Lehrerinnen und Erzieherinnen unterwegs in Europa Beitrag zum Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“

Im Laufe des 19. Jahrhunderts änderten sich die Anstellungsverhältnisse von Erzieherinnen und Lehrerinnen in Deutschland. Es galt weiterhin die zwischen dem späten 16. und 18. Jahrhundert in vielen Ländern sukzessiv verfügte Unterrichtspflicht , doch kam es nun überdies zu einer zunehmenden staatlichen Regulierung des Bildungswesens insgesamt. Infolgedessen wurde auch die Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen stärker reglementiert. So musste für jeden Arbeitsvertrag einer Erzieherin schulpflichtiger Kinder, ob in einer Familie oder als Lehrkraft einer privaten Mädchenschule angestellt, ebenfalls eine erfolgreich abgelegte staatliche Prüfung nachgewiesen werden. Mitte des 19. Jahrhunderts fehlte es allerdings an entsprechenden Ausbildungseinrichtungen. So gab es beispielsweise im Königreich Sachsen bei der Einführung der Lehrerinnenprüfung am 17. Juni 1859 nur einen Ort, das Lehrerinnenseminar in Callnberg, an dem Interessentinnen eine entsprechende Ausbildung absolvieren konnten. [...]

Lehrerinnen und Erzieherinnen unterwegs in Europa[1]

Von Edith Glaser

Im Laufe des 19. Jahrhunderts änderten sich die Anstellungsverhältnisse von Erzieherinnen und Lehrerinnen in Deutschland. Es galt weiterhin die zwischen dem späten 16. und 18. Jahrhundert in vielen Ländern sukzessiv verfügte Unterrichtspflicht[2], doch kam es nun überdies zu einer zunehmenden staatlichen Regulierung des Bildungswesens insgesamt. Infolgedessen wurde auch die Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen stärker reglementiert. So musste für jeden Arbeitsvertrag einer Erzieherin schulpflichtiger Kinder, ob in einer Familie oder als Lehrkraft einer privaten Mädchenschule angestellt, ebenfalls eine erfolgreich abgelegte staatliche Prüfung nachgewiesen werden. Mitte des 19. Jahrhunderts fehlte es allerdings an entsprechenden Ausbildungseinrichtungen. So gab es beispielsweise im Königreich Sachsen bei der Einführung der Lehrerinnenprüfung am 17. Juni 1859 nur einen Ort, das Lehrerinnenseminar in Callnberg, an dem Interessentinnen eine entsprechende Ausbildung absolvieren konnten.[3] Für jene Frauen, die weiterhin im Königreich Sachsen als Lehrerin arbeiten wollten, aber weder über genügend Zeit noch über ausreichende finanzielle Mittel für den dazu gehörigen zweijährigen Seminarbesuch verfügten, führte man sogenannte Externenprüfungen ein. Diese wurden von 1860 bis 1878 halbjährlich in der sächsischen Residenzstadt Dresden abgehalten. Um an dieser Prüfung teilzunehmen, mussten die Bewerberinnen eine Reihe von Schriftstücken einreichen: ein Taufzeugnis, ein sogenannter Confirmationsschein, Zeugnisse über die Vorbildung zum Lehrberufe sowie sittliche Führungszeugnisse, die von städtischen Ämtern, vom Parochialgeistlichen oder von Beichtvätern ausgestellt sein mussten. Außerdem benötigten die Bewerberinnen ein ärztliches Zeugnis über ihren Gesundheitszustand und schließlich einen kurzen selbstverfassten Lebenslauf.[4] Von den Bewerbungsunterlagen sind nur die Lebensläufe überliefert. Diese sind eine außergewöhnliche Quelle, denn die Quellengattung gibt – der Lebenslauf Katharina Walkers ist ein Beispiel dafür[5] – einen Einblick in das bisherige private und berufliche Leben von Lehramtsbewerberinnen, von jungen Frauen jenseits der Privatheit bürgerlicher Familien.

Die aus den schottischen Lowlands stammende Katharina Walker hatte sich für den Prüfungstermin Februar 1875 zur „Reifeprüfung“ – so die offizielle Bezeichnung der Prüfung für die künftigen Lehrerinnen[6] – gemeldet. Mit ihr wurden 29 weitere Frauen zu dem Prüfungstermin zugelassen. Diese waren im Schnitt zehn Jahre jünger. Neben Katharina Walker hatten sich noch drei weitere Frauen zur Prüfung angemeldet, die in den offiziellen Unterlagen als „Reichsausländerinnen“ erschienen: Die eine war in Prag aufgewachsen, die andere in Warschau, eine dritte hatte Wien als Geburtsort angegeben.[7] Insgesamt wurden innerhalb von 18 Jahren 361 Frauen als Externe geprüft, darunter befanden sich 18 Frauen, die nicht in den Gebieten des späteren Deutschen Kaiserreichs geboren waren und die großenteils aus der Schweiz, aus Frankreich, Österreich-Ungarn, Russland und sogar den USA zur Prüfung nach Dresden kamen.

Auf die Frage nach den Gründen, warum Katharina Walker gerade in Dresden und nicht in ihrem Heimatland eine Lehramtsprüfung ablegen wollte, gibt ihr Lebenslauf nur bedingt Auskunft. Sie schreibt nur von einem „langgehegten Plan“. Aber die Analyse ihrer Lebensbeschreibung und die ihrer Mitbewerberinnen verweist auf eine Arbeitsmobilität bürgerlicher Frauen innerhalb Europas, die die ihnen immer wieder pauschal unterstellte Nähe zur Familie sowie ihre Beschränkung auf den Bereich des Privaten deutlich in Frage stellt. Neben familiären Beweggründen waren es offensichtlich strukturelle Gegebenheiten, die die jungen Frauen zwangen, wenn sie weiterhin im Königreich Sachsen tätig sein wollten, die Lehramtsprüfung abzulegen.

Die französische Sprache war in der höheren Mädchenbildung vorherrschend – ob in städtischen Mädchenschulen, in privaten Instituten oder im häuslichen Unterricht. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts fand aber auch das Englische gleichberechtigt im Lehrangebot seinen Platz. In der von Louise Otto redigierten Frauen-Zeitung findet sich dazu eine Anzeige, in der auf eine Fortbildungsschule für junge Frauen aufmerksam wird. Man warb damit, dass der „französische Unterricht […] practisch von einer geborenen Französin, englischer von einer geborenen Engländerin“[8] erteilt werde. Es ist zu vermuten, dass es genau die hier evozierte verstärkte Nachfrage nach muttersprachlichen Lehrkräften für den Konversationsunterricht war, die Katharina Walker und andere mit nach Dresden und Leipzig gezogen haben dürfte.

Alles in allem hatten zwischen 1860 und 1914 im Königreich Sachsen 2.605 Frauen die „Reifeprüfung“ abgelegt. Mehrheitlich waren die 2.244 Bewerberinnen in einem der drei Lehrerinnenseminare in Callnberg, Dresden (seit 1875) und Leipzig (seit 1899) auf die Abschlussprüfung vorbereitet worden.[9] Durchschnittlich wurden jährlich knapp 50 Frauen für den Lehrberuf examiniert. Diese Quote lag weit über dem Bedarf des öffentlichen Mädchenschulwesens im Königreich Sachsen. Aber wie die Prüfungsregularien zeigen, war es nicht nur das Ziel für das öffentliche Schulwesen auszubilden sondern gezielt im Privatschulwesen und im Privatunterricht examinierte Lehrkräfte zu platzieren. Dresden galt im 19. Jahrhundert als „die Stadt der Privatschulen“[10], war eine traditionsreiche Musik- und Kulturstadt und dadurch auch eine Stadt mit einem relativ hohen Ausländeranteil.[11] Die russische und die anglikanische Kirche sind Hinweise auf eine große russische und englischsprachige Gemeinde, deren bürgerliche Mitglieder mögliche Arbeitgeber waren.

Als Katharina Walker sich zur Prüfung anmeldete, war sie bereits 30 Jahre alt und gehörte damit zu jenem Drittel der Kandidatinnen, die bereits das 25. Lebensjahr überschritten und ausreichend Berufserfahrung hatten, zu der oft eine mehrjährige Tätigkeit im Ausland gehörte. Sie hatte vor der Prüfung bereits sieben Jahre in Familien und Schulen in Frankreich, England und Deutschland als Fremdsprachen- und Musiklehrerin gearbeitet. Ein ähnliches Muster von sprachlicher Fortbildung und Erwerbstätigkeit findet sich beispielsweise auch bei einer im gleichen Jahr geprüften 30jährigen Frau, Tochter eines Sanitätsrates aus dem preußischen Schkeuditz. Diese ging „im Jahre 1870 nach England als Lehrerin der Musik und der deutschen Sprache und war […] in verschiedenen Pensionsanstalten für Mädchen thätig.“ Es folgte ein Aufenthalt in Paris zu Verbesserung der Französischkenntnisse, um schließlich in Deutschland „eine Stelle als Lehrerin für die französische und die englische Sprache in der Lehr- und Erziehungsanstalt für Töchter gebildeter Stände des Fräulein Selma Leiter in Blasewitz bei Dresden“[12] anzunehmen.

Der relativ hohe Anteil älterer Bewerberinnen wie Katharina Walker und der oben zitierten Preußin, die sich in Dresden zur Prüfung zu meldeten, hing sehr wahrscheinlich mit der im Regulativ von 1859 verfügten Bestimmung zusammen, nur noch geprüfte Lehrerinnen in den öffentlichen und privaten Schulen sowie für den Unterricht schulpflichtiger Kinder in Familien zuzulassen.[13] Außerdem wurde die Konzession zur Führung einer Privatschule, in der auch schulpflichtige Kinder unterrichtet werden sollten, nur noch denen erteilt, die das „Reifezeugnis“ vorlegen konnten. Ungeprüften weiblichen Lehrkräften wurde teilweise eine Nachfrist für das Nachholen des Lehrerinnenexamens gewährt, so dass erst nach einer zehnjährigen Übergangsfrist Anfang der 1870er Jahre die Altersspanne der Prüflinge kleiner wurde. Damit regulierte das Königreich Sachsen seinen „privaten Schulmarkt“, kontrollierte den Zugang zum öffentlichen Schulwesen und normierte zugleich das Ausbildungswissen der Lehramtskandidatinnen.[14]

Wenn bis Mitte des 18. Jahrhunderts der Hofmeister mit seinen adeligen Zöglingen auf die Grand Tour ging, lernte er Frankreich, Italien, die Niederlande, England und andere europäische Länder kennen.[15] Doch auch sein weibliches Pendant, die Gouvernante oder Erzieherin, verschaffte sich im 19. Jahrhundert auf ihren Fahrten zu wechselnden Arbeitgebern und an den jeweiligen Dienstorten einen Eindruck von diesen Ländern, wobei die Intention und die Ausgestaltung der Reisen andere waren. Eindrücke aus der Fremde haben aber beide mit genommen. Wenn in der bildungshistorischen Forschungsliteratur heute nach diesem Wissen gefragt wird, stehen Beobachtungen und Erfahrungen deutscher Lehrerinnen und Erzieherinnen im Ausland, und zwar besonders in England und Frankreich, im Zentrum. Von deutscher Seite aus gab es für den Aufenthalt in den europäischen Großstädten London und Paris in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gute Infrastruktur: Wohnheime waren eingerichtet und Stellenvermittlungen organisiert worden. Über die Arbeitssituation in den jeweiligen Ländern berichteten ausführlich die örtlichen Zweigvereine des Allgemeinen deutschen Lehrerinnenvereins nach Deutschland.[16] Marginal sind hingegen die Befunde über die Infrastruktur ausländischer Lehrerinnen und Erzieherinnen im deutschen Kaiserreich sowie über das in ihre Heimatländer vermittelte Wissen über Anstellungs- und Arbeitsbedingungen in Preußen, Bayern, Sachsen etc. Bildungshistorische Untersuchungen zum Kulturtransfer sind somit mehrheitlich „importorientiert“, denn sie fokussieren auf deutsche Lehrerinnen im Ausland, fragen nach den pädagogischen Konzepten und praktischen Umsetzungen, die diese aus der Fremde mitbrachten und die sie vor allem in die bildungspolitischen Forderungen der Frauenbewegung einfließen ließen.

Die Aufenthalte in England und Frankreich verliefen indes weder bei deutschen Lehrerinnen noch bei Katharina Walker gänzlich ohne Konflikte. Bei der jungen schottischen Erzieherin waren es häufig die Bestrebungen der Arbeitergeber, sie zum Übertritt zum Katholizismus zu bewegen. Andere litten stark unter Heimweh und dem Klima, was schließlich zum Abbruch eines Auslandsaufenthalts führen konnte: „Mrs. Collins, die Mutter meiner Schülerin, [empfahl mich] einer Familie in Irland, wo ich eine sehr freundliche Aufnahme fand. Doch das milde und immer feuchte Klima des Landes sagte mir, einer Norddeutschen so wenig zu, daß ich nach Verlauf von anderthalb Jahre, auf Geheiß des Arztes die immer grüne Insel wieder mit Deutschland vertauschte.“[17] – so der Erfahrungsbericht einer weiteren Bewerberin.

Die „kurzen selbstverfassten Lebensläufe“ lassen oft ausführlich an Kindheit und Jugend der Verfasserinnen teilhaben, erzählen vom Tod des Vaters, von der schulischen Vorbildung und von den eigenen, häufig in mehreren Ländern gemachten Berufserfahrungen. Nicht nur Katharina Walkers Lebenslauf – er aber besonders, weil sie aus England kommt und der Vater als anglikanischer Pfarrer vorgestellt wird – liest sich bei der ersten Lektüre wie eine Zusammenfassung von „Jane Eyre. An Autobiography“ von Charlotte Bronte.[18] Ob dieser 1847 erstmals erschienene Klassiker der viktorianischen Romanliteratur Einfluss auf die Ausgestaltung des Lebenslaufs hatte, lässt sich zunächst nicht belegen, denn Parallelen sind nur zum Teil da gegeben, wo auf Krankheiten und das positive erzieherische Verhältnis zum Zögling eingegangen wird. Katharina Walker erzählt ihr Leben von der frühesten Kindheit, dem Aufwachsen und der schulischen Unterweisung zusammen mit ihren sechs Geschwistern in einer Pfarrersfamilie. Schon früh lernte sie Erzieherinnen kennen, die sie und ihre Geschwister unterrichtet hatten. Daher war nach dem Tod des Vaters die Stellensuche in Frankreich nichts Außergewöhnliches, hatte sie doch selbst eine die französische Sprache unterrichtende Erzieherin in ihrer Jugend erlebt. Neu für Katharina Walker war das Land, welches sie mit zunehmender Empathie vorstellt. Die Beschreibung von Paris erfolgt hier zunächst noch recht nüchtern und auf das wesentliche der Berufstätigkeit konzentriert, die ausführlichen Schilderungen ihrer Tätigkeit in Burgund und später am Rande der Pyrenäen sind jedoch von begeisterten Landschaftsbeschreibungen begleitet. Das Erzählmuster – anfangs zurückhaltend, dann begeistert und immer ausführlicher über Leben und Arbeit in der Fremde berichtend – findet sich ebenfalls in anderen Lebensläufen. So werden zum Beispiel von einer Lehramtskandidatin, die 1853 nach England ging, das Heimweh und die unzulänglichen Sprachkenntnissen notiert sowie dass ihr „die englische Lebensweise durchaus nicht zusagen wollte“. Auch Zweifel, ob sie in ihrer erzieherischen Tätigkeit den Anforderungen der Eltern genüge, werden geäußert, um anschließend ausführlich von der „großen Anerkennung“ durch die Arbeitergeber, über den beruflichen Aufstieg in einer angesehenen Mädchenschule sowie von ihrer Begeisterung für die englische Sprache und Literatur zu berichten.[19] Hier und wie bei Walker auch führt alles auf das eine Ziel, das Lehrerinnenexamen, hin.

Ob es nun die Notwendigkeit zur Erwerbstätigkeit, die in Aussicht gestellte gute Bezahlung, die Nachfrage nach der englischen Miss als eine bestimmte Werte, vor allem Abhärtungen vermittelnde Erzieherin[20], Anregungen der erweiterten Familie oder auch eine gewisse Abenteuerlust war, die die jungen Frauen in fremde Länder reisen ließen, lässt sich nicht immer eindeutig aus den biographischen oder literarischen Zeugnissen erschließen. Hinweise auf diese Motivlagen finden sich immer wieder, manchmal war es die „Einladung sehr lieber Freunde“, die englische und amerikanische Verwandtschaft oder die Bekanntschaft mit „sehr vielen Engländerinnen“, die schließlich ins Ausland führte, um dort wieder in „Stuben voller junger Leute aus allen Himmelsgegenden: Engländer, Franzosen, Portugiesen, […] und sogar ein Japanese,“ zu kommen und ein „natürlich reges Leben in jeder Beziehung“[21] zu genießen.

Katharina Walker lässt uns über ihren Lebenslauf Anteil nehmen an ihrer Familiengeschichte, indem sie ausführlich über Krankheiten und Tod ihrer Geschwister und ihres Vaters schreibt. Wenn – wie oben angedeutet – „Jane Eyre“ nur ansatzweise als Schreibvorlage gedient hat, dann fragt man nach weiteren, auch in Schottland bekannten Schreibvorlagen. Darüber hinaus ist die Formtradition der Quellengattung interessant, denn mit ihr verbinden sich einige genrespezifische Regeln, die Katharina Walker ebenso wie die anderen Verfasserinnen offenbar bestens kannte. Lebensläufe als Bestandteil von Bewerbungsunterlagen zu verlangen, war keine Erfindung des sächsischen Kultusministeriums. Dieses griff mit seinen Vorgaben für die Prüfungsanmeldung der Externen vermutlich auf die Praxis in Kaiserswerth zurück. Für die Anmeldung in dem 1844 von Theodor Fliedner dort gegründeten Seminar für Elementarlehrerinnen hatten die Bewerberinnen unter anderem „einen selbstverfaßten und selbst geschriebenen kurzen Lebenslauf über ihre äußeren und inneren Führungen einzusenden, in einer einfachen, ungeschminkten Darstellung, die aus ihrem Herzen geflossen und von keinem Andern verbessert ist.”[22] Die Kaiserswerther Einrichtung war das Vorbild gewesen für den Stifter der beiden Lehrerinnenseminare im preußischen Droyßig bei Zeitz und im sächsischen Callnberg, Otto Victor Fürst von Schönburg-Waldenburg. Zumindest auf Seiten der Gründer ist hier also eine klare Traditionslinie zu erkennen.[23]

Bereits in der Kaiserswerther Prüfungsordnung wurde außerdem ein aussagekräftiges Gliederungsschema formuliert, wenn die Rede von einem „Lebenslauf über ihre äußeren und inneren Führungen“ war[24]. Auch der Brockhaus gab genau diese Gliederung vor. Was aber war mit diesem „außen“ und „innen“ gemeint, wie wurde es gedeutet und gab es Vorlagen, an denen sich die Bewerberinnen möglicherweise orientieren konnten? Als einen Spezialfall der Biographie wird im Brockhaus die „Selbstbiographie“ angeführt. Diese wird seit der 8. Auflage (1835) auch als Autobiographie bezeichnet und als eine Darstellung, „in welcher eine Person selbst ihre Schicksale, Handlungen und Meinungen erzählt und angibt“[25] definiert. Über die Voraussetzungen für das Schreiben einer Autobiographie heißt es in der 3. Auflage des „Brockhaus“: „Es gehört zu diesem Unternehmen ein seltener Grad von Selbsterkenntnis und ein noch seltenerer Grad von Wahrheitsliebe; Eigenschaften, die nur von demjenigen in dem erforderlichen Maße zu erwarten sind, der in dem gerechten Gefühl seines moralischen Werthes auch seine Schwächen und Fehler ohne Beschämung bekennen darf.“[26]

Doch der Brockhaus ist nur eine unter mehreren möglichen Inspirationsquellen. Denn schließlich erstaunt es heutige Leser, in welcher Offenheit die Kandidatinnen in ihren Lebensläufen zuweilen über die eigenen persönlichen Unzulänglichkeiten schrieben, und dies sogar in Schriftstücken, die sie an unbekannte Personen richteten. Gerade diese Offenheit in Verbindung mit der Darstellung der „äußeren“ Ereignisse und dem manchmal in den Schlusssätzen angeflehten Beistand Gottes weist noch auf eine weitere Vorlage hin: Der Lebenslauf der Lehramtsbewerberinnen kann somit auch als eine eher säkularisierte Form der pietistischen Autobiographie gelesen werden. Damit schließt sich der Bogen zu den Bewerbungsvorgaben bei dem Pietisten Theodor Fliedner für das Kaiserswerther Lehrerinnenseminar. Günter Niggl, der Lebensläufe von Pietisten im späten 17. und 18. Jahrhundert untersuchte, stellt fest, dass „die pietistische Autobiographie [...] von Anfang an die Neigung [zeigt], die äußeren Daten des Lebens nicht nur als unerläßliches (chronologisch-topographisches) Gerüst zu sehen, sondern dem weltlichen Leben mit und neben der religiösen Geschichte Raum zu gönnen”.[27] Daher hatte dieses Nebeneinander von äußeren und inneren Ereignissen eine bestimmte Form und stand in einer gewissen Tradition. Gerade diese pietistischen Lebensläufe waren sicherlich vielen Lehramtsaspirantinnen bekannt, da sie mehrheitlich aus dem protestantischen Milieu kamen wie auch Katharina Walker.

Der Arbeitsmobilität ausländischer Lehrerinnen wurden an der Wende zum 20. Jahrhundert schließlich Grenzen gesetzt. Die Ausgrenzung vollzogen auch die Vertreterinnen der Lehrerinnenverbände im Bemühen um die Institutionalisierung und Professionalisierung der Lehrerinnenausbildung. Hinzu kam ihr neuer Glaube an die Bedeutung der Nation: Als Vorsitzende des Leipziger Lehrerinnenvereins richteten Rosalie Büttner und Käthe Windscheid 1896 an die Stadtverwaltung Leipzig in diesem Sinne ein Gesuch für die Einrichtung eines städtischen Lehrerinnenseminars. Als Begründung führten sie unter anderem die eigene Vereinserfahrung an, dass es im Reich an fremdsprachlichen Lehrerinnen fehle. Dabei wandten sie sich scharf gegen die gängige Praxis, dass „in Familien und Schulen [derzeit noch] Ausländerinnen für Unterricht verwendet [würden], der recht gut von Deutschen gegeben werden könnte.“[28] Einige Jahre später argumentierte die Vorsitzende des Allgemeinen deutschen Lehrerinnenvereins, Helene Lange, ähnlich: „So kam man allmählich dazu, eine fachlich vorgebildete Deutsche als Erzieherin zu wählen und der Französin (oder Engländerin) nur noch – als Bonne – die ganz Kleinen zu überlassen oder sie nach Beendigung der eigentlich schulmäßigen Ausbildung nur der Sprache wegen noch zuzuziehen. Heute darf man wohl sagen, dass die deutsche Erzieherin sich Deutschland erobert hat.“[29] Zwar war – als Helene Lange 1904 diese nationalistische Feststellung für das encyklopädische Handbuch der Pädagogik niederschrieb – die Verberuflichung weiblicher Lehrtätigkeit in Deutschland noch nicht zum Abschluss gebracht worden, aber am Beispiel des beruflichen Werdegangs von Katharina Walker lassen sich Folgen des Professionalisierungsprojekts zeigen: Erstens wird der Arbeitsmobilität junger bürgerlicher Frauen in Mittel- und Westeuropa im 19. Jahrhundert von einer auf die Stärkung nationaler Identität orientierten pädagogischen Historiographie zu wenig Beachtung geschenkt; zweitens waren die Zertifizierungsmöglichkeiten von Lehrerinnen nicht an ihre nationale Herkunft gebunden, und drittens kam es bei zunehmender Professionalisierung weiblicher Lehrtätigkeit zur nationalen Schließung des Arbeitsfeldes Schule.



[1] Essay zur Quelle: Lebenslauf der Katharina Walker (ca. 1875).

[2] Erst mit der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 wurde mit Art. 145 die allgemeine Schulpflicht in Deutschland eingeführt.

[3] Zur Geschichte dieses Lehrerinnenseminars vgl.: Höser, Julius, Das Königliche Lehrerinnen-Seminar zu Callnberg. Festschrift zur Feier des 50jähr. Bestehens der Anstalt, Lichtenstein 1906; Glaser, Edith, Fachfrau oder Naturbegabung? Zur Berufsgeschichte von Lehrerinnen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Halle 2000.

[4] Vgl. Regulativ, die Prüfung von Lehrerinnen betreffen, in: Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen, Dresden 1859, S. 272-277.

[5] Quelle zum Essay: Lebenslauf der Katharina Walker (ca. 1875).

[6] Die erste Prüfung für zukünftige Volksschullehrer am Ende der seminaristischen Ausbildung hieß „Schulamtskandidatenprüfung“, die zweite, nach einer zweijährigen Tätigkeit als Hilfslehrer abzulegende Prüfung wurde Wahlfähigkeitsprüfung genannt.

[7] Bei der einen hatten die politischen Verhältnisse in Warschau nach dem Januaraufstand 1863 die Übersiedlung der Familie nach Dresden zur Folge, die andere kam nach dem Tod des Vaters (Fabrikant in Prag) in ein Dresdner Internat und der Vormund billigte eine Lehrtätigkeit seines Schützlings. Die in Wien Geborene war die Tochter des Landschaftsmalers Louis Gurlitt, der mit der Familie bis 1860 auf ausgedehnten Studienreisen durch Europa gereist war. (vgl. SächsHStA-D, 11125 Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts Nr. 13237)

[8] Zitiert nach SächsHStA-D, 11125 Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts Kreishauptmannschaft Leipzig Nr. 2417.

[9] Vgl. Rost, Bernhard, Entwicklung und Stand des höheren Mädchenschulwesens im Königreich Sachsen, Tübingen 1907; Glaser, Fachfrau.

[10] Rost, Entwicklung, S. 105; ausführlich zur Tätigkeit von Lehrerinnen und Erzieherinnen in Privatschulen: Glaser, Edith: Lehrerinnen als Unternehmerinnen, in: Baader, Meike Sophia; Kelle, Helga; Kleinau, Elke (Hgg.), Bildungsgeschichten. Geschlecht, Religion und Pädagogik in der Moderne, Köln 2006, S. 179-193.

[11] Vgl. dazu: Richter, Ralf, Reichsausländer in Dresden zwischen 1871 und 1914, Magisterarbeit, Humboldt-Universität zu Berlin 1996.

[12] SächsHStA-D, 11125 Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts Nr. 13237.

[13] Ausgenommen von dieser Regelung waren diejenigen Lehrerinnen, die „lediglich Unterricht in weiblichen Arbeiten, in neueren Sprachen, in der Musik und Zeichnen ertheilten.” (zit. nach Simon, Chr. August (Hg.), Quellenschriften zur Geschichte der Volksschule und der Lehrerseminare im Königreich Sachsen, Leipzig 1910, S. 399).

[14] Über die Konfessionszugehörigkeit der Lehramtsbewerberinnen liegen nur unvollständige Angaben vor: 240 gaben die Zugehörigkeit zur evangelisch-lutherischen Kirche an, drei die zur evangelisch-reformierten, 19 die zur katholischen Kirche und eine bekannte sich zur anglikanischen Kirche; fünf waren jüdischen Glaubens und drei vermerkten „freireligiös“ in ihren Lebensläufen.

[15] Vgl. dazu: Stannek, Antje, Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2001; Freller, Thomas, Adlige auf Tour. Die Erfindung der Bildungsreise. Ostfildern 2007; Fertig, Ludwig, Die Hofmeister. Ein Beitrag zur Geschichte des Lehrerstandes und der bürgerlichen Intelligenz, Stuttgart 1979.

[16] Vgl. dazu: Hardach-Pinke, Irene, Die Gouvernante. Geschichte eines Frauenberufs, Frankfurt am Main 1993; Gippert, Wolfgang; Kleinau, Elke, Interkultureller Transfer oder Befremdung in der Fremde? Deutsche Lehrerinnen im viktorianischen England, in: Zeitschrift für Pädagogik 52 (2006), S. 338-349; Gippert, Wolfgang, Ambivalenter Kulturtransfer. Deutsche Lehrerinnen in Paris 1880 bis 1914, in: Historische Mitteilungen 19 (2006), S. 105-133; Gippert, Wolfgang, Das Ausland als Chance und Modell: Frauenbildung im viktorianischen England im Spiegel von Erfahrungsberichten deutscher Lehrerinnen, in: Ders.; Götte, Petra; Kleinau, Elke (Hgg.), Transkulturalität. Gender- und bildungshistorische Perspektiven, Bielefeld 2008, S. 181-199. Gippert; Kleinau und Hardach-Pinke arbeiten mit Autobiographien, die als Selbstzeugnisse von Lehrerinnen ihre Erfahrungen in der Fremde thematisieren oder Kindheitserinnerungen bürgerlicher und adeliger Frauen an ihre Erzieherinnen und Gouvernanten enthalten.

[17] SächsHStA-D, 11125 Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts Nr. 13234.

[18] Bronte, Charlotte, Jane Eyre, Zürich 2001.

[19] SächsHStA-D, 11125 Ministerium für Kultus und Öffentlichen Unterricht Nr. 13236.

[20] Vgl. Hardach-Pinke, Die Gouvernante, S. 191.

[21] SächsHStA-D, 11125 Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts Nr. 13235.

[22] Bormann, Karl, Die Prüfung der Lehrerinnen in Preußen nach ihrer Vorbereitung, Vollziehung und Wirkung, Berlin 1867, S. 98f.

[23] Vgl. Eckardt, C.G., Otto Victor Fürst von Schönburg-Waldenburg in seinem öffentlichen Leben und Wirken geschildert, Waldenburg 1859. In der „Bekanntmachung vom 24. Juni 1852 – betreffend das Seminar für die Ausbildung von evangelischen Elementar-Lehrerinnen für sämmtliche Provinzen der Monarchie zu Droyssig” – war bestimmt worden, dass die Bewerberinnen neben Geburts- und Taufschein, ein ärztliches Zeugnis, ein Zeugnis über die sittliche Führung und die Vorbildung sowie einen „von der Bewerberin selbst verfaßten Lebenslauf, aus welchem ihr bisheriger Bildungsgang zu ersehen und auf die Entwicklung ihrer Neigung zum Lehrerberuf zu schließen ist” einzureichen haben. Der Lebenslauf galt „zugleich als Probe der Handschrift.” (Bekanntmachung vom 24. Juni 1852 – betreffend das Seminar für die Ausbildung von evangelischen Elementar-Lehrerinnen für sämmtliche Provinzen der Monarchie zu Droyssig, zit. nach: Bormann, Prüfung, S. 121f.)

[24] Bormann Prüfung, S. 98f.

[25] Artikel „Biographie“, in: Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände, 1. Bd., 3. Aufl., Leipzig 1814, S. 715.

[26] Ebd.

[27] Niggl, Günter, Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 367-391, hier S. 383.

[28] SächsHStA-D, 11125 Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts Nr. 12776.

[29] Lange, Helene: Artikel „Erzieherin“, in: Rein, Wilhelm (Hg.), Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Bd. 2, 2. Aufl., Langensalza 1904, S. 539-547, hier S. 541f.


Literaturhinweise:

  • Gippert, Wolfgang, Das Ausland als Chance und Modell: Frauenbildung im viktorianischen England im Spiegel von Erfahrungsberichten deutscher Lehrerinnen, in: Ders.; Götte, Petra; Kleinau, Elke (Hgg.), Transkulturalität. Gender- und bildungshistorische Perspektiven, Bielefeld 2008, S. 181-199.
  • Glaser, Edith, Lehrerinnen als Unternehmerinnen, in: Baader, Meike Sophia; Kelle, Helga; Kleinau, Elke (Hgg.), Bildungsgeschichten. Geschlecht, Religion und Pädagogik in der Moderne, Köln 2006, S. 179-193.
  • Hardach-Pinke, Irene, Die Gouvernante. Geschichte eines Frauenberufes, Frankfurt am Main 1993
  • Rogers, Rebecca, Frauen- und Geschlechtergeschichte in der Geschichte der Erziehung: Neue Perspetiven, in: Casale, Rita; Tröhler, Daniel; Oelkers, Jürgen (Hgg.), Methoden und Kontexte. Historiographische Probleme der Bildungsforschung. Göttingen 2006, S. 42-63.

Lebenslauf der Katharina Walker (ca. 1875)[1]

Am 15. April 1844 wurde ich zu Eden Cottage in der Nähe von Peterhead geboren. Ich habe aber keine Erinnerungen an diesen Ort, denn einige Monate später wurde mein Vater zum Pastor einer ländlichen Gemeinde zu Clatt in Aberdeenshire berufen, und diese Stätte ist es also, welche ich als meine eigentliche Heimath betrachte, hier verlebte ich meine ganze Jugendzeit. Ruhig und einsam war dieses schöne Bergthal, zurückgezogen und still war unser dortiges Leben. Eine Schwester war älter als ich, zwei waren jünger. Bald erschienen noch zwei Kinder, aber nach einem kurzen Aufenthalt bei uns wurden sie heimgerufen.

Wir gingen, meine älteste Schwester und ich, eine Zeit lang in die Dorfschule, aber bald überzeugte sich mein Vater, daß dieser Plan nicht vortheilhaft war, und daher bekamen wir eine Erzieherin. Ach welch ein Schreck überfiel mich als ich Miss Ettles zum ersten Male sah!, den milden Blick meiner Mutter gewohnt, beobachtete ich mit Angst die strengen Züge unserer neuen Lehrerin, und in der Tath haben wir sie so streng gefunden, daß, obwohl sie vier Jahr bei uns wohnte, sie doch unsere Liebe nicht gewann. Ihre Pflicht als Lehrerin erfüllte sie gewissenhaft und unterrichtete uns gründlich im Englischen und in den Elementen der Musik und der französischen Sprache.

Im Alter von 12 Jahren wurde ich mit meiner Schwester nach Aberdeen zu Bekannten geschickt, und wir besuchten daselbst eine sehr gute Schule. Jetzt waren aber vier Kinder zu Hause, und da sie auch Unterricht brauchten, suchten die Eltern eine neue Lehrerin auf, welche fähig war, uns alle zu unterrichten. Sie war eine sehr liebenswürdige Person, und die zwei Jahre unter ihrer Leitung wurden glücklich zugebracht. In der Klasse mußten wir tüchtig arbeiten, außerhalb der Schule vergnügten wir uns im Garten, wir ritten zu Pferde, unternahmen weitere Spaziergänge, oder kletterten auf die Berge. Drei Jahre lang gingen wir jeden Winter in die Stadt, besuchten eine höhere Töchterschule, und jeden Sommer genossen wir das Landleben. Den letzten Winter, in dem meine älteste Schwester und ich in die Schule gingen, traf uns ein tiefer Schmerz. Ein ganz plötzlicher Tod ereilte eine kleine Schwester und obwohl wir sofort nach Hause gerufen wurden, kamen wir nicht zeitig genug an, um sie am Leben zu sehen. Hier fühlte ich zum ersten Male den Schmerz des Scheidens, das Leid, einen leeren Stuhl zu sehen und zu wissen, daß nie in dieser Welt, ich das liebe Gesicht wieder sehen könnte. Die zwei folgenden Jahre beschäftigten wir uns mit dem Unterrichte unserer jüngeren Geschwister und mit unseren Studien. Manche Stunde brachten wir auch zu, um das arme Landvolk aufzusuchen und ihr hartes Loos möglichst zu lindern. Aber dieses glückliche Leben sollte nicht lange dauern. Eines Tages im Herbst des Jahres 1864 wurde mein einziger Bruder plötzlich krank, und bald wußten wir, daß seine Krankheit ein Fieber sei. Eine Schwester nach der anderen, zuletzt wir alle, legten uns hin, und als ich nach sechs Wochen wieder zu Bewußtsein kam, trafen meine Augen nur blaße Gesichter und kahle Köpfe, und ach – ein Gesicht sah ich nicht wieder; mit zitternder Stimme fragte ich nach der ältesten Schwester. Niemand antwortete, aber das Schweigen war mir genug. Ich mußte es lernen, eine Schwester zu entbehren, welche mir theurer war als das Leben.

Wir erholten uns, wenn auch sehr langsam, im Frühling merkten aber wir, daß unser Vater, welcher von der Sorge und dem Kummer tief gebeugt war, sich nicht erholte. Jeden Tag wurde seine Lage bedenklicher, und zuletzt reiste er, begleitet von meiner Mutter, nach Edinburg, um ärztlichen Rath einzuholen. Die Aerzte gaben keine Hoffnung der Besserung, wir wußten, daß er bald sterben würde. Zwei traurige Jahre gingen langsam vorbei. Ich hatte vieles im Hause zu besorgen, auch beim Unterricht meiner Schwestern mußte ich behülflich sein. Im Jahre 1867 standen wir vaterlos da. Die Trennung vom Pfarrhaus wurde uns sehr schwer; meine Mutter siedelte nach der Stadt Aberdeen über; ich folgte dem Rath meiner Verwandten und suchte eine Stelle in Frankreich.

Etwas Außerordentliches erschien mir diese Reise nach Paris, denn ich verließ zum ersten Male das elterliche Haus. Neunzehn Stunden in der Eisenbahn brachten mich nach London, aber von Kummer und Müdigkeit ganz niedergeschlagen, hatte ich keine Lust die Stadt anzusehen. Ich hielt mich bloß einen Tag in London auf, und wurde dann von einem Courierzug nach Dover geführt, wo ich mich einschiffte. Beim hellen Lichte des Mondes verschwanden die weißen Klippen Englands, u. wir näherten uns den Küsten Frankreichs. In Paris angekommen, trat ich in eine Schule ein, wo ich zwei Stunden täglich Unterricht in der englischen Sprache und im Zeichnen ertheilte, und eine mäßige Pension bezahlte. Dafür bekam ich Unterricht in der französischen Sprache und in der Musik. Ich arbeitete fleißig an meiner Fortbildung, aber als mir nach sieben Monaten eine Stelle angeboten wurde, nahm ich sie an, da ich wußte, wie nothwendig es wäre, die Sorgen meiner Mutter zu erleichtern. Die Familie, zu der ich kam, hatte ein Gut in dem Departement Yonne, und nachdem ich meine Schwester, welche meine Stelle übernahm, empfangen hatte, reiste ich nach dieser Provinz ab. In Neuvy-Sautour empfing mich herzlich die Familie von Herrn Brivois, besonders seine kleine Enkelin, Marie Josephe de Sauj [...][2], meine Schülerin. Das Kind hatte ein warmes Gefühl, und bald hatten wir einander sehr lieb. Meine Aufgabe war aber eine schwere, denn Marie war heftig, faul und verwöhnt. Mein Einfluß auf sie wurde bald so groß, daß sie mir folgte, wenn die Mutter oder Großmutter nicht in der Nähe waren. Der Aufenthalt in Burgund war eine Zeit lang sehr angenehm, und ich sah mit Vergnügen die hübschen fruchtbaren Wiesen und weinbedeckten Hügeln. Der Sommer von 1868 war sehr heiß, aber die Hitze bekam mir, und da ich viel Gelegenheit hatte, mich in der französischen Sprache zu üben, entschloß ich mich, ein paar Jahre dazubleiben. Im nächsten Frühling bekam Marie und ich die Masern. Durch diese sogenannte Kinderkrankheit kam ich in Lebensgefahr und die Folgen waren in keiner Weise angenehm. Meine Gesundheit litt lange, und während ich schwach und kränklich war, suchten die Freunde der Familie mich zum Katholicismus zu bekehren. Die Mittel, wodurch sie ihre Zwecke zu erreichen hofften waren kleinlich. Ich wurde in fortwährender Aufregung gehalten, und ein Glück war es für mich, daß ich eines Tages, durch eine Deutsche, nach Paris gerufen wurde. Meine Schwester, die einige Monate vorher eine Stelle in der Normandie angenommen, hatte ihren Fuß durch einen Sturz vom Wagen verletzt, und kam nach Paris, um einen Arzt zu Rathe zu ziehen. Ich fand sie sehr krank, und wir telegraphierten nach meiner Mutter. Sie kam begleitet von einem Vetter, einem Arzt, und sie beschlossen die Schwester mit nach Hause zu nehmen. Mir riethen alle eine Reise nach dem Süden, und ich fand ohne Schwierigkeit eine Stelle in einer englischen Familie, welche auf der Durchreise nach Pau, sich in Paris aufhielten. Wir nahmen einen traurigen Abschied, die Mutter und Schwester reisten nach dem lieben Schottland, und ich nach Pau. Kein lieblicherer Ort als diese Stadt findet man unter der Sonne. Die prächtigen Pyrenäen breiteten sich vor der Stadt aus, die durch den Gave in zwei Theile getheilt wird. Das bekannte Schloß gewährt uns ein historisches Interesse, und unzählbar sind die Geschichten, welche das Volk von dem geliebten Heinrich erzählen. Die Stadt, durch die verschiedene Tracht des Landvolkes belebt, hat ein malerisches Aussehen. Ich war enzückt, und glücklich mit meinen beiden lieben Schülerinnen, und beruhigt durch günstige Nachricht von Hause. Der Winter ging schnell vorüber, und im Frühling, als die ganze Natur zu neuem Leben herrlich erwachte, erhielt ich einen Brief, mein einziger Bruder war gestorben. Alle meine Freude an der Natur war dahin, und froh war ich, als wir einpackten, um für den Sommer nach England zu reisen, ich hoffte, meine Verwandten sehen zu können. Bald nach unserer Ankunft in England, wurde mir eine Stelle in der Schule von Miss Pront angeboten. Die kleine Stadt Blairgowrie war nicht fern von der Heimath und die Bedingungen waren sehr vortheilhaft. Ich verließ mit Bedauern die liebenswürdige Familie von Colonel [...][3] und kehrte wieder nach der Heimath zurück. Ich fand alle sehr verändert, aber die drei Wochen Ferien, bis zu Antritt meiner neuen Stellung, waren für mich eine gute Erholung; ich ging mit neuem Muthe daran, meine zahlreichen Pflichten zu erfüllen. Nach zwei Jahren in derselben Stellung hatte ich die nothwendigen Mittel erworben, mir einen langgehegten Plan auszuführen, und, nach Deutschland zu gehen. Nachdem ich mehr als zwei Jahre meine geistige Ausbildung weiterzuführen bemüht war, während ich zugleich durch Unterrichten mir meinen Unterhalt verdienen mußte, wünsche und hoffe ich, daß meine Theilnahme an der Lehrerinnen-Prüfung von günstigem Erfolge sein möge.


[1] SächsHStA-D,11125 Ministerium des Kultus und Öffentlichen Unterrichts Nr. 13237, Bl. 85-87

[2] unleserlich

[3] unleserlich


Für das Themenportal verfasst von

Edith Glaser

( 2009 )
Zitation
Edith Glaser, Lehrerinnen und Erzieherinnen unterwegs in Europa Beitrag zum Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2009, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1502>.
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