"Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher." Das Buch als Kulturproblem im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit

Obschon dem serbischen Literaten Miloš Crnjanski ein Ruf als widerspenstiger Schöngeist, leidenschaftlicher Streiter und eigensinniger Provokateur bereits vorauseilte, ahnte er wahrscheinlich im Frühling 1932 wenig von der Lawine, die seine Feder diesmal ins Rollen bringen würde. Ging es ihm bei dem aphoristischen Ausruf Wir verwandeln und in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher darum, eine Warnung über die Umstände – oder, akkurater gesagt – die Missstände in Sachen Literatur- und Buchproduktion im Jugoslawien der 1930er-Jahre an die Welt zu senden, mündete seine Tirade – nicht ohne Mitschuld seines streitsüchtigen Charakters – in eine Polemik, die einen beträchtlichen Teil der jugoslawischen Intelligenz erfasste und schließlich vor Gericht endete. Das Thema „Buchkrise“ war allerdings kein neues Thema im Königreich Jugoslawien. [...]

„Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher.“ Das Buch als Kulturproblem im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit[1]

Von Augusta Dimou

Obschon dem serbischen Literaten Miloš Crnjanski ein Ruf als widerspenstiger Schöngeist, leidenschaftlicher Streiter und eigensinniger Provokateur bereits vorauseilte, ahnte er wahrscheinlich im Frühling 1932 wenig von der Lawine, die seine Feder diesmal ins Rollen bringen würde. Ging es ihm bei dem aphoristischen Ausruf Wir verwandeln und in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher[2] darum, eine Warnung über die Umstände – oder, akkurater gesagt – die Missstände in Sachen Literatur- und Buchproduktion im Jugoslawien der 1930er-Jahre an die Welt zu senden, mündete seine Tirade – nicht ohne Mitschuld seines streitsüchtigen Charakters – in eine Polemik, die einen beträchtlichen Teil der jugoslawischen Intelligenz erfasste und schließlich vor Gericht endete. Das Thema „Buchkrise“ war allerdings kein neues Thema im Königreich Jugoslawien. Es beschäftigte unaufhörlich die jugoslawische literarische Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit und sorgte bereits in den 1920er-Jahren für heftige Auseinandersetzungen und gegenseitige Anschuldigungen zwischen Autoren, Verlegern und Buchhändlern in den Printmedien. Wie beim Prinzip der kommunizierenden Gefäße war die Polemik unterschwellig dennoch unmittelbar mit der Buchkrise verknüpft und brachte sowohl eine Identitäts- wie auch eine Professionalisierungskrise zum Ausdruck.

In seiner Argumentationsstrategie versuchte Crnjanski eine Gratwanderung, wie der Quelle, auf die sich dieser Essay bezieht, zu entnehmen ist. Er prangerte die künstlich vorangetriebene Konjunktur für das fremdsprachige Buch im Original und in Übersetzung an; sie habe massiv zur Krise des heimischen Buches und schließlich zur Verdrängung und Abwertung der heimischen Literatur beigetragen. Seine Forderung einer „nationalen“ Antwort auf das Kulturproblem „Buch“ nahm er nicht als xenophobisch angehauchten Chauvinismus, sondern als merkantilistischen Protektionismus wahr, obwohl seine Anspielung auf den „schädlichen“ Einfluss des „Fremdländischen“ auf die jugendlichen Gemüter an die Grenze zur Zweideutigkeit stieß. Bekanntermaßen war auch sehr viel Trivialliteratur und vor allem Pornografie im Umlauf. Crnjanski verlangte eine ähnliche Regelung wie beim Filmimport in Form einer staatlichen Intervention (Kontingentierung) gegen die unkontrollierte Einfuhr fremdsprachiger Bücher und unterstrich die Notwendigkeit, einen sowohl reellen wie virtuellen, staatlich protegierten Raum zu schaffen, wo der heimische Kultur- und Büchermarkt uneingeschränkt wachsen und reifen könnte. Einerseits ging es ihm um die gewerbliche Komponente der Buchproduktion und des Buchverkehrs, andererseits um die identitätsstiftenden, ideellen Wesenszüge von Kultur und geistigem Gut, die im Buch verkörpert und enthalten, und schließlich dadurch weiter kolportiert wurden. Crnjanski legte seine Polemik nicht eindeutig auf den materiellen oder immateriellen Charakter des Buches fest bzw. spielte abwechselnd auf beiden Registern und perpetuierte somit eine semantische Ambiguität, welche entsprechend dann auch die darauffolgende Polemik prägte.

Auf Crnjanskis passionierten Aufruf antwortete prompt Milan Bogdanovic, Epigone der Gründergeneration der serbischen Literaturkritiker[3], dem linken Ideenspektrum angehörend und Redakteur des Serbischen Literarischen Kuriers wie auch des linksorientierten und für seine Fremdübersetzungen bekannten Belgrader Verlages Nolit. In Sollten wir übersetzen oder nicht?[4] attackierte er den negativen und seines Erachtens unbestimmten Inhalt der crnjanskischen Aussagen. Sollte denn jegliche fremdsprachige Übersetzung unterbunden werden? Der Vorwurf, fremde Bücher seien für das lokale Desinteresse an der heimischen Literatur verantwortlich, übersehe die wichtige Frage, warum denn das heimische Publikum der fremdsprachigen Literatur den Vorzug gab. Bogdanovics Antwort auf diese Frage glich den seit jeher geäußerten Vorwürfen der Verleger: Entweder versäumte es die serbische Literatur, jene Werte zu vermitteln, welche die heimischen Leser in der ausländischen Literatur finden konnten, oder die lokale literarische Produktion war einfach nicht zeitgemäß und auf dem erforderlichen Niveau. „[I]st unsere Literatur in lebendigem Kontakt mit unserem Publikum? Erfüllt sie die Erfordernisse hoher Kunst?“ Die Antwort sei schlichtweg negativ, und dieser Umstand treibe die Leser zum fremden Buch. Schließlich hätten sich auch die Zeiten geändert. Die bekannte Fixierung auf die Nationalliteratur sei einer allgemeinen transnationalen Wissbegierde gewichen. „Wenn auch wir empfänglich für diese Wissbegierde sind, worin liegt dann das Problem?“[5] Crnjanski sei von einem engstirnigen und altmodischen Denken beherrscht; Bogdanovic forderte, er möge seine nebulösen Vorwürfe durch aussagekräftiges Beweismaterial belegen.

Die Konfrontation Crnjanski – Bogdanovic erhitzte die Gemüter und löste eine typische Intellektuellenpolemik aus. Vordergründig berührte die Polemik eine Vielfalt von literaturtechnischen Themen wie die Übernahme oder Nicht-Übernahme fremder literarischer Modelle und Paradigmen, den Anspruch auf lokale literarische Originalität oder das Bekennen der jugoslawischen Literaten zu den kosmopolitischen Werten der Weltliteratur, den Qualifizierungskriterien, die „gute“ Literatur ausmachten. Schlussendlich war sie symptomatisch für eine tief sitzende Identitätskrise. Aus literaturhistorischer Warte dokumentiert sie das frische Auftreten der „sozialen“, „engagierten“ Literatur und die von ihr betriebene Infragestellung der etablierten literaturästhetischen Richtungen, insbesondere der des führenden Expressionismus.

Crnjanskis unerbittliche Haltung verschaffte ihm wenig Unterstützung unter seinen Kollegen. Im Gegenteil provozierte er eine geschlossene Front, die sich in kollektiven Unterschriftsaktionen in allen Teilen des Königreiches gegen ihn richtete. Milan Bogdanovic bekam seine Satisfaktion vor Gericht. Crnjanski wurde eine Geldstrafe wegen persönlicher Verleumdung auferlegt und er musste auch für die Gerichtsspesen aufkommen.

Crnjanskis Gegner konzentrierten sich mehrheitlich auf einen Hauptkritikpunkt, der paradoxerweise quasi auf einer ‚falschen‘ Lesart seiner Aussagen beruhte. Literaten und Schriftsteller schrieben sich die Finger wund und protestierten gegen Crnjanskis angebliche Absicht, die Meinungsfreiheit in den Belangen der Literatur unterbinden zu wollen. In langatmigen idealistischen Plädoyers richteten sie sich gegen Crnjanskis Nationalismus und Xenophobie, seine angebliche Vorstellung einer Abkapselung Jugoslawiens von der großen Welt und ihrer Literatur, und setzten sich leidenschaftlich für die freie und uneingeschränkte Bewegung der Ideen ein. Bemerkenswert bei der Rezeption des crnjanskischen Essays und gleichzeitig bezeichnend für das etwas „naive“ Selbstverständnis der jugoslawischen Intellektuellen war die Unfähigkeit seiner Kontrahenten, sein materialistisches Argument zu erfassen, also das Buch als Handelsware. Denn Crnjanski bekräftigte in recht expliziter Weise, er wende sich eben nicht allgemein gegen die Werte fremdsprachiger Literatur, sondern gegen die Art ihrer Kommerzialisierung und ihres Vertriebs in Jugoslawien. Nur einige isolierte und keinesfalls repräsentative Stimmen reagierten auf sein Argument aus dem gleichen Verständnishorizont heraus. Sollte man die Literatureinfuhr tatsächlich kontingentieren, nach welchen Kriterien solle man dabei vorgehen, und wie darüber entscheiden, was gute und was schlechte Literatur sei? Weder Polizei- noch Zollbehörden konnten damit beauftragt werden über literarische Werte zu entscheiden und den freien Verkehr zu regulieren. Auch die Unterbindung der Einfuhr von fremdsprachigem „Schund“ sei keine Garantie dafür, dass das Publikum nicht länger anfällig für den heimischen „Schund“ werde. Die Kontrolle des Bücherimports sei nicht der richtige Weg, um das Niveau der Leser zu heben und es sei praktisch unmöglich, das Publikum zu einem bestimmten Konsumverhalten in Bezug auf Bücher zu zwingen.[6]

Die Verknüpfung von Crnjanskis Abneigung gegen marxistische bzw. soziale Literatur und sein Aufruf zum nationalen Handeln verweist nicht zuletzt auf eine bestimmte Phase in seiner Biografie. Seine Kapitalismuskritik entstammte dem rechten ideologischen Lager und in dieser Hinsicht steht er emblematisch für den ideologischen Wandel vom Sozialismus zum Faschismus, den viele Intellektuelle in der Zwischenkriegszeit europaweit vollziehen sollten. Analog zur Erfahrung einer ganzen Generation wurde Crnjanski vom Ersten Weltkrieg, dem internationalen geistigen Klima der Antikriegsgesinnung sowie der Internationalisierung der Literatur geprägt. Als einflussreicher Vertreter des Belgrader Modernismus stellt Crnjanskis Werk einen bedeutenden Beitrag zu den Bemühungen seiner Generation dar, eine neue literarische Sprache als Ausdrucksmittel für neue Motive und Konzepte zu entwickeln. Politisch rechnete er sich den progressiven sozialen Kräften zu und flirtete mit dem Sozialismus. In den späten 1920er-Jahren wanderte er ideologisch zunehmend nach rechts ab, kam zuerst der königlichen Diktatur nah, und liebäugelte schließlich mit dem Faschismus.[7]

Angestoßen durch die Auseinandersetzung zwischen Miloš Crnjanski und Milan Bogdanovic, entwickelte die Polemik durch Interventionen und öffentliche Stellungnahmen bald ein Eigenleben. Thematische Inhalte nahmen auf der diskursiven Metaebene eine symbolische Valenz an und mündeten in unterschwelligen und unausgesprochenen Identitätsfragen. Was sei die Bedeutung, aber auch der Stellenwert des „Nationalen“, was die Rolle des Autors und seines Standesbewusstseins zwischen nationalem Kontext und transnationalen Ideenströmungen? Als Dilemmata wurden das anhaltende identitäre Defizit und die beharrliche Identitätssuche der Intellektuellen im Rahmen des neuen jugoslawischen Staatsgebildes zur Sprache gebracht. Dieses Gefühl der Ungewissheit resultierte aus der komplexen Realität des neuen Staates, der aus der Zusammenfügung verschiedener kultureller Bausteine und Identitäten entstanden war. Daraus folgte der Anspruch auf eine doppelte Emanzipation der heimischen Kultur. Einerseits sollte eine gegenüber dem Ausland eigenständige und originelle jugoslawische, den anderen europäischen Kulturen ebenbürtige Kultur entwickelt werden. Andererseits richteten sich die Emanzipationsbestrebungen nach innen und kamen in der wiederholten Aufforderung nach einer Hebung der literarisch-ästhetischen Qualität zum Tragen.

Die jugoslawische Identitätsfrage wurde durch eine zusätzliche Aufspaltung entlang der gegensätzlichen Drehpunkte Einheit und Distinktion verkompliziert. Zum einen ging es um die Frage, was Jugoslawien von anderen Nationen unterscheide und worin die jugoslawische Besonderheit bestehe. Zum anderen – dies unterschied den Vielvölkerstaat Jugoslawien von anderen europäischen Staaten – ging es um die interne kulturelle Kohärenz und die noch viel mühseligere Frage, was angesichts der verschiedenen Elemente und Traditionen Jugoslawiens eigentliche kulturelle Gemeinsamkeit ausmache. Diese letzte Frage wurde durch chronische politische Krisen ständig unterminiert. Als Antwort darauf wurden verschiedene identitäre Modelle entwickelt. Als möglicher, jedoch nur mäßig populärer Entwurf galt die Idee der Schaffung einer neuen jugoslawischen Kultur auf der Grundlange einer der schon existierenden Kulturen, womöglich der Serbischen. Weit ansprechender erschien die Schaffung einer neuen supranationalen Kultur, wodurch lokale Partikularitäten überwunden werden sollten. Eine solche supranationale Kultur wurde in zwei Variationen vorgestellt: Einerseits als modernistischer Markstein durch die Anbindung der jugoslawischen an die westeuropäische Kultur; andererseits ab den 1930er-Jahren als universalistisch orientiertes sozialistisches Kulturmodell, welches in der Form national, inhaltlich jedoch sozialistisch geprägt sein sollte. Als drittes Modell galt das Paradigma des integralen Jugoslawismus, konzipiert als eine neuartige kulturelle Verschmelzung in eine originelle und dynamische, des neuen Nationalstaates würdige Nationalkultur.[8] In den 1930er-Jahren gaben viele Intellektuelle das synthetische zugunsten des supranationalen Modells auf oder wechselten sogar auf die Seite des kulturellen Nationalismus über.

Ausdruck des Ideals des integralen Jugoslawismus war das Heranwachsen einer Generation, die geschult war in den nationalen Idealen und gleichzeitig geschützt vor den als verderblich angesehenen materialistischen Einflüssen der westlichen Zivilisation.[9] Daraus erwuchs der Imperativ einer Nationalkultur als erfolgreiche Amalgamierung der verschiedenen lokalen Partikularitäten zu einer jugoslawischen Einheit. Kultur wurde in den Dienst der Integration gestellt und Kulturvorstellungen wurden von der ständigen Agonie getragen, die neue jugoslawische Kultur als partikulare und homogene Kultur gegenüber anderen Kulturen erscheinen zu lassen. Phobien unterschiedlichster Art wie eben Assimilationsängste angesichts fremder Einflüsse, Furcht vor konfessionellen und nationalen Spaltungen, partikularistischem und traditionalistischem Bewusstsein bildeten die Grundlagen der Modernisierungsvorstellungen von Literaten über die politische, nationale und kulturelle Einheit der jugoslawischen Völker.[10] Die Unzulänglichkeit, ja sogar das zeitweise Versagen der politischen Institutionen in der Zwischenkriegszeit überhöhte den Anspruch auf die integrative Rolle von Kunst und Literatur als Wächterinnen der nationalen Identität.[11] Daher rührten das ständige Selbstauspeitschen und mangelnde Selbstvertrauen, die Ablehnung der mimetischen oder oberflächlichen Übernahme fremder literarischer Modelle und das fortwährende Infragestellen sowohl der Originalität wie auch der Qualität der jugoslawischen Literaturproduktion.[12] Auf diese Herausforderung antworten die Autoren im Laufe der Polemik ganz unterschiedlich. Während Miloš Crnjanski Protektionismus auf allen Ebenen forderte, verwies die andere Seite auf die Unreife und Mängel der heimischen Literatur und unterstrich die befruchtende Rolle ausländischer Literatur als einzigen Ausweg aus der geistigen Stagnation.

In der Zwischenkriegszeit wurden Inhalt und Bedeutung der Nationalliteratur in einem Wechselspiel zwischen kontradiktorischen, sich jedoch in diesem Kontext auch ergänzenden Wertigkeiten wie national und kosmopolitisch gedeutet. Ziel des Nationalen war es, den ästhetischen und künstlerischen Stellenwert des Universalen zu erreichen, ohne dabei jedoch die nationale Eigenart und Besonderheit zu verlieren. Der Beitrag zum Universalen ist in der Verfeinerung und Sonderart des Nationalen zu finden, was wiederum als Antwort auf die Herausforderung durch die großen Bezugskontexte europäischer Literatur und Weltliteratur zu verstehen ist. Anders als bei den Berührungsängsten der herkömmlichen Verfechter einer exklusiven nationalen Identität fließt hier das Nationale ins Universale ein und wird allein durch diese Berührung unsterblich und bedeutsam. Der politische Kontext Jugoslawiens gestaltete sich freilich anders. Hier erweckte die politische Dominanz der Serben verschiedenartigste Phobien; während die serbische politische Elite sich vor einer weiteren Demokratisierung der politischen Kultur fürchtete, ging es bei den anderen Nationalitäten um fest verwurzelte Identitätsverlustängste. Der Sinngehalt des Signifikats „national“ ist im Rahmen dieser polyphonen wie polymorphen Sinngestaltung alles andere als eindeutig und wird immer wieder neu ausgehandelt und nuanciert. Crnjanski dürfte in diesem Zusammenhang „national“ vom Standpunkt des integralen Jugoslawismus her füllen. Sein „Nationalismus“ entsprang zugleich seiner politisch konservativen Gesinnung und richtete sich gegen den marxistischen Internationalismus; zum einen, weil Crnjanski der marxistischen Belletristik keinen echten literarischen Wert, sondern nur propagandistische Absichten zusprach. Zum zweiten, weil die mit Hilfe moderner soziologischer Instrumente und Kategorien neuartige semantische Aufladung der Signifikaten „Volk“ und „Nation“ seitens des Marxismus die nationale Einheit als Priorität des integralen Jugoslawismus im Vielvölkerstaat Jugoslawien herausforderte.

Bei seiner Intervention ging es Crnjanski an erster Stelle um die gewerbliche Dimension des Buches, die Identitätsfrage war nur ein Epiphenomenon. Die berüchtigte „Buchkrise“ kehrte seit Mitte der 1920er-Jahre immer wieder in die Öffentlichkeit zurück. So auch Anfang der 1930er-Jahre, als sie für mediale Aufregung sorgte, weil Schriftsteller, Buchhändler und Verleger sich gegenseitig die Schuld für die Krise in die Schuhe schoben. Die eigentlichen Ursachen der Krise hingen jedoch kaum vom Willen vereinzelter Akteure ab, sondern grundlegend von den sozioökonomischen Strukturen und den literarischen Produktionsverhältnissen eines Agrarstaates, wie es Jugoslawien in der Zwischenkriegszeit war. Die Polemik schöpfte aus einer Reihe realer Probleme, die, obgleich sie bei dieser Auseinandersetzung thematisch nicht vorkamen, immer wieder für Brisanz sorgten und die Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen strukturierten – wie die Autorenhonorare, das Angebot der Buchhandlungen, die Strategien der Verleger, das Anrecht auf den Buchvertrieb, die staatliche Büchereinfuhrpolitik, die Professionalisierung des Verleger- und Buchhändlerberufes und anderes mehr. Die so bezeichnete „Krise“ war nur Ausdruck einer Reihe zusammenhängender Probleme, die auf den unzulänglichen Kreislauf Produktion – Zirkulation – Konsum des Buchmediums, hinwiesen. Somit war sie symptomatisch für einen kleinen und unbeständigen Büchermarkt, in Verbindung mit einem niedrigen Professionalisierungsgrad und einem eher zufälligen und unkonsolidierten Lesepublikum.

Die Vereinheitlichung der lokalen Büchermärkte schritt im neuen jugoslawischen Staat nur langsam voran. Zu bewältigen galt es nicht nur die unterschiedlichen Wirtschafts- und Handelsräume und -bedingungen, die regional massiv auseinanderklaffende Alphabetisierungsrate, die zu unterschiedlichen Graden erschlossenen Regionen und die mangelnde Verkehrsinfrastruktur, sondern auch und insbesondere die lang bewährten Traditionen und Handelsrouten des Buchhandels, die sich auch in der post-habsburgischen Zeit noch behaupten konnten. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg bis Anfang der 1920er-Jahre wurden Bücher in serbokroatischer Sprache aufgrund der niedrigen Druckkosten im Ausland gedruckt und unverzollt eingeführt. Auf den Protest der Grafiker und Drucker hin, man solle der verlegerischen Tätigkeit im Königreich zu Hilfe kommen, wurde die Einfuhr der im Ausland gedruckten serbokroatisch- und slowenischsprachigen Bücher mit Zoll belegt. Fremdsprachige Bücher konnten weiterhin unverzollt eingeführt werden.

Trotz der Verabschiedung einer einschlägigen Gesetzgebung zur Bekämpfung sittenwidriger Konkurrenz (1930) blieb der jugoslawische Buchmarkt weitgehend unreguliert. Buchvertrieb und Verkauf bewegten sich großteils innerhalb einer Grauzone, wo Schmuggler und Schleichhändler sich gut behaupten konnten. Das galt sowohl für das inländische wie auch für das ausländische Buch. Heimische Buchhändler und Verleger verkauften zu willkürlich gesetzten Rabattpreisen und verletzten dadurch die Vereinbarung ihres eigenen Verbandes. Aber auch das ausländische Buch machte Karriere. Gemäß Tradition und Gesetzgebung der Habsburger Monarchie hatten früher Vertreter ausländischer Verleger und Buchhändler in den südlichen Regionen des Reiches mit dem Buch gehandelt und setzten diese Tätigkeit trotz der Errichtung des neuen Staates in den gleichen Regionen (Kroatien und Slowenien) fort. Sie arbeiteten inoffiziell, nahmen meistens Bestellungen von Privatpersonen auf und besorgten die bestellten Bücher zu niedrigeren Preisen als die offiziellen Buchhändler, obwohl der Buchhandel für nicht registrierte Firmen gesetzlich unterbunden war. Buchhändler und Verleger aus Wien, Berlin und Leipzig gründeten Agenturen in Zagreb und anderen Ortschaften. Es wurde grundsätzlich mit dem deutschen Buch gehandelt, da italienische und französische Bücher meist über die Buchhändler besorgt wurden. Es gab etwa 100 ausländische Agenten und ungefähr 50 Bücher vertreibende Firmen.[13]

Das qualitätsvolle und seriöse Buch machte Mitte der 1920er-Jahre allerdings kaum Karriere in Jugoslawien. Am meisten verbreitet waren Schulbücher, modische Zeitschriften, Krimis und Pornografie. Im Jahre 1926 wurde in Buchhändlerkreisen sogar behauptet, ausländische Werke in Übersetzung verkauften sich besser als die heimische Literatur. 1930 wiesen die Zagreber Buchhändler eine ganz schlechte Bilanz beim Verkauf jugoslawischer Bücher auf. Aufgrund der schlechten Erfahrungen der letzten Jahre, wo nicht einmal das investierte Kapital eingetrieben werden konnte, weigerten sich die Verleger, Werke jugoslawischer Autoren zu drucken. Anfang der 1930er-Jahre kam es tatsächlich dazu, dass die Schriftsteller Schwierigkeiten hatten, Verleger für ihre Werke zu finden.[14] Die Verleger konzentrierten sich auf das Schulbuch und die fremdsprachige Literatur, vor allem die deutschsprachige. Die Autorenhonorare lagen in der Zwischenkriegszeit fünfmal niedriger als vor dem Krieg. Ebenso schlecht wurden Übersetzungen bezahlt, welche meist in Raten über einen unbestimmten Zeitraum hinweg honoriert wurden.[15] Schließlich legte auch noch der Staat einen so hohen Posttarif auf den Bücherversand, dass die Buchhändler sich weigerten, die Pakete von der Post abzuholen.

Hätten die Verleger mehr bezahlt, hätten sie wahrscheinlich das Leben der Schriftsteller erleichtert, das strukturelle Problem der „Buchkrise“ hätten sie aber gleichwohl kaum gelöst. Urbane Kultur und Stadtleben erfassten in der Zwischenkriegszeit nur 15,8 Prozent der Bevölkerung. Der Analphabetismus betrug Anfang der 1930er-Jahre etwa 45 Prozent, 42 Prozent bei den Männern und 60 Prozent bei den Frauen. Noch größere Variation zeigten diese Messungen in ihrer regionsspezifischen Ausprägung: Die niedrigsten Analphabetenraten hatte Slowenien mit weniger als 9 Prozent, es folgten die Vojvodina (23 Prozent), Kroatien, Slawonien und Istrien (32 Prozent), Dalmatien (50 Prozent), Nordserbien (65 Prozent), Montenegro (67 Prozent), Bosnien und Herzegowina (80 Prozent) und schließlich Kosovo (84 Prozent). Diese Umstände hätte Crnjanskis Protektionismus auch nicht aufheben können. Es war aber die Erkenntnis dieser Umstände, die seinen Protektionismus an erster Stelle motivierte.



[1] Essay zur Quelle: Miloš Crnjanski: Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher. Das Problem unserer Kultur (1932). Die Druckversion des Essays findet sich in: Isabella Löhr, Matthias Middell, Hannes Siegrist (Hgg.): Kultur und Beruf in Europa, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, S. 259–266, Band 2 der Schriftreihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays.

[2] Crnjanski, Miloš, Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher. Das Problem unserer Kultur, in: Vreme XII, H. 3659, 09.03.1932, S. 2 und H. 3662, 12.03.1932, S. 2. Übersetzt aus dem Serbokroatischen von Augusta Dimou, Redaktion Ruža Tokic.

[3] Vgl. Palavestra, Predrag, Istorija Srpske književne kritike 1768–2007, Bd. 1, Novi Sad 2008, S. 349–359.

[4] Bogdanovic, Milan, Prevoditi ili ne prevoditi, in: Tešic, Gojko (Hg.), Zli volšebnici, Bd. 2, Belgrad 1983, S. 462–464.

[5] Ebd., S. 463.

[6] Aus den ca. 50 Texten, die die Polemik ausmachten, war nur einer im Stande, Crnjanski auf einem ebenbürtigen pragmatischen Niveau zu antworten.

[7] Zu Crnjanskis literarischer Biografie vgl. Deretic, Jovan, Istorija Srpske književnosti, Belgrad 21996, S. 405–423.

[8] Wachtel, Andrew B., Ivan Meštrovic, Ivo Andric and the Synthetic Yugoslav Culture of the Interwar Period, in: Djokic, Dejan (Hg.), Yugoslavism. Histories of a Failed Idea 1918–1992, London 2003, S. 239–241.

[9] Dimic, Ljubodrag, Kulturna politika Kraljevine Jugoslavije 1918–1941, Bd. 1, Belgrad 2009, S. 304.

[10] Ebd., Bd. 3, S. 411.

[11] Das Argument wird von Dimitris Tziovas im Zusammenhang mit der Entwicklung der griechischen Zwischenkriegsliteratur avanciert. Mir erscheint es im jugoslawischen Fall ebenso relevant. Vgl. Tziovas, Dimitris, Oi metamorfoseis tou ethnismou kai to ideologima tis hellenikotitas sto mesopolemo, Athen 1989, S. 14.

[12] Vgl. zum Beispiel: Naši književnici i jugoslovensko duhovno jedinstvo, in: Rijec XXVII, H. 6, 14.02.1931, S. 1.

[13] Durkovic-Jakšic, Ljubomir, Jugoslovensko knjižarstvo 1918–1941, Belgrad 1979, S. 141–145.

[14] Siehe dazu Naši književnici i naši knjižari, in: Rijec. XXVII, H. 30, 01.08.1931, S. 1–2.

[15] Pandurovic, Sima, Jedan retrospektivan pogled, in: Misao, kniga XIX, sveska 3 (1925), S. 1246–1247.



  • Novakovic, Stojan, Srpska kniga, njeni prodavci i citaonici u XIX veku. Državna štamparija kraljevine Srbije, Belgrad 1900.
  • Popovic, Radovan, Kniga o Cvijanovicu. Poslovna zajednica izdavaca i knižara Jugoslavije, Belgrad 1985.
  • Starcevic, Velimir, Staro Srpsko knižarstvo, Belgrad 1997.
  • Ders., Kniga o geci konu, Belgrad 2009.
  • Velmar-Jankovic, Svetlana, Kniževnost izmedu dva rata, Bd. 1-2, Belgrad 21972.

Miloš Crnjanski: Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher. Das Problem unserer Kultur (1932)[1]

Vor dem Krieg verkaufte sich unser Buch verhältnismäßig gut und genoss dabei auch noch einen hervorragenden Ruf. Heutzutage werden in der Regel ausländische Bücher und Übersetzungen aus fremdsprachigen Literaturen in all unseren Buchläden verkauft. Um unser Buch – das kann man wohl auch nach den offiziellen Feierlichkeiten zum 100jährigen Jubiläum des ersten gedruckten Buches in Belgrad und auch nach der Buchausstellung im Pavillon von Cvijeta Zuzoric[2]– behaupten, kümmert sich kaum jemand.

Den Grund dafür sollte man vor allem in der tiefen Gleichgültigkeit gegenüber dem Unsrigen und in der beträchtlichen Zunahme Fremdstämmiger in unserer Mitte oder zumindest Fremdgeistiger suchen, die nicht nur nach französischen Zeitungen, sondern auch nach deutschen Büchern gieren und dabei unserer Sprache, unserer Literatur und unserer allgemeinen kulturellen Entwicklung gegenüber vollkommen gleichgültig sind. Hinzu kommt eine beachtliche Spekulationswelle fremden Kapitals für die Publikation von Zeitungen und Büchern, die unser ganzes Land ergriffen hat.

Während wir vor dem Krieg chauvinistisch gegen die Wiener Operette gekämpft haben, sind wir jetzt beim anderen Extrem angelangt; durch das ganze Land dröhnen deutsche Varietélieder und in all unseren Städten avancieren geschmacklose Filme zum Hauptzeichen von „Kultur“.

Das Gesetz musste uns letztendlich vor dem höhnischen Spiel retten, das Ausländer seit zehn Jahren mit unserer Sprache und mit fetter Ausbeute in den (unseren) Kinos treiben. Der Verkauf und organisierte Vertrieb fremder Bücher und Übersetzungen hingegen, die politisch defätistische Literatur beiseite gelassen, entwickelt sich immer mehr zur Krebswunde unserer Literatur und Bildung und zur Hauptgefahr für jegliche Entwicklung unserer wissenschaftlichen, populären und so genannten schönen Literatur. Die Mentalität der künftigen Generation – von jener der heutigen ganz zu schweigen – wird auf der Grundlage fremdsprachiger Bücher und in einem fremden Umfeld ausgebildet. Welche Auswirkungen das hat, bedarf keiner weiteren Erklärung.

Wir verwandeln uns langsam in eine Kolonie für die Verbreitung fremdsprachiger Bücher, von den Übersetzungen ganz zu schweigen; das fremde Kapital, gestützt auch von unseren Buchhändlern, nutzt unsere Verlagsumstände aus und verdient sich dumm und dämlich, grundsätzlich durch falsche Werbung, die systematisch organisierte Aufdrängung fremdsprachiger Bücher und deren Übersetzungen im ganzen Land, und das ohne jegliche Kontrolle seitens unserer Presse und noch weniger seitens unserer Literaturzeitschriften und -zirkel.

Vor kurzem hat der Zagreber Kritiker Dr. I. Nevišic in seinen Artikeln die Situation in Zagreb beschrieben, wo unsere Literatur gerade von der fremdsprachigen überflutet und erstickt wird. Wie er nachgewiesen hat, sehen sogar unsere besten Bücher im Vergleich zu den üppigen Katalogen der getarnten ausländischen Verleger, die z. B. deutsche Bücher in unser Land einführen und zu Tausenden verkaufen, ärmlich aus.

Es ist allgemein bekannt, dass manche ungarische und deutsche illustrierte Blätter in gewissen Teilen unseres Landes eine aktive Bilanz nur dank der Verkäufe in Dinar verzeichnen. Man weiß jedoch nicht bzw. möchte nicht wissen, dass die Buchkrise auch hier in Belgrad angelangt ist, wobei sie allerdings nur unser Buch erfasst hat und von einer Krise beim Verkauf fremdsprachiger Bücher und Übersetzungen kaum die Rede sein kann. Im Gegenteil sind hier wie auch in ganz Jugoslawien fremdsprachige Bücher und Übersetzungen zu einer Handelsware geworden, mit der sich leicht Gewinne erzielen lassen. Somit ist es nicht verwunderlich, dass auch unsere Verleger und Buchhändler, vor allem die Händler, nur diese Ware im Kopf haben.

Es gibt Buchhandlungen in Belgrad, die ausschließlich oder fast ausschließlich fremdsprachige Bücher verkaufen. Es handelt sich dabei um reiche, luxuriöse, mit Waren beladene Läden, die keinen Grund zur Klage haben.

Nimmt man allerdings die Tätigkeit unser Verleger unter die Lupe, dann erkennt man, dass sie grundsätzlich für das fremdsprachige Buch und die Übersetzung arbeiten und dass sie größtenteils nur diese herausgeben, vertreiben und somit aufdrängen. Die ausländische Ware überwiegt in unseren Buchhandlungen. Aus deren Verkauf ergibt sich weder eine Weiterentwicklung unserer Literatur, noch die Hebung unseres (kulturellen) Niveaus und Umfelds. Die einzige Folge daraus ist, dass sich unsere Bücher vor den fremdsprachigen in jene armseligen provinziellen Antiquariate zurückziehen, in denen Vuk, Milicevic, Genoveva und Marko Kraljevic[3] nebeneinander verrotten.

Für dieses gewaltige Versagen unseres Bewusstseins für unsere Literatur tragen an erster Stelle unsere Literaturzirkel und -zeitschriften Verantwortung, welche ebenfalls fremdsprachige Bücher bewerben, sowie unsere veralteten Literaturinstitutionen und auch unsere Presse, welche bei fremdsprachigen Büchern keine Strenge walten lassen und für unsere Bücher einfach keinen Platz finden.

Jedenfalls kann man unserem Nachkriegssnobismus kaum etwas entgegensetzen. Der Großteil unserer Bourgeoisie liest nur fremdsprachige Bücher und Übersetzungen, die ihnen zudem noch aufgedrängt werden. Bekanntermaßen war es ein Leichtes für Sterija[4], seine nouveau riche in unserer Gesellschaft zu finden.

Ein guter Teil des Erfolges fremdsprachiger Bücher und Übersetzungen liegt in dem Zynismus unserer Verleger und der Verdorbenheit der Intellektuellen, die im Dienste dieser Arbeitgeber stehen. Zweifelsfrei werden alle, die sich vor der Kontrolle der Presse, der Kritik und vor unseren Literaturzirkeln im Allgemeinen fürchten, der hohen Gewinne wegen alles tun, um unsere Welt zu täuschen, so als ob diese Flut fremdsprachiger Bücher und Übersetzungen ein echter Gottessegen wäre. Als ob die größten Menschheitsgeister, die Blüte der menschlichen Kultur in diesen Büchern und Übersetzungen stecke, die sich so gut bei uns verkaufen lassen. Mit fetter Ausbeute.

Das alles wird jedoch vergebens sein, wenn unsere Öffentlichkeit am Ende die Augen öffnet und erblickt, was in unseren Verlags- und Literaturzirkeln größtenteils vorgeht. Wenn auch die zuständigen staatlichen Stellen und unsere Literaturinstitutionen und unsere Literaten und unser Publikum letztlich einen Platz zuallererst für unser Buch, welcher Art auch immer, für unsere Arbeit, unsere Bildung einfordern (dann wird es vergeblich sein).

Fremdsprachige Bücher und Zeitungen, Übersetzungen fremdsprachiger Werke, das internationale Wort der großen Kulturen überschreiten jede Grenze und das ist gut so. Aber die schmutzige Konjunktur jedes fremdsprachigen Buches, die geleitete Werbung für jedes fremdsprachige Buch, die Agenturen fremden Kapitals, eine ganze Händlerverschwörung gegen unsere Welt, die immer weniger über die eigene Literatur erfährt, während ihr fremdsprachige Bücher und jede Art von Übersetzungen aufgezwungen werden, kann und darf nicht das wichtigste Merkmal des hundertjährigen Jubiläums der Vozarovic-Zeit[5] sein.

Unsere Literatur hat bekannterweise seit jeher gehorsam die Wellen fremdsprachiger Literaturen aufgenommen. Die deutsche, russische und vor dem Krieg die französische Literatur, freilich immer auf sehr oberflächliche Weise, aber mit Unterstützung durch die Chorgesänge ihrer Gläubigen, die die heimischen Autoren aus der Ecke mit der Spitzhacke in der Hand empfingen, sorgten bei uns für eine Verwirrung, die unserer Literatur nur fremdländische und altmodische Modelle hinterließ.

Hand in Hand mit dieser Besatzung des literarischen Terrains verlief zumeist auch der Verkauf deutscher, russischer und französischer Bücher, sowohl jener von hoher Qualität wie auch der Schundliteratur, freilich ohne die Spekulation und arrangierte Konjunktur für den Verkauf fremdsprachiger Bücher und Übersetzungen, wie sie heutzutage stattfindet.

Wenn wir schließlich zum ersten Mal nach dem Krieg unsere Stimme gegen diese verlegerischen und literarischen Plünderung auf Kosten unserer Literatur und unseres Publikums erheben, dann – es versteht sich von allein – denken wir freilich nicht daran, eine chinesische Mauer gegen die ausländische Literatur zu errichten oder jede Banalität gutzuheißen, nur weil sie die unsrige ist, sondern möchten lediglich mit dem Finger auf eine Spekulation auf Kosten unserer Schriftsteller und die Entwicklung unserer Literatur zeigen.

Auch wir halten es für selbstverständlich, dass heutzutage, im Jahrhundert des internationalen Verkehrs, der PEN Klubs, der Konferenzen fremdsprachiger Literaturen, der Jubelfeiern zu Ehren Goethes etc. das Buch, die Zeitung, der literarische Name, die Übersetzungen amerikanischer, französischer, sowjetischer oder deutscher Literatur schnell bei uns Eingang finden. Wir betrachten das allerdings als nichts Neues, sondern es kommt uns lediglich wieder wie eine fremdländische Flut vor, ohne tieferen Sinn, wie auch die deutschen Einflüsse in der Vergangenheit, die Jubelfeiern für Shakespeare oder die Nachahmung französischer Literatur vor dem Krieg.

So haben auch wir nach dem Krieg so viele ausländische Literaturereignisse willkommen geheißen, wie zum Beispiel Joyces Roman „Ulysses“ usw., und wir würden uns auch der neuesten Welle amerikanischer und deutscher Literatur erfreuen, so wie wir uns früher einmal über Gide, Barbis und andere gefreut haben, erblickten wir nicht dahinter ganz deutlich eine breite Spekulation mit dem Verkauf fremdsprachiger Bücher und übersetzter Literatur.

Es reicht, daran zu erinnern, dass es in Zagreb keinen Platz für unsere Bücher gibt; wenn die Bibliothek des Journalistenverbandes nur fremdsprachige Bücher anpreist und herausgibt, wenn der bekannteste kroatische Verlag, die „Zabavna Biblioteka“, nach eigenen Angaben von den bis jetzt 500 erschienen Büchern lediglich zehn heimische listet, muss doch jedem klar sein, wovon die Rede ist. Es reicht, den riesigen und üppigen Katalog des Minerva-Verlags in Zagreb in die Hand zu nehmen, in welchem neben 197 englischen, 90 französischen und 683 heimischen Autoren, worunter auch die Schulbuchautoren fallen, 3.359 deutsche Autoren aufgeführt werden, um zu verstehen, dass es sich um eine mehr als berechtigte Empörung im Namen unserer Literatur handelt, und die enorme Verantwortung derer zu sehen, die heute bei uns als bezahlte Werber oder verschleierte Verleger fremdsprachiger Bücher agieren.

Unsere Literatur haben in der letzten Zeit auch diejenigen in Stich gelassen, die sie auf der Grundlage der Logik und der Pflicht zumindest in Schutz hätten nehmen sollen. Hier in Belgrad erleben wir den Widerspruch und Skandal, dass sich auch unsere Presse für jedes fremdsprachige Buch engagiert, wie z. B. der Srpski Književni Glasnik[6], welcher schon seit Jahren der fremdsprachigen Literatur hinterher hängt, von der unsrigen ganz zu schweigen, und nun auf einmal einem Verleger fremdsprachiger Bücher als Webefläche dient.

Diejenigen, welche ein Interesse daran haben, werden zweifellos die Situation in rosaroter Farbe darstellen, als ob unser unterentwickeltes Umfeld ein großes Interesse für fremdsprachige Literatur hege, vor allem für jene mit sozialkritischen Tendenzen. Sie werden auch jeden Widerstand gegen diese koloniale Art der Ausnutzung unseres Publikums und unserer literarischen Umstände als intellektuelle Unterentwicklung brandmarken usw.

Die Wahrheit ist hingegen, dass ohne eine große heimische Literatur von einem Fortschritt nicht die Rede sein kann. Es ist wahr, dass zum Beispiel die slowenische Literatur nur durch originelle heimische Autoren bis zur bäuerlichen Hütte vorgedrungen ist und dass die slowenische Literatur vor dem Erscheinen solcher Werke verlassen und vernachlässigt im Meer der deutschen Kultur schwamm. [...]


[1] Crnjanski, Miloš, Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher. Das Problem unserer Kultur, in: Vreme XII, H. 3659, 09.03.1932, S. 2 und H. 3662, 12.03.1932, S. 2. Übersetzt aus dem Serbokroatischen von Augusta Dimou, Redaktion Ruža Tokic. Eine kürzere Fassung der Quelle findet sich in: Isabella Löhr, Matthias Middell, Hannes Siegrist (Hgg.): Kultur und Beruf in Europa, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, S. 267–269, Band 2 der Schriftreihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays.

[2] Cvijeta Zuzoric (1552–1648), Lyrikerin aus der Republik Ragusa. Schrieb auf Italienisch und Serbokroatisch.

[3] Mythische und/oder volkstümliche Figuren und Helden aus der populären Volksdichtung. Die Anspielung deutet auf Attribute wie archaisch, irrelevant und anspruchslos hin.

[4] Jovan Sterija Popovic (1806–1856), serbischer Schriftsteller und Dichter, führender Intellektueller und Dramatiker seiner Zeit. In seinen Komödien gab er authentische Porträts der serbischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts wieder und persiflierte ihre Gepflogenheiten. Die Anspielung hier geht auf sein Stück Pokondirena Tikva (Der Emporkömmling, 1838) zurück.

[5] Gligorije Vozarovic (1790–1848) gilt als der erste serbische Verleger und Buchhändler.

[6] Srpski Književni Glasnik – der „Serbische Literarische Kurier“ (1901–1941) war eine Literaturzeitschrift und das wichtigste intellektuelle Forum für serbische und jugoslawische Schriftsteller und Gelehrte. Der SKG setzte neue und anspruchsvolle Maßstäbe in Literatur und Sprache und fungierte quasi als eigene Institution.


Für das Themenportal verfasst von

Augusta Dimou

( 2013 )
Zitation
Augusta Dimou, "Wir verwandeln uns in eine Kolonie fremdsprachiger Bücher." Das Buch als Kulturproblem im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2013, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1610>.
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