, das allerdings nie verwirklicht wurde. Ob es wirklich vor allem die Jugend war, die in den Straßen von Den Haag für Europa demonstrierte oder doch eher die Veteranen der europäischen Bewegung, ist unklar. In jedem Fall war der Gipfel von Den Haag ein Ereignis, das von einer temporär höchst aktiven Europäischen Öffentlichkeit begleitet wurde.[18] Die europäische Zivilgesellschaft, vor allem die EG-nahen Organisationen wie der europäische Industriellenverband UNICE oder der Bauernverband COPA, sowie die Europäische Bewegung, deren Präsident Ex-Kommissionspräsident Hallstein eine Erklärung an den Ratspräsidenten übergeben hatte, intervenierten im Vorfeld des Gipfels und bauten eine Atmosphäre hoher Erwartungen auf.[19] Die Medienöffentlichkeit nahm ebenfalls großen Anteil an diesem Ereignis, diesseits wie jenseits des englischen Kanals. Deutsche, britische und französische Qualitätszeitungen widmeten in den vierzehn Tagen um den Gipfel herum europäischer Integrationspolitik fast fünf Prozent aller Artikel im Wirtschafts- und Politikteil.[20] In den Printmedien aller drei Länder gab es nicht nur große Ähnlichkeiten im Umfang der Berichterstattung und Kommentierung über den Gipfel, sondern auch in der thematischen Orientierung. Da britischer Medien vor allem an der Frage des Beitritts interessiert waren, war die Ähnlichkeit etwas geringer als bei späteren Gipfeltreffen. Auch transnationaler Austausch ließ sich nachweisen. Kommentierende Journalisten machten deutlich, dass sie mit den Debatten in den anderen europäischen Ländern vertraut waren. Sie zitierten über Grenzen hinweg, wenn auch asymmetrisch nur französische Zeitungen. Die Europadebatte war transnational integriert. Es dominierte derselbe „progressive Europäismus“, der das Kommuniqué prägt. Kommentatoren interpretierten die Europapolitik vor dem Hintergrund der Idee, dass Europa die Zukunft gehöre und Integration unausweichlich sei, was nationale Politiker nur noch nicht eingesehen hätten. Verstärkt wurde die Dominanz dieser föderalistisch inspirierten Ideologie dadurch, dass vor allem die Elite alter Europapolitiker als Gastkommentatoren zu Wort kamen. Insgesamt zeigt sich das Bild einer überraschend umfangreichen, transnational integrierten, aber konform pro-europäischen Öffentlichkeit.[21]

Lässt sich der Haager Gipfel wirklich als der „Wendepunkt“ [§3] deuten, als den die Staats- und Regierungschefs und die wissenschaftlichen Vertreter der Position des Europas der „Zweiten Generation“ ihn werteten? Markiert er den Übergang zum entstehenden europäischen politischen System? Sicher löste der Gipfel die Krisen der EG der 1960er Jahre und eröffnete die Perspektive auf neue Politikfelder und institutionelle Reformen. Die Wirtschaftskrisen der 1970er Jahre, die erst langsam einsetzenden Erkenntnis der wirtschaftlichen Interdependenz und der langwierige Prozess der Verhandlungen zwischen den Regierungen trugen dazu bei, dass die in Den Haag auf die Tagesordnung gesetzte Agenda erst mit großer Verzögerung umgesetzt wurde. Allerdings ist bemerkenswert, wie stark die drei Leitthemen Pompidous den weiteren Integrationsprozess bestimmt haben. Die den Gipfel begleitende temporäre europäische Öffentlichkeit blieb dagegen eher altmodisch. Die Gastkommentarspalten dominierte die politisch-administrative Elite der Veteranen der europäischen Integration. Zudem deutete die Mehrzahl der Journalisten und Kommentatoren den Integrationsprozess unkritisch im Sinne der Idee des progressiven Europäismus und suchte das zarte Pflänzchen Europa zu schützen und zu unterstützen. Eine offenere, differenziertere und pluralistischere europäische Öffentlichkeit, die sich zunehmend kritisch dem entstehenden europäischen politischen System gegenüberstellte, fand sich erst mehr als zwanzig Jahre später in Maastricht.



[1] Essay zur Quelle: Schlusskommuniqué der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften (Den Haag, 1. und 2. Dezember 1969), in: Bulletin der Europäischen Gemeinschaften 3 (1970), Nr. 1, S. 12-17; elektronisch auch zugänglich über: (13.05.2009).

[2] Vgl. zur Diskussion über die Übertragbarkeit von Pierre Noras Konzept der „Lieux de Mémoire“: Lottes, Günther, Europäische Erinnerung und europäische Erinnerungsorte?, in: Jahrbuch für europäische Geschichte 3 (2002), S. 81-92.

[3] So beispielsweise: Jenkins, Peter, Flesh on old Bones, in: The Guardian, 2. December 1969, S. 11.

[4] Drouin, Pierre, Le Nerf de l’Europe, in: Le Monde, 27. November 1969, S. 1; Strick, Hans-Josef, In die zweite Generation, in: Süddeutsche Zeitung, 29. November 1969, S. 25. Für die wissenschaftliche Diskussion siehe: Knipping, Franz; Schönwald, Matthias, Vorwort, in: Dies. (Hgg.), Aufbruch zum Europa der zweiten Generation: die europäische Einigung 1969-1984, Trier 2004, S. IX-X.

[5] Schlußkommuniqué der Konferenz (2. Dezember 1969). Im Folgenden werden Hinweise auf die Absätze der Quelle in eckigen Klammern angegeben.

[6] Vgl. z.B. Davis, William, 'Let's get blowing' suggests Aunt Bertha, in: The Guardian, 24 November 1969, S. 10.

[7] Vgl. Ludlow, Piers N., The European Community and the Crises of the 1960s. Negotiating the Gaullist Challenge. Strategy and History. London 2005, S. 174ff.

[8] Trenz, Hans-Jörg, Europa in den Medien. Die europäische Integration im Spiegel nationaler Öffentlichkeit, Frankfurt am Main 2005, S. 360-373. Vgl. zur Kritik der utopischen Tradition: Schulz-Forberg, Hagen, Europas post-nationale Legitimation. Überlegungen gegen eine Essentialisierung von Kultur und Identität, in: Schöning, Matthias; Seidendorf, Stefan (Hgg.), Reichweiten der Verständigung. Intellektuellendiskurse zwischen Nation und Europa, Heidelberg 2006, S. 216-239, hier S. 216; Stråth, Bo, A European Identity. To the Historical Limits of a Concept, in: European Journal of Social Theory 5 (2002), S. 387–401, hier S. 388, 391.

[9] Kaelble, Hartmut, Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001, S. 52f.

[10] Erklärung von Robert Schuman (Paris, 9. Mai 1950), Archives Nationales du Luxembourg, Luxembourg. Plan Schuman (Négociations). La déclaration du 9 mai 1950 et premières réactions, AE 11346, (13.05.2009): „Mit dem so [durch die Montanunion] erzielten Zuwachs an Mitteln kann dann Europa an die Verwirklichung einer seiner wesentlichen Aufgaben herangehen, nämlich die Erschließung des afrikanischen Kontinents.“

[11] Vgl. Bajon, Philip Robert, Die Krise des leeren Stuhls 1965/66. Ursachen, Verlauf und Folgen, in: Gehler, Michael (Hg.), Vom gemeinsamen Markt zur europäischen Unionsbildung. 50 Jahre Römische Verträge 1957-2007, Wien 2008, S. 371-392.

[12] Vgl. für dieses Argument: Rittberger, Berthold, 'No integration without representation!' Parlamentarische Demokratie, Europäische Integration und die beiden vergessenen Gemeinschaften, in: Ders.; Schimmelpfennig, Frank (Hgg.), Die Europäische Union auf dem Weg in den Verfassungsstaat, Frankfurt am Main 2006, S. 139-164.

[13] Brunn, Gerhard, Die europäische Einigung, Stuttgart 2002, S. 207-211.

[14] Vgl. kpk, Noch mehr Obstüberschüsse, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. November 1969, S. 17.

[15] Vgl. zur Berücksichtigung von Pfadabhängigkeiten im Integrationsprozess: Rasmussen, Morten, Supranational Governance in the Making. Towards a European Political System, in: Kaiser, Wolfram; Rasmussen, Morten; Leucht, Brigitte (Hgg.), The History of the European Union. Origins of a Trans- and Supranational Polity 1950-72, London 2009, S. 34-55, hier S. 38f.

[16] Bitsch, Marie-Thérèse, Le sommet de la Haye. La mise en route de la relance de 1969, in: Loth, Wilfried (Hg.), Crises and compromises: the European Project 1963-1969, Baden-Baden 2001, S. 539-565, hier S. 562.

[17] So schreibt der EG-Korrespondent der FAZ: „Der Verweis auf die Beteiligung der Jugend an der schöpferischen Gestaltung Europas hat etwas Formelhaftes.“ Götz, Hans Herbert, Neues Vertrauen in Europa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Dezember 1969, S. 1.

[18] Meyer, Jan-Henrik, Was there a European public sphere at the Summit of The Hague 1969? An analysis of discourses on the legitimacy of the EC, in: Bitsch, Marie-Thérèse; Loth, Wilfried; Barthel, Charles (Hgg.), Cultures politiques, opinions publiques et intégration européenne. Brüssel 2007, S. 227-245, hier S. 245; Ders., A European Public Sphere at the Summits of The Hague (1969) and Paris (1974)? Indications on the Basis of British, French and German Newspapers, in: Harst, Jan van der (Hg.), Beyond the Customs Union: The European Community’s Quest for Completion, Deepening and Enlargement, 1969-1975, Brüssel 2007, S. 341-357, hier S. 356f.

[19] Bitsch, Le sommet de la Haye, S. 552-556.

[20] Der Vergleichswert für den Maastrichter Gipfel 22 Jahre später liegt bei zehn Prozent. Meyer, Jan-Henrik, Tracing the European Public Sphere. A Comparative Analysis of British, French and German Quality Newspaper Coverage of European Summits (1969-1991), unveröffentlichte Dissertation, Berlin: Freie Universität Berlin, S. 170.

[21] Ders., Tracing Transnational Communication in the European public sphere: the Summit of The Hague 1969, in: Kaiser, Wolfram; Rasmussen, Morten; Leucht, Brigitte (Hgg.), The History of the European Union. Origins of a Trans- and Supranational Polity 1950-72, London 2009, S. 110-128, hier S. 121f.



Literaturhinweise:

  • Bitsch, Marie-Thérèse, Le sommet de la Haye. La mise en route de la relance de 1969, in: Loth, Wilfried (Hg.), Crises and compromises: the European Project 1963-1969, Baden-Baden 2001, S. 539-565.
  • Harst, Jan van der (Hg.), Themenheft „The Hague Summit of 1969“, Journal of European Integration History 9 (2003), Nr. 2. S. 5-126.
  • Harst, Jan van der (Hg.), Beyond the Customs Union: The European Community’s Quest for Completion, Deepening and Enlargement, 1969-1975, Brüssel 2007.
  • Knipping, Franz; Schönwald, Matthias (Hgg.), Aufbruch zum Europa der zweiten Generation: die europäische Einigung 1969 -1984, Trier 2004.
  • Meyer, Jan-Henrik, Tracing Transnational Communication in the European public sphere: the Summit of The Hague 1969, in: Kaiser, Wolfram; Rasmussen, Morten; Leucht, Brigitte (Hgg.), The History of the European Union. Origins of a Trans- and Supranational Polity 1950-72, London 2009, S. 110-128.

Für das Themenportal verfasst von

Jan-Henrik Meyer

( 2009 )
Zitation
Jan-Henrik Meyer, Der Haager Gipfel 1969. Von den Krisen der Europäischen Gemeinschaften der 1960er Jahre zum europäischen politischen System, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2009, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1482>.
Navigation