Europa ist eine Frau: jung und aus Kleinasien. Beitrag zum Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“

Europa ist eine Frau: Das weiß jeder, der sich in der griechischen Mythologie auskennt. Die phönizische Königstochter Europa, geht die antike Sage, fiel ob ihrer Schönheit dem Göttervater Zeus ins Auge, den es nicht bei seiner angetrauten Ehefrau Hera hielt. Um sie zu täuschen und Europa für sich zu gewinnen, verwandelte sich Zeus flugs in einen Stier und entführte die Geliebte aus der Schar ihrer Gespielinnen. Auf seinem Rücken trug er sie sodann vom vorderasiatischen Tyros (im heutigen Libanon) über das Meer nach Kreta. Dort nahm er seine normale Gestalt wieder an und zeugte mit Europa drei Kinder. Aufgrund einer Verheißung Aphrodites erhielt der neu entdeckte Erdteil den Namen der Königstochter. [...]

Europa ist eine Frau: jung und aus Kleinasien

Von Ute Frevert und Margrit Pernau

Europa ist eine Frau: Das weiß jeder, der sich in der griechischen Mythologie auskennt. Die phönizische Königstochter Europa, geht die antike Sage, fiel ob ihrer Schönheit dem Göttervater Zeus ins Auge, den es nicht bei seiner angetrauten Ehefrau Hera hielt. Um sie zu täuschen und Europa für sich zu gewinnen, verwandelte sich Zeus flugs in einen Stier und entführte die Geliebte aus der Schar ihrer Gespielinnen. Auf seinem Rücken trug er sie sodann vom vorderasiatischen Tyros (im heutigen Libanon) über das Meer nach Kreta. Dort nahm er seine normale Gestalt wieder an und zeugte mit Europa drei Kinder. Aufgrund einer Verheißung Aphrodites erhielt der neu entdeckte Erdteil den Namen der Königstochter.

Mit dieser Episode beginnt fast jede „Geschichte Europas“, die derzeit auf den Markt kommt – das sind nicht wenige.[1] Jeder Verlag, der auf sich hält, schmückt sich damit, und die Bücher verkaufen sich gut im Zeichen des neu erwachten Interesses an „europäischen Geschichtslandschaften“ oder „Erinnerungsräumen“.

Kaum jemals aber nimmt jemand das mythische Bild, das seit über zweitausend Jahren immer wieder evoziert und in Szene gesetzt wird, ernst.[2] Dabei lassen sich von seiner zentralen Botschaft – Europa ist eine junge Frau aus Kleinasien, der Gewalt angetan wird – (mindestens) zwei Fragen ableiten: Was passiert, wenn Europa älter wird, und was bedeutet ihre nicht-europäische Herkunft?

Diese Fragen bilden den Leitfaden, unter dem die europäische Geschichte seit dem 18. Jahrhundert im folgenden betrachtet wird. Der Fokus erlaubt es, wesentliche Gestaltungsprinzipien, Denkmuster und Politikformen der europäischen Moderne in den Blick zu nehmen. Eine dritte Anschlussfrage – was folgt aus der Tatsache, dass Europa nicht freiwillig auf den Kontinent kam, dem sie später ihren Namen gab, sondern dass sie gewaltsam und unter Vorspiegelung falscher Tatsachen geraubt wurde? – soll hier nur gestellt, aber nicht beantwortet werden.

Europa wird älter und erwachsen

Europa gilt als vergleichsweise junger Kontinent. Seine Zivilisation begann, im Kontrast zu Asien (Mesopotamien etc.) und Nordafrika (Ägypten etc.), erst spät. Auch ostasiatische Zivilisationen existierten bereits lange bevor Griechen und Römer von sich reden machten. Deshalb liegt in der mythologischen Herkunft Europas aus Kleinasien mehr als nur ein Hauch von Wahrheit.

Aber die und das junge Europa wurden älter, sie wurden erwachsen. Was aus der mythologischen Europa wurde, entzieht sich der Kenntnis; vermutlich starb sie, hochbetagt und geachtet, aber von Zeus verlassen, als Heldenmutter im Kreis ihrer Kinder, deren halbgöttlicher Status sie zu Heroen prädestinierte.

Genauer sind wir über den Entwicklungsprozess des Kontinents informiert. Wir kennen seine Jugendgeschichte von Homer und Hesiod bis Cicero und Augustinus. Wir wissen um seine mittlere Geschichte, um die Auseinandersetzungen zwischen Kaisern und Päpsten, um Welt- und Glaubenskämpfe, um Ritter, Bauern und Bürger. Dazu gehören auch die ausgreifenden Bewegungen des Handels und der militärischen Eroberung, die Kreuzzüge gegen die Ungläubigen im Heiligen Land, die Vertreibung der Muslime von der iberischen Halbinsel, die Landnahme des Deutschen Ordens im Osten und, last but not least, die Fahrten übers weite Meer, nach China, Indien, Südamerika.

Im 18. Jahrhundert war es dann soweit, dass Europäer Bilanz zogen und Rechenschaft ablegten über ihren Platz in der Welt und in der Geschichte. Just zu dem Zeitpunkt, als Geschichte immer stärker als lineare Fortschrittsentwicklung begriffen wurde und nicht als zyklische Wiederkehr des Immergleichen, und als die vielen einzelnen, disjunkten Geschichten sich zum Kollektivsingular der Geschichte verdichteten, warfen Europäer einen prüfenden Blick in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.[3] Dabei taten sie nicht etwa so, als ob sie allein auf der Welt wären. Ihre kritische Perspektive reichte weit über ihren kleinen Kontinent hinaus (der zudem nicht einmal einer war, sondern, wie Paul Valéry 1919 spottete, bloß „ein kleines Vorgebirge des asiatischen Kontinents“).[4] Standortbestimmungen, das wusste man im gebildeten Europa, erforderten Differenz und Relation. Wer man selber war und wo man sich befand, erschloss sich vorrangig in der Beziehung zu und Abgrenzung von anderen.[5]

Liest man die zahlreichen Texte, die Europäer im 18. Jahrhundert über sich selber und die anderen geschrieben haben, erkennt man ein klares Muster. Fast alle konzipierten die Geschichte der Welt als eine Geschichte von Entwicklungsstadien und -stufen. Lange bevor Charles Darwin die Evolutionstheorie begründete, dachten bereits die Intellektuellen des Aufklärungsjahrhunderts in Kategorien der Entwicklung. Auf der Grundlage zeitgenössischer Reise- und Erfahrungsberichte konstruierten sie die Welt als das Nach- und Nebeneinander diverser Gesellschaften, die sich voneinander durch den Grad ihrer „Zivilisation“ oder Zivilisiertheit unterschieden. Dabei legte man ein Entwicklungsschema zugrunde, das dem menschlichen Lebenslauf abgeschaut war: „Nicht allein das Individuum“, hieß es 1767 bei Adam Ferguson, „schreitet von der Kindheit zum Erwachsenenalter fort, sondern auch die Gattung selbst vom Zustand der Rohheit zur Zivilisation.“[6] Zwar wich die Bewertung dieses Fortschreitens durchaus voneinander ab: So sang Jean-Jacques Rousseau bekanntermaßen das Lob des Naturzustandes und des Edlen Wilden: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.“[7] Andere rühmten demgegenüber die Errungenschaften verfeinerter Zivilisation und erkannten im Naturzustand nur rohe Willkür und Gewalt. Ferguson nahm eine mittlere Position ein: Er wusste die polished society des neuzeitlichen Europa durchaus zu schätzen und sah sie, neben der römischen Zivilisation, auf den „höchsten Stufen der Verfeinerung“. Zugleich aber lehnte er es ab, denjenigen Gesellschaften, die sich noch in „rohen Anfängen“ befanden, jegliche Dignität und „Kunstfertigkeit“ abzusprechen.[8]

Darin ähnelte er Johann Gottfried Herder, der sich in den 1770er und 1780er Jahren zum Fürsprecher kulturellen Eigensinns machte und dazu aufrief, die „Phantasien, Sitten und Lebensweisen“ fremder Völker in ihrer Besonderheit ernst zu nehmen. Obwohl auch er, ebenso wie Ferguson, am „Plan des Fortschreitens“ festhielt, mokierte er sich über die Arroganz mancher Zeitgenossen, ihre Gegenwart als die beste aller Zeiten auszugeben. Für ihn besaßen Geschichtsepochen und Kulturen ihr eigenes Recht, ihre eigene „Tugend und Glückseligkeit“, die es zu achten und zu schützen gelte.[9]

Zu jenen von Herder verspotteten und von Ferguson kritisierten Zeitgenossen gehörten der Göttinger Lehrer der Weltweisheit Christoph Meiners und sein Mediziner-Kollege Samuel Thomas Sömmering. Meiners sprach von den „brünstigen Negern“, „kalten Americanern“ und „mongolischen Nationen“ als „thierartigen Völkern“; Sömmering suchte „kaltblütig“ und empirisch zu belegen, dass „Neger“ „sich mehr dem Affen näherten“ als weiße Europäer. Das könne es unter Umständen rechtfertigen, „dem Mohren eine niedrigere Staffel am Throne der Menschheit anzuweisen“ und den Europäern ein „ausgedehntes Vorrecht über die Negern“ zu gönnen.[10]

In solchen „Untersuchungen“ mit wissenschaftlichem Anspruch schien bereits ein biologischer Rassismus auf, der im 19. Jahrhundert an gesellschaftlicher und akademischer Akzeptanz gewann. Das Jahrhundert der Aufklärung dagegen übte noch weitgehend Zurückhaltung. Selbst wenn man Entwicklungsunterschiede zwischen Gesellschaften oder „Völkern“ konstatierte und von der Leitidee des „Fortschreitens“ nicht abließ, hieß das nicht umstandslos, die weniger entwickelten Weltregionen als entwicklungsunfähig abzuurteilen. In die Metapher der Lebensstufen war Entwicklung geradezu konstitutionell eingeschrieben: das Kind reifte zum Jüngling, der Jüngling zum Erwachsenen (und der Erwachsene wurde irgendwann zum Greis, bevor er von der Lebensbühne abtrat). Auch jene Gesellschaften, die man im kindlichen Stadium aufzufinden meinte, waren folglich durchaus in der Lage, sich weiterzuentwickeln und erwachsen zu werden. Wer dagegen, wie später üblich, Differenzen in der Biologie, in Schädelform und Schädelgröße, im Blut oder in den Genen verortete, ließ eine solche Entwicklungsoption prinzipiell nicht mehr zu.

Was ausnahmslos alle Europäer einte, die sich in dieser Debatte um die Geschichte und Gegenwart der „Menschheit“ (Meiners) zu Wort meldeten, war gleichwohl die Überzeugung, dass Europa mittlerweile nicht mehr Kind- oder Jungfrau, sondern erwachsen geworden war und folgerichtig die höchste Stufe der Zivilisiertheit erklommen hatte. Für Friedrich Schiller fügte sich das Verhältnis Europas zu Nichteuropa zum Genrebild der bürgerlichen Familie. Die Entdeckungen europäischer Seefahrer, meinte er in seiner Jenenser Antrittsrede von 1789, „zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiednen Alters um einen Erwachsenen herumstehen und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist.“[11]

An diesem Bild fällt fünferlei auf. Erstens war Schillers Erwachsener männlichen Geschlechts; darauf wird zurückzukommen sein. Zweitens baute das Bild eine merkwürdige Spannung auf: Einerseits suggerierte es familiale Vertrautheit im Umgang zwischen Erwachsenen und Kindern und reproduziert den halb stolzen, halb nostalgischen Blick des Vaters, der wohlwollend über seine Kinderschar blickt und sich dabei auch an seine eigene Kindheit erinnert. Andererseits aber bricht es diese Vertrautheit auf, weil der europäische Entdecker nicht als Vater kam, der sich treusorgend um das Wohl der ‚Ureinwohner’ bemühte, und auch längst nicht überall mit zugeneigter Neugierde empfangen wurde. Diese Spannung setzte sich, drittens, in der unausgesprochenen, weil selbstverständlichen Erwartung fort, dass sich ein Vater um die „Bildung“ seiner Kinder zu kümmern habe, um letztere zu „ganzen Menschen“ zu erziehen. Es lag also nahe, dass auch der europäische Entdecker eine solche Erzieher- und Bildungsrolle gegenüber den kindlichen „Völkerschaften“ einnehmen sollte. Auch darauf kommen wir noch zurück.

Viertens benutzte Schiller, wie die meisten anderen Autoren dieser Zeit, stets nur den Kollektivsingular „Europa“, ohne auf einzelne europäische Nationen einzugehen. Dabei gab es überaus sichtbare und fühlbare Entwicklungsunterschiede zwischen einzelnen europäischen Ländern und Regionen. Sie waren den Autoren auch durchaus bewusst; trotzdem verzichteten sie darauf, diese internen Differenzen auszubuchstabieren.[12] Vorrang besaß die Differenz nach außen: zu anderen Kontinenten und ihren „Völkerstämmen“.

Wo genau sich diese Stämme befanden, ließ Schiller, fünftens, im Unklaren. Er sprach nur sehr allgemein von „rohen“ Völkern und „Wilden“, erwähnte lediglich einmal „einen Despoten Afrikas“, der „seine Untertanen für einen Schluck Branntwein“ verkaufte. Den privilegierten Anderen Europas aber, Asien, nannte er nicht, zumindest nicht mit Namen. Eingeweihte mochten die Andeutung gleichwohl situieren: „Selbst da, wo sich der Mensch von einer feindseligen Einsamkeit zur Gesellschaft, von der Not zum Wohlleben, von der Furcht zu der Freude erhebt – wie abenteuerlich und ungeheuer zeigt er sich unsern Augen! Sein roher Geschmack sucht Fröhlichkeit in der Betäubung, Schönheit in der Verzerrung, Ruhm in der Übertreibung.“[13] Genaugenommen aber passte Asien nicht in das Prokrustesbett der rohen Wilden. Denn China oder Indien waren schließlich mächtige Reiche mit uralten Zivilisationen, zu denen Europäer vielfältige, durchaus auch von Bewunderung und Neid geprägte Beziehungen unterhalten hatten. Friedrich Schlegel sprach 1803 begeistert von der „Lichtgluth des Orients“ und erinnerte daran, dass die Religionen und Mythologien, „d.h. die Principien des Lebens, die Wurzeln der Begriffe“ sämtlich aus Asien stammten.[14] 1793 bezeichnete der Göttinger Historiker Arnold Hermann Ludwig Heeren Asien gar als den vornehmsten Kontinent und gab damit dem positiven Asienbild der Frühen Neuzeit noch einmal prägnanten Ausdruck.[15]

Die Metapher des Kindes wäre hier also völlig unpassend gewesen, denn seine Kindheit hatte Asien längst hinter sich gelassen. Sogar seine Erwachsenen-Blüte schien bereits vorüber, und es befand sich, wie viele europäische Beobachter des ausgehenden 18. Jahrhunderts immer wieder betonten, auf dem Weg ins Greisenalter (wobei man an die ohnmächtigen Greise der griechischen Antike, nicht auf den omnipotenten pater familias Roms dachte). China stagnierte, Indien degenerierte – so lassen sich, meint Jürgen Osterhammel, die europäischen Asien-Diskurse jener Zeit zusammenfassen.[16]

Was Stagnation, Degeneration und Vergreisung miteinander teilten, war die Abnahme von Potenz und Macht. Die asiatischen Großreiche mochten, ähnlich wie der afrikanische Despot Schillers, allenfalls noch ihre eigenen „Untertanen“ unter Kontrolle halten; mit den „erwachsenen“ Europäern aber konnten sie es immer weniger aufnehmen. Auch wenn sie sich gegen ihren Einfluss abzuschotten suchten, wie es China mit der Ausweisung der Jesuiten Ende des 18. Jahrhunderts probierte, würden sie der europäischen Dynamik und Machtakkumulation über kurz oder lang erliegen.

Dynamik versus Stagnation, Kraftentfaltung versus Dekadenz, Erwachsener versus Greis/Kind: In solchen Gegensatzpaaren, wie sie das 18. Jahrhundert hervorbrachte, war nicht nur die Differenz zwischen Macht und Ohnmacht oder zwischen Stärke und Schwäche aufgehoben. Sie spiegelten zudem die beiden Pole des Geschlechterverhältnisses, wie es zur gleichen Zeit entworfen und neu justiert wurde. Männer galten nach diesem Verständnis als kraftvoll, gestaltend und zeugend, Frauen als schwach, ausführend und empfangend. Über diese Polarität ist viel geschrieben und geforscht worden; seine normative Konstruktion steht außer Frage, auch wenn seine reale Geltung differenzierter zu betrachten ist, als es in den 1970er und 1980er Jahren schien.[17]

Legt man jene Polarität zugrunde, wundert es nicht mehr, dass Schiller 1789 seine wilden Kinder um einen männlichen Erwachsenen gruppierte. Eigentlich hätte es nahegelegen, eine mütterliche Figur ins Zentrum zu stellen. Die Familie, so wollte es die Kultur der Empfindsamkeit, auf die sich auch die Literatur des Sturm und Drang bezog, fand ihren Mittelpunkt in der Frau und Mutter. Sie war die erste Bezugsperson ihrer Kinder und kümmerte sich um ihr Wohl und Wehe – vor allem, wenn die Kinder noch klein (und wild) waren. Jedem Zeitgenossen stand das rührende Bild von Werthers Lotte vor Augen, die ihren kleinen verwaisten Geschwistern, an Mutters Statt, das Abendbrot schnitt.

So bezaubernd Lotte war, so wenig taugte sie allerdings zum europäischen Seefahrer. Die Entdecker und Eroberer, die an fernen Gestaden anlegten, mussten männlichen Geschlechts sein – im übertragenen Sinn ebenso wie in der Wirklichkeit. Europa unterzog sich, als sie erwachsen wurde, einer Geschlechtsumwandlung. Sie war nun keine Frau mehr, sie war ein Mann. Nur als Mann konnte sie jene unbändige Kraft und Kreativität entfalten, die sie gegenüber ihren nichteuropäischen Kindern zur Schau stellte. Nur als Mann konnte sie Macht ausüben.

Damit ist die erste, anfangs gestellte Frage beantwortet: Als Europa erwachsen wurde, mutierte sie zum Mann. Was aber passierte – zweite Frage - mit ihrer kleinasiatischen Herkunft? Wie verhielt sie sich, nun männlich gewendet, gegenüber ihrer Herkunftsfamilie?

Europa und Asien

In welchen Bildern wurde dieses Verhältnis imaginiert? Hier zeigte es sich nun, dass sich Europa zwar bisweilen nach außen hin als Einheit dargestellt hatte, sie auf dem Kontinent aber keineswegs allein war. Die anderen jungen Frauen, die zu Symbolfiguren der Nationen wurden – Britannia, Germania, ein wenig später dann Marianne – waren keineswegs immer bereit, die Familienähnlichkeit untereinander und zu Europa in den Vordergrund zu stellen. Vielmehr brachte der Streit zwischen den Schwestern im 18. Jahrhundert bereits die Muster hervor, die sodann auf das Verhältnis zu weiter entfernten Völkern übertragen wurden. In all diesen Streitigkeiten ging es sowohl um das Alter als auch um das Geschlecht.

Britannia grenzte sich ab gegen den „Celtic Fringe“, insbesondere gegen die Iren. Wo die Briten zu erwachsenen Männern herangereift waren, die sich und ihre Emotionen unter Kontrolle hatten, waren die Iren große Kinder – nicht wirklich böse, aber doch ein wenig zu wild, zu polternd, zu sehr ihren Trieben folgend und offensichtlich nicht in der Lage, sich ihres Verstandes zu bedienen, um Priesterherrschaft und Aberglauben zu entfliehen. Die starke Hand des Vaters aber vermochte diese fehlende Innenleitung zu ersetzen. Unterwarfen sie sich ihr, traten die schöneren Züge der Kindlichkeit zutage, die unbedingte Hingabe, die Anhänglichkeit und die Treue.[18]

Waren die Iren zu jung und zu roh, so zeigten die katholischen Nationen auf dem Kontinent Britannien die andere Gefahr. Da Frankreich und Italien die Zivilisation zu weit getrieben hatten, waren sie vor Überfeinerung alt und kraftlos geworden. Der Höflichkeit und den schönen Worten, mit denen sie die Frauen zu verführen wussten, entsprach kein Verantwortungsgefühl für die Schutzbefohlenen und damit auch keine wahre Männlichkeit.[19] Damit tauchte nicht nur zeitgleich mit der Entwicklung des Fortschrittsgedankens bereits seine dunkle Seite auf: die Angst, dass es womöglich nicht immer so weitergehen könne und dürfe, dass die Linearität letztlich von der älteren Zyklik eingeholt würde und dem Aufstieg kein weiterer Aufstieg, sondern der Niedergang, die Dekadenz folgen könne. Das Bild macht auch deutlich, woran sich zivilisatorischer Fortschritt und wahre Männlichkeit der männlich gewordenen Europa letztlich erkennen lassen: am Verhältnis zu den Frauen.

Die zivilisierte Geschlechterordnung gebot zum einen, dass Männer sich nicht von Frauen beherrschen ließen. Hierzu gehörten vor allem alle Formen von Matriarchat, denen die Entdecker und Eroberer in Asien begegneten. Als der Weltweise Meiners 1788 über die „thierartigen Völker“ nachdachte, zu denen er ja auch die „mongolischen Nationen“ zählte, erwähnte er voller Abscheu, dass hier „die Weiber ihre Männer, wie unumschränkte Herrinnen beherrschten“. Für ihn war klar, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang gab zwischen „Lasterhaftigkeit“ und einer verkehrten Geschlechterwelt: „Je lasterhafter beyde Geschlechter werden, desto schwächer, oder geschwächter werden die Männer, desto kühner und männlicher die Weiber“.[20]

Doch auch die Herrschaft der Männer über die Frauen hatte zivilisatorischen Regeln zu folgen. Hierunter fiel in erster Linie die Pflicht, die anvertrauten Frauen zu beschützen – vor ihrer eigenen Schwäche und Haltlosigkeit und vor anderen Männern. Doch selbst wenn sie dergestalt beschützt wurden, drohte den Frauen noch Gefahr, wenn nämlich ihr Schutzherr nicht willens oder nicht in der Lage war, sich der Selbstbeherrschung zu befleißigen, die allein des zivilisierten and wahrhaft männlichen Mannes würdig war und statt dessen die Abhängigkeit seiner Schutzbefohlenen ausnutzte um seinen eigenen Trieben zu frönen. Nicht überbordende und zu bewundernde Manneskraft zeichnete daher den despotischen Herrscher über den Harem aus, sondern im Gegenteil Schwäche, ja sogar ein Verlust von Männlichkeit.

Für diese Schwäche der asiatischen Männer fanden die Kolonisatoren eine Vielzahl von Erklärungsmustern, die trotz ihrer Widersprüchlichkeit bis fast zum Ende der Kolonialherrschaft nebeneinander bestehen blieben. Das feucht-heiße Klima der Ebene von Bengalen, von wo aus die Briten ihr indisches Imperium entwickelten und lange Zeit verwalteten, brachte Antriebsschwäche und Kraftlosigkeit hervor. Setzte sich dieser Einfluss über längere Zeit, gar über Generationen fort, so waren degenerative Erscheinungen die Folge. Die Männer wurden kleiner, schmalbrüstig, sie erschraken schnell und neigten zu Aberglauben und Feigheit.[21] Zugleich förderte dieses Klima die Sinnlichkeit – diese aber gab den Männern nicht etwa ihre Männlichkeit zurück, sondern führte zu ihrer Effeminisierung, denn die Betonung der Sinne, ebenso wie des Gefühls, hatte die Geschlechtertypologie des 18. Jahrhunderts den Frauen zugeordnet. Je weiblicher die Bengalen in der kolonialen Vorstellung wurden, umso männlicher wurden im Gegenzug die britischer Herrscher. Der Orient und Europa wurden nicht auf zwei sich gegenüberstehenden Bildern festgehalten, sondern bildeten Teil eines einzigen Gemäldes. So wie die Bengalen Kinder der feucht-warmen Tropen waren, sahen sich die Briten als Söhne eines harschen Klimas, das sie körperlich und seelisch abgehärtet hatte und ihnen die Fähigkeit und Notwendigkeit von Selbstbeherrschung und harter Arbeit von jeher eingeimpft hatte.[22]

Doch die Schwäche wurde zugleich gedeutet als Ergebnis der Position, die der Orient innerhalb der Entwicklungsstadien einnahm. Im Gegensatz zu den „Wilden“, den Kindern der Weltgeschichte, hatte Asien die Zeit seiner Kraft und Blüte bereits hinter sich. Zwar konnte nicht ausgeschlossen werden, dass es selbst hier unter der väterlichen Führung der Europäer zu einer Regeneration kommen würde – das Vorbild war die europäische Renaissance, die sich aus der Begegnung mit dem klassischen Altertum gleichsam selber erneuert hatte, in geringerem Maße daneben die Reformation, als eine Rückkehr zu den Quellen. Anstatt den Anspruch auf Herrschaft nur auf der Gleichsetzung der Kolonisierten mit schutzbedürftigen Frauen zu gründen, enthielt dies Bild immerhin das Versprechen einer besseren Zukunft.

Doch bleiben wir noch einen Moment im frühen 19. Jahrhundert. Je mehr Asien zur Frau wurde, umso mehr gelang es Europa, sich männliche Eigenschaften zuzulegen. Dies traf für die Begegnungen in Asien zu: die britischen Bemühungen um Sozialreformen zugunsten von Frauen, zumal das Verbot der Witwenverbrennung[23] müssen unter anderem unter dem Aspekt der Attribution von Männlichkeit und Weiblichkeit im kolonialen Diskurs gelesen werden: „white men save brown women from brown men“, wie Gayatri Spivak es genannt hat.[24] Je mehr die Schutzfunktion für die indischen Frauen an die britischen Kolonialherren übergeht, umso männlicher werden diese.

Die Männlichkeit der Jungfrau Europa bleibt jedoch auch in ihrer Heimat nicht ohne Auswirkungen – nicht nur sie selbst war einst aus Asien gekommen, auch ihr neuzeitliches Selbstbild kam, wenn auch nicht aus Asien, so doch nicht zuletzt aus der Begegnung mit Asien. Oben haben wir gesehen, wie viel dessen, was später orientalistische Topoi werden sollten, bereits im europäischen Familientwist vorgeprägt worden war. So wichtig und richtig Edward Saids Ausführungen über den Zusammenhang von Orientalismus und kolonialer Machtausübung sind[25], so klug er die Diskurselemente freigelegt hat, durch die die Differenz zwischen Europa und dem Orient festgeschrieben wurde: die Bilder, mit denen Unterschiede und Identitäten im Inneren und nach Außen hervorgebracht werden, lassen sich kaum voneinander trennen und wandern ständig von einem Bereich in den anderen. Erfolgt die Selbstvergewisserung des weißen, bürgerlichen, zumeist protestantischen Mannes in der Abgrenzung von Frauen und Adligen, von Katholiken und Unterschichten und zunehmend von den Orientalen, zu deren Herrscher er geworden war, so ließ sich kaum vermeiden, dass zugleich die Kategorien der „Anderen“ immer näher zusammenrückten.[26] Der Orient hatte an der Greisenhaftigkeit der Aristokratie teil, zugleich wurde er weiblich. Die Unterschichten orientalisierten sich, dem „Darkest Africa“ stand das „Darkest England“ zur Seite,[27] und die Katholiken wurden zu innereuropäischen Orientalen.[28] Frauen teilten mit den Asiaten und den Unterschichten die Dominanz der Sinne über den Verstand, dem ewig Weiblichen stand das ewige Indien zur Seite, und sie alle fanden im bürgerlichen Mann Europas ihren Herrscher.

Stabilisierte dergestalt der Orient die europäischen Geschlechterverhältnisse, unterlief er sie paradoxerweise zur gleichen Zeit. Die augenfällige Zuschreibung von Eigenschaften funktionierte nur ganz oben, beim weißen bürgerlichen Mann, oder ganz unten, bei der orientalischen subalternen Frau. Schon die koloniale Memsahib verweigerte sich der Eindeutigkeit. Hat die Zivilisierungsmission die Aufgabe, dem Orient die „richtige“ Geschlechterordnung zu vermitteln, so kam der britischen Frau eine Vorbildfunktion zu. Sie musste ihre Weiblichkeit gleichsam auf der öffentlichen Bühne inszenieren, weithin sichtbar für die Beherrschten. Im Gegensatz zum bürgerlichen Haus war der koloniale Bungalow nur in geringem Maße Teil einer Privatsphäre – und damit wurde bereits ein wesentliches Element dessen, was da inszeniert werden sollte, unterlaufen.

Entsprach weiterhin die Herrschaft (zumindest über Männer) dem männlichen Charakter, das Dienen der Frau, so war die Memsahib als Tochter Europas ebenso männlich, wie sie als Frau weiblich war. Sie übte selbstverständliche Befehlsgewalt aus, nicht über zwei oder drei Dienstmädchen, sondern über einen Stab von männlichen wie weiblichen Angestellten, der die Größe eines mittleren Unternehmens erreichen konnte. War der Sahib auf Reisen, so übernahm Memsahib zumal bei den Missionaren und Händlern, aber bis in das 19. Jahrhundert hinein teilweise auch bei den Kolonialbeamten, seine Aufgaben. In Gefahrensituationen wurde von ihr eher erwartet, zur Waffe zu greifen und ihre Geistesgegenwart zu behalten, als in Ohnmacht zu fallen und auf den rettenden Ritter zu warten. Während in Europa gerade im 19. Jahrhundert die Frauen in der Vorstellung ihrer Männer an der Modernisierung nur begrenzten Anteil hatten und geradezu als ein Gegengewicht zu ihr imaginiert wurden, so waren die europäischen Frauen im Orient unzweideutig als Agenten einer kolonialen und europäischen Modernisierung eingesetzt, ob dies das Gesundheits- und Bildungswesen betraf oder die „Erziehung“ der Angestellten zu planmäßiger Arbeit und Pünktlichkeit.[29]

Doch es könnte sein, dass diese Verflechtung noch komplizierter ist, als es die Forschung zu Geschlecht und Imperialismus in den letzten Jahren gezeigt hat. Europa wurde mit fortschreitendem Alter zum Mann, damit wurde Asien weiblich und umgekehrt, je weiblicher Asien wurde, umso männlicher wurde Europa. Nun hat aber die historische Geschlechterforschung gezeigt, dass diese Kategorien im europäischen 18. und 19. Jahrhundert alles andere als stabil waren. Was als (ideale) Männlichkeit und Weiblichkeit galt, verschob sich laufend. Der Höfling des frühen 18. Jahrhunderts, der seine Courtoisie in Tanzstunden und durch französische Lektüre auszubilden suchte, der puritanische Händler, der die Bibel las und sich um finanzielle Rechtschaffenheit und ein gepflegtes Familienleben bemühte, die empfindsamen Jünglinge, die unter Tränen den Werther oder Clarissa lasen und sich in Mondscheinnächten ewige Freundschaft schworen, der Vertreter der „muscular Christianity“, der danach strebte, sein College als Kapitän des Cricketteams zu vertreten, bevor er in der weiten Welt Abenteuer und Ruhm suchte, sie alle vertraten völlig unterschiedliche Auffassungen von Männlichkeit und sie alle sind nicht nur in Europa, sondern auch in den Kolonien aufzufinden.[30] Wenn Asien – überhaupt, aber insbesondere in seiner Weiblichkeit – das „Andere“ der europäischen Männlichkeit darstellt, sich diese Männlichkeit aber laufend ändert, können wir diese Änderungen im Orientalismusdiskurs nachvollziehen? Ist Bengalen, ist Asien im späten 19. Jahrhundert auf eine andere Weise weiblich, als Ende des 18. Jahrhunderts?

Es lässt sich nach dem jetzigen Stand der Forschung nicht mit Sicherheit sagen, ob der Orientalismus tatsächlich so stabil ist, wie ihn die Forschung gezeichnet hat. Einiges spricht dafür, dass sich die Bilder des weiblichen Orients tatsächlich langsamer wandeln als die Bilder von Weiblichkeit in Europa, schon weil neue Praktiken der Geschlechterordnung in der Regel erst mit einer neuen Generation von Kolonialbeamten Asien erreichen. Auch eignet sich nicht jedes Bild von Weiblichkeit für die Konstruktion von Differenzen. So bietet etwa der schüchterne, aber reine viktorianische „angel in the house“ viel weniger Material für die Effeminisierung von Männern als etwa Vorstellungen aus dem 18. Jahrhundert, die die bedrohliche Sinnlichkeit und Zügellosigkeit der Frauen hervorheben. Wenn aber die Weiblichkeit Asiens möglicherweise nicht auf die zeitgenössische, sondern eine weiter zurückliegende Männlichkeit Europas antwortet, so stellt dies die Prämissen der Verflechtungsgeschichte zwar nicht infrage, wirft aber das Problem nach dem Zusammenhang zwischen Identität und Alterität noch einmal neu auf. Die Frage danach, was sich eigentlich in welchem Moment mit was verflochten habe, wird damit zwar nicht einfacher, aber auch nicht weniger spannend.

Wenn Europa in der Periode des Kolonialismus eine ziemlich laute Stimme hatte und nicht besonders gut im Zuhören war – auch in diesen Punkten dem Seefahrer ähnlicher als der jungfräulichen Königstochter –, hat sie Asien doch niemals völlig zu übertönen vermocht. Was sagte Indien, hier wieder pars pro toto, zu seinem oder ihrem eigenen Geschlecht? Zwei Stränge lassen sich unterscheiden, seit das Thema im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von indischen Nationalisten aufgegriffen wurde. Bharat Mata ist im Gegensatz zu Europa keine Jungfrau, denn als solche hätte sie im indischen Kontext kaum Autorität ausüben können, sondern eine Mutter, die ihrer Söhne zu ihrem Schutz herbeiruft.[31] Diese aber haben den kolonialen Diskurs zwischen Männlichkeit und Unabhängigkeit so verinnerlicht, dass die Tatsache der Kolonialisierung den Glauben an die eigene männliche Kraft unterminiert. Der Topos der Effeminisierung ist in indischen, zumal nordindischen und bengalischen Texte kaum weniger präsent als in den kolonialen.

Ein wichtiger Teil der religiösen und nationalen Reformbewegungen widmet sich daher der Maskulinisierung der jungen Generation. Der Arya Samaj etwa, der eine Erneuerung des Hinduismus aus seinen arischen und vedischen Wurzeln anstrebt, entwickelt ein Schulprogramm, in dem Jünglingen fern von der Dekadenz der Städte sowohl Wissen, als auch Körperertüchtigung und „character formation“ zuteil werden sollte. Diese Erziehung würde sie zu wahrer indischer Männlichkeit führen und sie damit in die Lage versetzen, die Nation zu regenerieren und zur Unabhängigkeit zu führen.[32] Auf ähnlichen Programmen basierten die indische Pfadfinderbewegung und die zahlreichen Volunteer Organisations und führten von dort teilweise in die paramilitärischen Verbände der Jahre vor der Teilung des Subkontinents.[33] Die Sorge um den Verlust der Männlichkeit lag auch der zentralen Stellung zugrunde, die die Diskussion von Potenzproblemen im medizinischen Diskurs einnahm.[34]

Ambivalenter in seinem Verhältnis zum kolonialen Diskurs war der zweite Ansatz, der seine einflussreichste Ausprägung in den Ideen Mahatma Gandhis fand. Auch Gandhi griff die Zuschreibung femininer Eigenschaften an den Orient auf, das Hauptmerkmal der Weiblichkeit war aber nun nicht mehr die Schwäche, sondern die Religiosität – dem materialistischen Westen stand der spirituelle Orient gegenüber. Ebendiese Spiritualität aber würde sich als die eigentlichen Kraftquelle für die Zukunft entpuppen, durch die der Orient nicht nur sich selber, sondern auch Europa erlösen würde. Nicht durch Imitation des Westens, so erläuterte es Gandhi bereits 1909 in seinem Manifest Hind Swaraj (Die Selbstregierung Indiens), würde Indien seine Unabhängigkeit erreichen, nicht durch die Übernahme männlich geprägter Eigenschaften, sondern durch die Rückbesinnung auf seine Weiblichkeit, die sich für ihn in Gewaltfreiheit und der Fähigkeit, Leiden zu ertragen, äußerte.[35] Der Widerhall, den seine Ideen im Westen fanden – von Tolstoi bis Romain Rolland, von Hermann Hesse bis Dietrich Bonhoeffer und den Beatles –, zeigt, dass Europa trotz seines oder ihres beispiellosen Triumphzuges Phasen der Sehnsucht nach der verlorenen Weiblichkeit und der asiatischen Heimat kannte.

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Was ergibt sich hieraus für die Forschung zu Europa und vor allem für ihr Verhältnis zu denen, die immer noch „Area Studies“ oder „Regionalstudien“ genannt werden, als ob Europa keine Area und keine Region, sondern die Quintessenz des Allgemeinen sei?

Wenn Europas asiatische Herkunft nicht nur eine mythologische Erinnerung war, sondern wichtige Elemente ihrer Identität in der Auseinandersetzung mit Asien (und den anderen Kolonien) geprägt wurden, so ist eine globalgeschichtliche Perspektive nicht mehr nur ein interessantes Extra, das man hinnehmen kann, wenn es etwa für einen Forschungsantrag Gewinn verspricht, das aber bei notwendigen Kürzungen ebenso rasch wieder zur Disposition steht. Vielmehr ist sie die notwendige Bedingung für eine sinnvolle Untersuchung der europäischen Geschichte. Dies bedeutet freilich nicht, dass alles und jedes in Europa den Niederschlag der kolonialen Erfahrung in sich trägt. Es bedarf noch großer Forschungsanstrengungen, bis wir die endogenen und exogenen Faktoren gewichten können. Aber, und darauf allein kommt es an, diese Gewichtung setzt bereits den gemeinsamen Bezugsrahmen und den Blick über die europäischen Grenzen voraus.

Dies kann sich in einer veränderten Berufungspolitik äußern. Lehrstühle für europäische Geschichte müssen nicht zwangsläufig mit Experten für die westeuropäische Binnensicht besetzt werden. Dabei geht es nicht darum, den „anderen“ etwas vom „eigenen“ abzugeben, sondern auch und gerade, das „eigene“ adäquater verstehen und interpretieren zu können. Wichtig ist vor allem, dass sich auf beiden Seiten Dialogfähigkeit entwickelt. Von (fast) keinem Forscher ist zu erwarten, dass er oder sie zum Spezialisten für die gesamte Weltgeschichte wird. Wohl aber können die Bereitschaft und die Ausbildung der Fähigkeit erwartet werden, das eigene Spezialgebiet den Spezialisten anderer Gebiete verständlich zu machen und ihnen den Zugang zu erleichtern. Nicht nur, aber auch hier zählt die geistige Beweglichkeit, sich auf neues Gebiet zu wagen und kreativ zuzuhören.

Wie weit man zudem kommt, wenn man sich auf altem Gebiet tummelt und Mythos und Geschichte zusammendenkt, haben die kurzen Ausführungen zum Alters- und Geschlechtswechsel Europas gezeigt. Selbst- und Fremdbilder des Kontinents sind ja nicht nur der kulturelle Zuckerguss, der sich über die sogenannte Realpolitik legt. Vielmehr bündeln sie Erfahrungen und entwerfen Ziele, die sich oft in konkretes Handeln übersetzen. Umgekehrt wird Politik an eben jenen Traditionen und Erwartungen gemessen, die das kulturelle Selbstverständnis von Europäern ausmachen.

In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoll, vor allem das 20. Jahrhundert und die Epoche der Dekolonisierung noch genauer in den Blick zu nehmen. Wie ging das männlich-erwachsene Europa damit um, dass sich seine in feminin-kindlicher Abhängigkeit gehaltenen Kolonien von ihm emanzipierten? Aus den 1920er Jahren gibt es Karikaturen, die Europa als alte Frau abbilden – ohnmächtig und unattraktiv.[36] Ob das aus indischer oder chinesischer oder afrikanischer Sicht ebenso aussah, ist eine offene Frage. Will man sie beantworten, wird man nicht umhin kommen, das anfangs angesprochene, aber nicht ausgeführte Thema der Gewalt stärker zu fokussieren, und zwar auf mehreren Ebenen: Gewalt als Kommunikationsmedium in der Phase kolonialer Expansion (und als Ausweis männlich-erwachsener Macht); Gewalt als europäische Selbstzerstörung („Entmannung“) im Ersten Weltkrieg (mit welchen Folgen für die koloniale Herrschaft außerhalb Europas); Gewalt als inner- und nachkoloniale Erfahrung.



[1] Als Beispiele: Schmale, Wolfgang, Geschichte Europas, Wien 2001, S. 21 ff.; Davis, Norman, Europe: A History, London 1997, S. xvii ff.

[2] Salzmann, Siegfried (Hg.), Mythos Europa. Europa und der Stier im Zeitalter der Industriellen Zivilisation, Hamburg 1988; Plessen, Marie-Louise von (Hg.), Idee Europa: Entwürfe zum „Ewigen Frieden“. Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung, Berlin 2003, v.a. S. 49 ff.

[3] Koselleck, Reinhart, Sprachwandel und sozialer Wandel im ausgehenden Ancien Régime, in: Studien zum 18. Jahrhundert, Bd. 2, München 1980, S. 15-30; Lepenies, Wolf, Das Ende der Naturgeschichte, München 1976, S. 9-28.

[4] Zitat Valery in: Plessen, Idee Europa, S. 33.

[5] Vgl. Ferguson, Adam, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (1767), hg. von Batscha, Zwi; Medick, Hans, Frankfurt am Main 1986, S. 123: „Die Bezeichnungen Mitbürger und Landsmann würden ohne die Gegensetzung der Worte Ausländer und Fremder, auf welche sie sich beziehen, außer Gebrauch geraten und bedeutungslos werden.“

[6] Ebd., S. 98.

[7] Rousseau, Jean-Jacques, Emil oder Über die Erziehung (1762), Paderborn 1981, S. 9.

[8] Ferguson, Versuch, S. 243, 105 f.

[9] Herder, Johann Gottfried, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774), Frankfurt am Main 1976, S. 46; Ders., Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784), Frankfurt am Main 1989, S. 354.

[10] Abgedruckt in: Honegger, Claudia, Die Ordnung der Geschlechter, Frankfurt am Main 1991, S. 245 f.

[11] Schiller, Friedrich, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede, in: Schillers Werke, Bd. 3 (Bibliothek Deutscher Klassiker), Berlin 1967, S. 275-295, hier S. 280f.

[12] Frevert, Ute, Eurovisionen: Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2003, S. 30 ff.

[13] Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, S. 282.

[14] Zitate aus Lützeler, Paul Michael (Hg.), Europa. Analysen und Visionen der Romantiker, Frankfurt am Main 1982, S. 102, 105.

[15] Osterhammel, Jürgen, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 52ff.

[16] Ebd., S. 389-393.

[17] Vgl., pars pro toto, Hausen, Karin, Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere, in: Conze, Werner (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363-393; Frevert, Ute, Bürgerliche Meisterdenker und das Geschlechterverhältnis, in: dies. (Hg.), Bürgerinnen und Bürger, Göttingen 1988, S. 17-48; Honegger, Ordnung der Geschlechter; Ute Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“: Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München 1995; Trepp, Anne-Charlott, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996.

[18] Hechter, Michael, Internal Colonialism. The Celtic Fringe in British National Development, Berkeley 1975.

[19] Colley, Linda, Britons. Forging the Nation. New Haven 1992.

[20] Zitat bei Honegger, Ordnung der Geschlechter, S. 245.

[21] Harrison, Mark, Climates and Constitutions. Health, Race, Environment and British Imperialism in India, 1600-1850, Delhi 1999. Siehe auch Arnold, David, Science, Technology and Medicine in Colonial India, Cambridge 2000.

[22] Sinha, Mrinalini, Colonial Masculinity: The ‚manly Englishman‘ and the ‚effeminate Bengali‘ in the late nineteenth century (Studies in Imperialism Series), Manchester 1995; Chowdhury, Indira, Gender and the Politics of Culture in Colonial Bengal, Delhi 1998.

[23] Mani, Lata, Contentious traditions. The Debate on Sati in Colonial India, Delhi1998; Fisch, Jörg, Tödliche Rituale. Die indische Witwenverbrennung und andere Formen der Totenfolge, Frankfurt am Main 1998.

[24] Spivak, Gayatri, Can the Subaltern Speak?, in: Nelson, Cary; Grossberg, Lawrence (Hgg.), Marxism and the interpretation of culture, Urbana 1988, S. 271-313.

[25] Said, Edward, Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London 1978.

[26] Hall, Catherine, White, male and middle class. Explorations in feminism and history, London 1992; Dies., Civilising subjects. Colony and metropole in the English imagination, 1830-1867, Chicago 2002.

[27] Booth, William, In Darkest England and the way out, London 1890.

[28] Borutta, Manuel, Der innere Orient: Antikatholizismus als Orientalismus in Deutschland, 1781-1924, in: Juneja, Monica; Pernau, Margrit (Hgg.), Religion und Grenzen in Indien und Deutschland. Auf dem Weg zu einer transnationalen Historiographie, Göttingen 2008, S. 245-277.

[29] Metcalf, Thomas, Ideologies of the Raj, Cambridge 1995, S. 92-112; Midgley, Clare (Hg.), Gender and Imperialism, Manchester 1998; Levine, Philippa (Hg.), Gender and Empire, Oxford 2004; Midgley, Clare (Hg.), Gender and Imperialism, Manchester 1998.

[30] Tosh, John, Manliness, masculinities and the New Imperialism, in: Ders. (Hg.), Manliness and Masculinity in Nineteenth-Century Britain, Harlow 2005, S. 192-214.

[31] Sinha, Mrinalini, Specters of Mother India: the global restructuring of an empire, Durham 2007.

[32] Fischer-Tiné, Harald, Der Gurukul-Kangri oder die Erziehung der Arya-Nation: Kolonialismus, Hindureform und ‚nationale Bildung‘ in Britisch-Indien (1897-1922), Würzburg 2003. Die Ambivalenzen dieses Diskurses, der nicht nur indische Männlichkeit gegenüber der Kolonialmacht stärken wollte, sondern auch die Religionsgemeinschaften um die je größere und zivilisiertere Männlichkeit wetteifern ließ, sollen an dieser Stelle ausgeklammert bleiben.

[33] Watt, Carey, Serving the Nation. Cultures of Service, Association, and Citizenship in Colonial India, Delhi 2005.

[34] Attewell, Guy, Refiguring unani tibb: plural healing in late colonial India, Hyderabad 2007.

[35] Gandhi, M. K., Hind Swaraj and Indian Home Rule, In: Collected Works of Mahatma Gandhi, Bd. 10, S. 6-68; siehe dazu auch Rothermund, Dietmar: Mahatma Gandhi und die britische Fremdherrschaft in Indien. In: Themenportal Europäische Geschichte (2007), .

[36] Hahmann, Werner, Auf dem Abrüstungsbahnsteig (Karikatur im Kladderadatsch 1926), in: Themenportal Europäische Geschichte (2007), ; siehe dazu auch den Essay von Jones, Priska, Europas Frieden? In: ebd., http://www.europa.clio-online.de/2007/Article=200.


Literaturhinweise:

  • Frevert, Ute, Eurovisionen: Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2003.
  • Levine, Philippa (Hg.), Gender and Empire, Oxford 2004.
  • Salzmann, Siegfried (Hg.), Mythos Europa. Europa und der Stier im Zeitalter der Industriellen Zivilisation, Hamburg 1988.
  • Sinha, Mrinalini, Colonial Masculinity: The ‚manly Englishman‘ and the ‚effeminate Bengali‘ in the late nineteenth century (Studies in Imperialism Series), Manchester 1995.
  • Tosh, John, Manliness, masculinities and the New Imperialism, in: Ders. (Hg.), Manliness and Masculinity in Nineteenth-Century Britain, Harlow 2005, S. 192-214.
Für das Themenportal verfasst von

Susanne Kassung

( 2009 )
Zitation
Susanne Kassung, Europa ist eine Frau: jung und aus Kleinasien. Beitrag zum Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2009, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1498>.
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