DDR-Literatur aus der Schweiz

Europa im Kopf hieß aus gutem Grund eine Ausstellung, die 2003 in Eisenhüttenstadt stattfand. Sie war einem einzigen DDR-Verlag gewidmet, dem Verlag Volk und Welt, dem führenden und mit Abstand bedeutendsten Verlag für internationale Gegenwartsliteratur, der, Tomas Tranströmer mitgerechnet, nicht weniger als 43 Nobelpreisträger zu seinen Autoren zählte. Damit nahm der Verlag im Zensursystem der DDR die Funktion eines unverzichtbaren Filters ein. Hier hatte sich im Verlauf von drei Jahrzehnten ein hochspezialisiertes Team von über zwanzig Lektoren mit einer wohl einmaligen Kompetenz für alle inhaltlich-ästhetischen Fragen der romanischen, englischsprachigen, slawischen, germanistischen – kurz der internationalen und Weltliteratur herausgebildet, das zugleich über ein grandioses Expertenwissen verfügte, wenn es um Fragen der Zensur ging. [...]

DDR-Literatur aus der Schweiz[1]

Von Siegfried Lokatis

Europa im Kopf hieß aus gutem Grund eine Ausstellung, die 2003 in Eisenhüttenstadt stattfand. Sie war einem einzigen DDR-Verlag gewidmet, dem Verlag Volk und Welt[2], dem führenden und mit Abstand bedeutendsten Verlag für internationale Gegenwartsliteratur, der, Tomas Tranströmer mitgerechnet, nicht weniger als 43 Nobelpreisträger zu seinen Autoren zählte. Damit nahm der Verlag im Zensursystem der DDR die Funktion eines unverzichtbaren Filters ein. Hier hatte sich im Verlauf von drei Jahrzehnten ein hochspezialisiertes Team von über zwanzig Lektoren mit einer wohl einmaligen Kompetenz für alle inhaltlich-ästhetischen Fragen der romanischen, englischsprachigen, slawischen, germanistischen – kurz der internationalen und Weltliteratur herausgebildet, das zugleich über ein grandioses Expertenwissen verfügte, wenn es um Fragen der Zensur ging. Unermüdlich und ein schier unerschöpfliches Repertoire zensurtaktischer Finten handhabend sorgte der Verlag dafür, dass die umstrittene literarische Moderne ihren Einzug ins „Leseland“ halten konnte. Hier wurde dafür gekämpft, dass Anna Achmatowa und Woody Allen, Simone de Beauvoir und Isaak Babel, Elias Canetti und Italo Calvino, Roald Dahl, Umberto Eco, Sigmund Freud, Günter Grass, Bohumil Hrabal, Eugen Ionesco, Ernst Jandl, Karl Kraus, Stanislaw Lem, Henry Miller, Anais Nin, Ortega y Gasset, Thomas Pynchon, Salvatore Quasimodo, Juan Rulfo, J. D. Salinger, Juri Trifonow, John Updike, Kurt Vonnegut, F. K. Waechter, Francoise Xenakis und Marina Zwetajewa auch in der DDR gelesen werden konnten. Aus gegebenem Anlass wird hier nur verfolgt, wie in diesem Verlag mit Literatur aus der Schweiz umgegangen wurde.

Nur wenige in der DDR erschienene Bücher aus der Schweiz[3] sind nicht im Verlag Volk und Welt herausgekommen. Dazu gehörten vor allem die Klassiker wie Jeremias Gotthelf[4] und Gottfried Keller[5], die bei den Erbe-Verlagen, also bei Aufbau, Reclam und Insel, eifrig gepflegt wurden. Und natürlich die wenigen Kinderbücher: Johanna Spyris Heidi erschien ein einziges Mal, 1954, seltsamerweise in der Evangelischen Verlagsanstalt.

Die Probleme mit der doch noch recht ruppigen, mehr an privaten Dispositionen der Gutachter als, wie in späteren Jahren[6], an „wissenschaftlichen Konzeptionen“ orientierten Zensur in den 1950er-Jahren verdeutlicht ein 1952 gescheiterter Versuch des privaten Berliner Kinderbuch-Verlegers Alfred Holz, Das Walroß und die Veilchen des Schweizers Heiri Strub herauszubringen. Der war dort 1944 immerhin ein Mitbegründer der Partei der Arbeit und wanderte später, 1957, in die DDR aus. 1952 geriet er jedoch unglücklicherweise an die griesgrämige Kinderbuch-Zensorin Ursula Miessner, die sein Buch mit folgenden Worten erledigte: „Es ist zu bedauern, dass wir zu diesem Kinderbuch eines Schweizer Autors nicht ja sagen können […].“[7] Der Text sei „eine zu deutliche Widerspiegelung der anderen, der alten und zu überholenden Welt, so dass man zu diesen Zeichnungen (nach Sichtung derselben!) einen neuen Text schaffen müsste. Das würde m.E. jedoch nicht schwer sein für einen ideologisch taktfesten Autor.“

Neben der Frage, ob eine Melonenzucht in Grönland nicht als Verhöhnung der in Stalins Sowjetunion geltenden biologischen Theorien Mitschurins und Lyssenkos anzusehen sei, trieb sie ein Problem um, das auf das Kinderbuch eher neugierig macht: „Können wir eine Hure, selbst wenn sie mit der Bezeichnung ‚Parfümdame’ umschrieben wird, als Figur eines Kinderbuches akzeptieren?“

1957 illustrierte Heiri Strub das Werk eines Schweizer Autorenkollektivs im DDR-Verlag Neues Leben. Es kostete keine Devisen, weil der Künstler inzwischen in die DDR übergesiedelt war. Der Titel hieß Sonne, Schnee und Fels und der Herausgeber Theo Pinkus. Das Lektoratsgutachten lobte: „Ein Kollektiv Schweizer Naturfreunde legt hier ein Buch vor, das sich mit den Leistungen der Arbeiter-Alpinisten in der Schweizer Bergwelt befaßt. Die Autoren schildern die Leistungen der Mitglieder der Naturkunde-Bewegung und widmen ein großes Kapitel ihres Werkes den Ferienlagern, die von Naturfreunden organisiert wurden. Dieses Werk macht den Leser mit den Leistungen einer Gruppe vertraut, die in Deutschland viele Jahre nicht nur unbekannt war, sondern verboten und verfolgt wurde. Der Leser erkennt, welche große Kraft die Naturfreunde-Bewegung in der Schweiz darstellt und lernt die großen Leistungen ihrer Mitglieder kennen. Darüber hinaus tritt das Werk in seiner ganzen Grundhaltung der (gerade in breiten Kreisen der Naturfreunde verbreiteten) Tendenz ‚Hinaus in die Natur’ entgegen. Die Autoren zeigen, welche Kraft das Erlebnis der Natur gerade dem Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft für seinen täglichen Kampf geben kann.“[8]

Zensiert wurde das Buch von Arno Hausmann, der auch gleich das Haar in der Suppe fand. Naturfreunde und Arbeitersportbewegung seien unter austro-marxistischem Einfluss entstanden. Diese Richtung würde sich „in Worten radikaler gebärden als die deutsche Sozialdemokratie und durch die Synthese Marxismus – philosophischer Idealismus die Wissenschaft des Proletariats zu revidieren trachten“.[9] Revisionismus war im Sommer 1957 für ein Manuskript leicht ein tödlicher Vorwurf. Hausmann favorisierte wegen ihrer Verdienste im Widerstand die abgespaltenen „Arbeiterkletterer“, während er bei den Schweizern „Naturschwärmerei und Sternensehnsucht“ witterte. Und er monierte den Satz „Die ‚Brettli-Hüpfer‘ sollen leben! Hier in den Bergen haben wir alle sozialen Unterschiede vergessen, aber unvergessen bleiben wird uns die Freude dieser schönen Tage.“ Das würde aber „ausgeglichen durch sachlich-reale Feststellungen über die Lage der Arbeiterklasse in der Schweiz. Wenn diese Feststellungen die reformistischen Tendenzen auch nur abschwächen und nicht aufheben, so wirken sie doch so weit korrektivierend, daß die Herausgabe der Schrift in der DDR durchaus vertretbar ist.“ Obgleich „die Möglichkeiten der Bergkletterei in unserer Republik beschränkt“ seien, würde das Buch zu einem erzieherisch wirksamen Vergleich zwischen dem „Arbeitersport“ in einem kapitalistischen Land und dem „Massensport unserer Republik“ anregen. Gibt es eigentlich heute noch das Wort „korrektivierend“? Die Sprache des Zensors ist immer für Überraschungen gut.

1963 wurde das gesamte Verlagswesen der DDR zentralisiert und neu gegliedert. Es entstand ein von der Zensurbehörde, der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel arbeitsteilig organisiertes System spezialisierter Verlage, in dem die parteinahen Großverlage privilegiert mit Papier und Devisen versorgt wurden. Fortan wurde der Import westlicher Belletristik im Prinzip über den Aufbau-Verlag und Volk und Welt abgewickelt. Wie wir heute wissen, ermöglichte diese Konzentration der Devisen bei zwei als SED-Unternehmen geltenden Verlagen fortan die Praxis der sogenannten Plusauflagen-Geschäfte: Man druckte unter der Hand weit mehr, als mit den westlichen Lizenzgebern vereinbart worden war. Die neue Arbeitsteilung schien den Germanistik-Lektor von Volk und Welt, Roland Links, beschäftigungslos zu machen: Für sein gewohntes Arbeitsfeld, die deutschsprachige Gegenwartsliteratur aus der Bundesrepublik, war fortan der Aufbau-Verlag zuständig. Doch dann entdeckte Roland Links die Schweiz als neues und überraschend fruchtbares Tätigkeitsfeld.

Die Einarbeitung war gar nicht leicht, weil an Schweizer Literatur kaum heranzukommen war. Links stützte sich zunächst auf die literarischen Rezensionen des Autors der DDR-Zeitschrift Die Weltbühne Jean Villain, eigentlich Marcel Brun, der als Korrespondent des Schweizer Vorwärts ohnehin beauftragt war, die eidgenössische Gegenwartsliteratur zu verfolgen und zu rezensieren. „Leseexemplare konnten wir bei Theo Pinkus, bei Ruth Liepmann und natürlich bei Mohrbooks bestellen, was aber voraussetzte, daß man sich schon ein wenig auskannte und einen Überblick gewonnen hatte. Dazu war vor der ‚Mauer’ für uns Berliner in West-Berlin Gelegenheit, und ich nutzte vor allem die Heine-Buchhandlung im Bahnhof Zoo. Zweimal jährlich bot zur Leipziger Messe der Gemeinschaftsstand des Schweizerischen Buchhändler- und Verlegervereins mehr als genug. Dort habe ich viele Stunden verbracht.“[10]

Die guten Beziehungen des Verlagsleiters Walter Czollek zu führenden Schweizer Literaturagenturen erwiesen sich dabei als wichtige Starthilfe. Diese Beziehungen gründeten sich auf gemeinsame Jahre im Konzentrationslager und im höheren Sinn war Volk und Welt sogar in der Schweiz gegründet worden: „Es war so, daß sich Mischa Tschesno, Bruno Kaiser, Hans Mayer, Stephan Hermlin, Eduard Claudius und ein gewisser Alois Kolb nach 1945 alle in einem Internierungslager in der Schweiz begegneten. Dort wurde die Idee geboren, einen Verlag zu gründen. Tschesno sagte, er gehe in die Sowjetzone und bemühe sich, einen Verlag zu bekommen für internationale Literatur. Er war Baltendeutscher, sprach fließend russisch und hatte gute Verbindungen […]. 1947 [! Anm. d. Verf.] hat er formal den Verlag gegründet und dann alle rübergeholt, Hermlin, Mayer und die anderen. Die waren ja alle erst in Frankfurt am Main. Mayer hat er den Lehrstuhl in Leipzig besorgt […].“[11]

Der beliebteste Volk und Welt-Autor aus der Schweiz war zweifellos Walter Vogt (Der Wiesbadener Kongreß, 1978; Vergessen und Erinnern, 1982). Seine Lesungen in der DDR waren stets überfüllt und regelrechte Happenings. Seine Fans schätzten den Autor vor allem als Psychiater und suchten seinen ärztlichen Rat. Die Psychoanalyse galt in der DDR als unwissenschaftlich und Werke Sigmund Freuds konnten dort erst später gedruckt werden. In Westdeutschland war Walter Vogt hingegen noch ganz unbekannt und in Bern kamen nicht mehr als sechs Leute zu seinen Buchvorstellungen. Und das war typisch: „Noch unbekannte Schweizer Autoren hat man damals im westdeutschen Buchhandel gar nicht wahrgenommen. In der DDR wurden sie gelesen, und deshalb waren viele Schriftsteller daran interessiert, bei uns zu erscheinen.“[12]

Auf diese Weise leistete Volk und Welt anscheinend eine Pionierarbeit, die auf die Literaturszene in der Schweiz zurückwirkte, was vor allem für linke Autoren hilfreich war. Jakob Bührer, dessen Trilogie Im Roten Feld 1973/1974 zuerst bei Volk und Welt erschien, darbte davor in der Schweiz vergessen dahin und gilt seitdem als moderner Klassiker. Ähnliches gilt für den notorischen „Nestbeschmutzer“ Walter Matthias Diggelmann, den Pionier der Vergangenheitsbewältigung, und für Walter Kauer, dessen Schachteltraum 1974 bei Volk und Welt Premiere feierte.

Andererseits wirkte es in der konservativen Schweiz für den Autor leicht rufschädigend, mit einem DDR-Verlag in Verbindung gebracht zu werden, was für den schriftstellerischen Bekanntheitsgrad natürlich nicht unbedingt schädlich ist. So kam es 1966 zu einer heftigen Kampagne gegen Diggelmann, als er für die DDR-Ausgabe seiner Hinterlassenschaft einige Passagen über den Ungarn-Aufstand von 1956 auf Wunsch des ostdeutschen Verlegers änderte: Aus der unterdrückten Linksrevolution im Münchener Piper-Verlag wurde bei Volk und Welt ein faschistischer Putsch.

Der, so Roland Links, „von uns eigentlich kreierte Schriftsteller Kauer“, der auch „als der von der DDR Entdeckte überall genannt“ wurde[13], avancierte erst durch den Schachteltraum bei Volk und Welt bei Benziger zu einem Starautor. Später spielte Kauer die Rolle des DDR-Verlages herunter, aber bis zur endgültigen fünften Fassung hatte das Buch den Berliner Lektoren einiges abverlangt. „Kauer legte uns ein verwirrtes und verwirrendes Manuskript vor, aus dem wir in drei oder vier Jahren einen Roman gemacht haben, der dann auch den Titel ‚Schachteltraum‘ bekam.“[14]

1975 konnte Roland links befriedigt konstatieren: „Jakob Bührer und Walter Kauer sind zu ‚Fällen‘ geworden wie seinerzeit Diggelmann. Nur hat jetzt niemand die Autoren denunziert. Nun klagt man, daß Schweizer Verlage nicht genug Initiative entwickelten, und man warnt vor uns wie vor den schönen Stimmen antiker Sirenen.“[15]

Im Juni 1975 fand in Zürich eine Ausstellung von DDR-Büchern statt und bei dieser Gelegenheit präsentierte Volk und Welt nicht weniger als ein Dutzend neuer Bücher von Schweizer Autoren. Darunter befand sich die erste Überblicks-Anthologie Erkundungen. 35 Schweizer Erzähler (1974). Vor allem Adolf Muschgs alpine Inzest-Saga Der Zusenn oder das Heimat eroberte sich in der DDR einen gewissen Kultstatus. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) lobte des Herausgebers „genaue Kenntnisse und Informationen über das literarische Leben in der Schweiz“.[16] Die waren nicht vom Himmel gefallen. Bei der „Sammelreise“, auf der Suche nach geeigneten Beiträgern für die Erkundungen hatte der Herausgeber Roland Links aufmerksam zugehört, „was die Baseler Autoren über meine Auswahlreise aus Zürich und Bern, die Züricher über Basel und Bern und die Berner über Basel und Zürich gesagt haben. Es waren sehr schöne Begegnungen, bei denen immer nur die erste Flasche auf meine Rechnung ging.“[17]

Die NZZ unterschob den Erkundungen jedoch auch „politische Absichten, die an Unterwanderung“ grenzten: „Wir hatten diese Absicht nicht, wußten aber, daß man im deutschsprachigen Bereich keine nur literarisch repräsentative Auswahl verantworten kann. Mit unseren 35 Autoren haben wir natürlich auch in den jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen den miteinander rivalisierenden Schriftstellerverbänden in Zürich (SSV) und Bern/Basel/Olten (Gruppe Olten) Akzente gesetzt.“[18]

Es folgte ein 675 Seiten umfassender Wälzer, das Lesebuch Schweiz heute, das im Verlag einen neuen Buchtyp darstellte und zum Vorbild für ähnliche Bände über Österreich, Schweden und die Bundesrepublik werden sollte. Dieser Band enthielt Beispiele aller literarischen Genres, also außer Erzählungen auch Essays, Dramen und Lyrik – eine eigene Anthologie mit Schweizer Lyrik scheiterte im November 1976, als der intendierte Herausgeber Bernd Jentzsch sich mit Biermann solidarisierte und in Bern einen Offenen Brief an Erich Honecker verfasste. Neu an Schweiz heute war auch der Versuch, diesmal die romanischen Sprachen der Schweiz zu berücksichtigen. 1986 erschien ein zweiter Band der Erkundungen mit 42 Erzählern, darunter Corinna Bille aus Lausanne, der Walliser Maurice Chappaz und der Tessiner Giorgio Orelli.

Man versuchte in die Anthologien „so viel wie möglich reinzupacken, weil die Leute ganz verrückt danach waren. Durch die Literatur hat man sich die Welt näher herangeholt. Man war in diesem abgeschlossenen Bezirk darauf angewiesen. Eigentlich wurde einem jedes schweizerische oder österreichische Buch von den Leuten aus den Händen gerissen. Werbung war gar nicht nötig.“[19]

Zum Leidwesen der meisten Anthologie-Autoren wurde nur von wenigen auch eine eigene Monografie publiziert. Diese glücklichen waren Hugo Loetscher (Die Kranzflechterin, 1968), Friederich Glauser (Gouramma, 1972), Silvio Blatter (Mary Long, 1975), Otto F. Walter (Die ersten Unruhen, 1975), Werner Schmidli (Fundplätze, 1975), Jürg Federspiel (Orangen vor ihrem Fenster, 1977), Beat Brechbühl (Traumhämmer, 1978), Peter Bichsel (Kindergeschichten, 1980) und Reto Hänny (Zürich, Anfang September, 1982). Von Urs Widmer erschienen nach dem schwarzen Spektrum-Bändchen Schweizer Geschichten gleich drei Romane in einem Band, Liebesnacht, Die gestohlene Schöpfung, Indianersommer (1988). Beinahe die Hälfte der insgesamt 76 bei Volk und Welt bis 1989 erschienenen Bücher aus der Schweiz stammte von nur vier Autoren, und zwar von Adolf Muschg (sieben), Walter M. Diggelmann (sieben), Max Frisch (zehn) und Friedrich Dürrenmatt (zwölf). Frisch und Dürrenmatt waren auch die Autoren, die dem Verlag die meisten Probleme mit der Zensur bescherten.

Es ist noch immer nicht klar, weswegen genau der Stiller verboten wurde, ob es mehr an dem russischen Geheimagenten oder an dem Nachwort Hans Mayers lag. Das Hauptwerk Max Frischs, 1963 bereits druckgenehmigt, wurde jedenfalls nach einer Denunziation beim Zentralkomitee wieder angehalten, und Volk und Welt musste trotz kluger Bemühungen nicht weniger als zwölf Jahre warten, bis der Stiller 1975 erscheinen konnte, pünktlich zur DDR-Buchausstellung in Zürich. Eine Auswahl der Dramen Max Frischs enthielt 1965 „die für uns gültigsten und in der Aussage nutzbarsten Stücke“, also lieber Biedermanns Brandstifter als den Anarcho Graf Öderland. Und es war schwer, für die Zensur ein Nachwort zu schreiben, das das Verhältnis zu Brecht korrekt fasste. Dem Verlag gelang hier „eine wesentliche Verbesserung, auch wenn wir Herrn Frisch damit ein wenig ärgern sollten“.[20]Mein Name sei Gantenbein, mit seinem Blindheit simulierenden Liebhaber als Füllhorn fiktiver Lebensentwürfe ein Großangriff auf den Sozialistischen Realismus, galt als die „Grenze des gerade noch Möglichen bei uns.“ Um das Buch zu retten, verstieg sich der Verlag zu dem Argument, wie Gantenbein könnten auch im Westen Millionen guter Bürger der Wirklichkeit nicht mehr ins Auge sehen: „Max Frisch weiß, daß er einer dieser Gantenbeins ist.“[21]

Frisch war jedoch keineswegs damit einverstanden, die ihm zugemutete Rolle eines „nützlichen Idioten“ zu spielen und lehnte ein Nachwort zum Spektrum-Band Biographie –Ein Spiel als „pfäffisch“ ab.[22] Dem Spektrum-Band Aus einem Tagebuch und Reden sah man schon am Titel an, dass es ausgeschlossen war, die kompletten Tagebücher zu drucken – hauptsächlich eine Folge des Faibles Max Frischs für Sowjetunion-Reisen. Stattdessen bastelte man aus den Fragebögen 1967–1971 1988 einen niedlichen Lederband und schrieb dem Verfasser, es schließe „auch die Frage nach dem ganzen Tagebuch ein. Wir denken oft darüber nach und sind zuversichtlich, es in absehbarer Zeit vorzeigen zu können.“[23] Dafür war es inzwischen zu spät.

All diesen Schwierigkeiten mit den Werken Max Frischs zum Trotz galten als noch ungleich gravierender die Probleme mit der Zensur der Werke von „Dörrenmatt“ (ein O-Ton, so geisterte er anfangs durch die Akten der Hauptverwaltung). Friedrich Dürrenmatt hatte „eindeutig antikommunistische“ Texte geschrieben, wie Die Ehen des Herrn Mississippi, perhorreszierte jede Form von Macht als „Zerstörung des Individuellen, Schöpferischen usw. des Humanen“ und setzte sich in zahlreichen Essays kritisch mit der Sowjetunion auseinander. Deshalb betrieb Volk und Welt eine „grundsätzliche Grenzziehung“ und trennte sein „theoretisches, quasi-philosophisches“ von dem literarischen Werk komplett ab. Auch im Verlag empfand man „diese Herauslösen der fiktionalen Teile“ als eine Verfälschung, oder „positiver ausgedrückt: diese geplante Herauslösung erzählerischer Texte aus ihrem Kontext ist eine deutliche Interpretation“.[24]

Trotz dieser prinzipiellen Grenzziehung blieb auch eine ganze Reihe fiktionaler Texte in der DDR unpublizierbar, so die Erzählung Der Sturz, in der ein kommunistisches Politbüro im Mittelpunkt stand und ein Nächtliches Gespräch mit einem verachteten Menschen, in dem es um die diskrete, nächtliche Hinrichtung eines Oppositionellen ging. Der „heimliche Leser“, erfahrene Bücherschmuggler und linke Oppositionelle Thomas Klein schätzte als Schüler in Ost-Berlin Dürrenmatts Physiker als eine willkommene Abwechslung zu Brechts Galileo und stellt dem Verlag Volk und Welt trotz jener Amputationen ein gutes Zeugnis aus: Er ließ sich die fehlenden Dürrenmatt-Titel nach Berlin schmuggeln. „Beim Schicken von Büchern auf dem Postweg war es am sichersten, ein Buch zwischen zwei Waschmittelkartons zu quetschen. Aber dieses Interesse wurde durch die Veröffentlichungen von Volk und Welt erst geweckt, und als ich schließlich alles zusammen hatte und ein Urteil wagen konnte, mußte ich schon sagen, daß das Beste von Dürrenmatt auch in der DDR erschienen war. Auf jeden Fall sorgte der Verlag dafür, daß der gezielte Blick bei solchen Autoren hängengeblieben ist. Ich hatte übrigens den Eindruck, daß die Schweiz mit Frisch, Muschg und Diggelmann besonders gut wegkam. Das habe ich alles gekauft, und gerade die Beschaffung dieser Bücher bedurfte einiger Anstrengungen.“[25]

Man sollte also nicht nur in die Gutachten schauen, sondern auch deren editionspolitisches Resultat, die erschienenen Bücher in die Wertung mit einbeziehen. Ein so positives Urteil eines so kritischen und so kundigen Lesers spricht dafür, dass der Nutzen für den Leser die Kosten an zensurtaktischen Kompromissen sogar im Falle Dürrenmatts bei weitem überwog, und das gilt jedenfalls auch für Max Frisch und die ohnehin weniger ‚problematischen’ Autoren aus der Schweiz.

Dieses Resultat war hauptsächlich der taktischen Raffinesse der Lektoren zu verdanken. Es würde jedoch entschieden zu kurz greifen, die Lektoratsarbeit des Verlages nur aus zensurgeschichtlicher Sicht zu betrachten. Bei einem Verlag für internationale Literatur war ein wichtiges Zeichen von Professionalisierung der Trend, auf die Originalsprachen zurückzugreifen. Seit den 1970er-Jahren war es beispielsweise Standard, direkt aus dem Aserbeidschanischen und Walisischen statt über den Umweg aus dem Russischen und Englischen zu übersetzen. Für die Schweiz lässt sich ein ähnlicher Trend beobachten: Die für die Schweiz zuständigen Germanisten öffneten ihren Blick über die Grenzen ihrer eigentlichen Zuständigkeit hinaus und entdeckten schließlich auch die romanischen Autoren. Im Ergebnis verschaffte der Verlag als ein Fenster zur Welt der eingemauerten Bevölkerung der DDR eine beeindruckende Kenntnis nicht nur der europäischen, sondern der Weltliteratur. Denn weil diese ein begehrteres, knappes, über lange Jahre hinweg von der Zensur versperrtes Gut war, wurde sie auch mit ungleich größerer Intensität und in riesigen Auflagenhöhen gelesen.

Hier ist leider anzumerken, dass es sich bei den realen Auflagenhöhen in erheblichem Umfang um sogenannte „Plusauflagen“ gehandelt hat. Sie wurden natürlich nicht veröffentlicht und lassen sich weder den Druckgenehmigungsakten noch den Lizenzverträgen entnehmen[26]:

 Vertraglich vereinbarte Auflage
 Gedruckte Auflage



 Frau Arnau, Tätern auf der Spur 10.000 15.000
 Blatter, Mary Long
 10.000 15.000
 Dürrenmatt, Stücke
 6.000 25.000
 Erkundungen, 35 Schweizer Erzähler
 8.000 25.000
 Erkundungen II, 42 Schweizer Erzähler
 8.000 25.000
 Frisch, Homo Faber
 8.000 15.000
 Frisch, Stiller
 10.000 17.500
 Frisch, Stücke
 8.000 12.000
 Frisch, Blaubart
 8.000 20.000
 Diggelmann, Ich und das Dorf
 10.000 20.000
 Muschg, Der blaue Mann
 8.000 16.000
 Muschg, Albissers Grund
 10.000 15.000
 Muschg, Baiyun
 6.000 30.000
 Vogt, Wiesbadener Kongreß
 8.000 12.000
 Vogt, Vergessen und Erinnern
 6.000 20.000
 R. Walser, Romane (2 Bde.)
 3.000 15.000
 Widmer, Schweizer Geschichten
 6.000 20.000
 Zollinger, Stille des Wunders (Lyrik)
 1.200 2.500















Für die 6.000 kontraktierten Exemplare von Adolf Muschgs Roman Baiyun erhielt der Suhrkamp-Verlag 7.400 „Verrechnungseinheiten“, also Westmark, obwohl ihm die fünffache Summe zugestanden hätte. In der Schweiz wurde besonders der Diogenes-Verlag mit seinen in der DDR populären Krimi-Autoren ein Opfer dieser Methode. Von den zahlreichen Chandler-Romanen beispielsweise wurden regelmäßig 50.000 Exemplare gedruckt, aber stets nur 10.000 davon bezahlt. Insgesamt addierten sich die durch den Plusauflagen-Betrug bis 1990 ersparten Valuta-Beträge für westliche Literatur auf eine Summe von über 20 Millionen DM, die in den 1990er-Jahren den betroffenen Westverlagen von der Treuhand zurückgezahlt wurden.

Grundlage dieser im Schutz der Mauer ausgeübten, zentral gesteuerten kriminellen Praxis, das internationale Urheberrecht konsequent und systematisch zu unterlaufen, war die weitgehende Konzentration des Belletristik-Imports auf nicht mehr als zwei Verlage, den Aufbau-Verlag und Volk und Welt. Durch diese Spezialisierung blieb das Wissen um den im Auftrag der SED-Finanzverwaltung durchgeführten Betrug parteiintern, und nur wenige Führungskader waren eingeweiht. Eine weitgehend illegale Massenproduktion, die mehr schlecht als recht den enormen Bedarf befriedigte, der durch die Zensurpraxis angekurbelt war – und für die Buchproduktion wie für die Zensur war ein – und dieselbe Behörde zuständig. Das von der Hauptverwaltung Verlage gesteuerte „Leseland“ funktionierte als geschlossenes buchhändlerisches Produktions- und Distributionssystem, dem eine gewisse Professionalität vermutlich nicht abzusprechen ist. Zugleich ist es aber auch evident, dass für die Leser so eine breite Kenntnis der westlichen Welt entstand, die sich nicht nur auf den deutsch-deutschen Einigungsprozess, sondern auch auf ein wachsendes europäisches Selbstverständnis günstig ausgewirkt hat.



[1] Essay zur Quelle: Zensurgutachten über „Das Walroß und die Veilchen“ von Heinrich Strub (1952). Die Druckversion des Essays findet sich in: Isabella Löhr, Matthias Middell, Hannes Siegrist (Hgg.): Kultur und Beruf in Europa, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, S. 137—146, Band 2 der Schriftreihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays.

[2] Barck, Simone; Lokatis, Siegfried (Hgg.), Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk und Welt, Berlin 2003.

[3] Vgl. Lokatis, Siegfried, DDR-Literatur aus der Schweiz, aus Österreich und der Bundesrepublik, in: Estermann, Monika; Lersch, Edgar (Hgg.), Deutsch-deutscher Literaturaustausch in den 70er Jahren, Wiesbaden 2006, S. 42–70.

[4] Vgl. das Verlagsgutachten vom 15. Juni 1962 in der Druckgenehmigungsakte zu Jeremias Gotthelf, Erzählungen aus der Schweiz, Leipzig 1963 (BArch DR 1, 3986): „Aus der Fülle von Gotthelf’s Erzählungen eine kleine Auswahl zu treffen, die einigermaßen repräsentativ sein und möglichst wenig verstaubt wirken soll, ist nicht ganz einfach, da fast in allen Erzählungen sehr viel Positives sich mit Provinziell-Beschränktem und Politisch-Rückständigem mischt.“ Alle hier zitierten Druckgenehmigungsakten der HV-Verlage im Ministerium für Kultur sind inzwischen online auf der Seite des Bundesarchivs Berlin-Lichterfelde zugänglich.

[5] Hier musste 1963 das Vorwort zu „Die Leute aus Seldwyla“ „völlig neu geschrieben werden, da das alte Vorwort auf der falschen Lukács-These von der angeblichen ‚urwüchsigen’ Schweizer Demokratie aufgebaut war.“ Vgl. Gutachten Blasche, 5. März 1962 (BArch DR 1, 5012).

[6] Lokatis, Siegfried, Im Reiche Baron Hagers oder wie modern war die Zensur in der DDR, in: Frankfurter Rundschau, 22.07.2000 (zugleich: Kulturation. Online-Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik 2 (2004), URL: <http://www.kulturation.de/ki_1_thema.php?id=61> (07.04.2014).

[7] Zu diesem und den beiden folgenden Zitaten vgl. Gutachten Gärtner-Scholle vom 11. September 1952 (BArch DR 1, 5086a).

[8] Sonne, Schnee und Fels, Gutachten Lütke, 21. Oktober 1957 (BArch DR 1, 5126a).

[9] Gutachten Arno Hausmann, 15. Juni 1957 (BArch DR 1, 5126a). Die folgenden Zitate beziehen sich, soweit nicht anders vermerkt, auf dieses Gutachten.

[10] Links, Roland, Kurzes Nachdenken über anregendes Fremdsein, in: Lenschen, Walter (Hg.), Literatur übersetzen in der DDR, Bern 1998, S. 119–124.

[11] Berger, Walter, Michael Tschesno-Hell – Die frühen Jahre, in: Barck; Lokatis, Fenster zur Welt, S. 356.

[12] So Vogts Lektorin Ingeborg Quaas: dies., Auf Schweizer Erkundungen, in: Barck; Lokatis, Fenster zur Welt, S. 116.

[13] DG-Antrag Schweiz heute, Gutachten Roland Links 1975, (BArch DR 1, 2362).

[14] So sein damaliger Lektor, der spätere Verleger Simon, Dietrich, Steine des Anstoßes – Rückblicke, in: Barck; Lokatis, Fenster zur Welt, S. 110.

[15] DG-Antrag Schweiz heute (BArch DR 1, 2362).

[16] Keckeis, Peter, Schwierigkeiten mit deutscher Literatur. Eine DDR-Anthologie „Erkundungen 35 Schweizer Erzähler“, in: Neue Zürcher Zeitung , 13.04.1975.

[17] Links, Kurzes Nachdenken, S. 119–124.

[18] DG Antrag Schweiz heute (BArch DR 1, 2362).

[19] Quaas, Auf Schweizer Erkundungen, S. 115.

[20] DG-Antrag Max Frisch, Stücke. Roland Links an HV Verlage und Buchhandel, 12. März 1965 (BArch DR 1, 3978).

[21] DG-Antrag Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein. Verlagsgutachten Herbst 1965 (BArch DR 1, 2328).

[22] DG Antrag Max Frisch, Biographie ein Spiel. Verlagsgutachten 12. September 1969 (BArch DR 1, 2342a).

[23] Volk und Welt (Jürgen Gruner und Dietrich Simon) an Max Frisch, 9. Februar 1988 (Volk und Welt-Archiv in der Akademie der Künste).

[24] DG-Antrag Friedrich Dürrenmatt, Erzählungen. Gutachten Manfred Küchler, o. D. (BArch DR 1, 2387).

[25] Klein, Thomas, XY – Der unbekannte Leser: Prägung durch Bücher, in Barck; Lokatis, Fenster zur Welt, S. 387f.

[26] Die realen Zahlen sind einer Auflagenstatistik im Verlagsarchiv von Volk und Welt in der Berliner Akademie der Künste zu entnehmen.



Literaturhinweise

  • Barck, Simone; Langermann, Martina; Lokatis Siegfried (Hgg.), Jedes Buch ein Abenteuer! Zensursystem und literarische Öffentlichkeit(en) in der DDR bis Ende der sechziger Jahre, Berlin 1997.
  • Barck, Simone; Lokatis, Siegfried (Hgg.), Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk und Welt, Berlin 2003.
  • Estermann, Monika; Lersch, Edgar (Hgg.), Deutsch-deutscher Literaturaustausch in den 70er Jahren, Wiesbaden 2006.
  • Links, Roland, Kurzes Nachdenken über anregendes Fremdsein, in: Lenschen, Walter (Hg.), Literatur übersetzen in der DDR, Bern 1998.
  • Lokatis, Siegfried, Im Reiche Baron Hagers oder wie modern war die Zensur in der DDR, in: Frankfurter Rundschau, 22.07.2000 (zugleich: Kulturation. Online-Journal für Kultur, Wissenschaft und Politik 2 (2004), URL: <http://www.kulturation.de/ki_1_thema.php?id=61> (07.04.2014).

Zensurgutachten über Das Walroß und die Veilchen von Heinrich Strub (1952)[1]

Das Kinderbuch „Das Walroß und die Veilchen“, von dem zweifellos begabten Schweizer Heinrich Strub, ist ein Beweis dafür, daß auch der wohlmeinende, dem Fortschritt zustrebende Künstler, den Gesetzen des geistigen und kulturellen Verfalls der imperialistischen Welt unterliegt.

Ein Professor und ein Gärtner gerieten in Streit. Der Gärtner widerspricht dem Professor, der behauptet, daß Melonen als Südfrüchte nur im Süden wachsen können und erklärt ihm, daß es auf die Pflege ankäme und sowohl Melonen als auch Veilchen am Nordpol wachsen würden.

Der Professor verspricht 1.000 Franken, wenn eine derartige Züchtung gelänge. Der Versuch gelingt. Der Gärtner hat am Nordpol in Gewächshäusern Melonen zum Reifen und Veilchen zum Blühen gebracht. Ein Walroß entdeckt seine Leidenschaft zu diesen seltenen Pflanzen, als es durch die Glasfenster in das Treibhaus fällt. Es wird ein Freund des Gärtners, hilft ihm, bläst das Feuer in den Öfen an, bringt ihm Heringe und ißt dafür Melonen und genießt den Veilchenduft. Das Walroß begibt sich eines Tages auf die Suche nach dem „Land, wo die Zitronen blüh’n“. Nach einigen Irrfahrten gelangt es, den Veilchenduft verfolgend, (der Gärtner ist inzwischen auf einem Dampfer mit Veilchen und Melonen heimgefahren) in eine Stadt am Mittelmeer.

Sein erstes Erlebnis dort hat es mit einem Auto, mit dem es zusammenstößt. Das Auto „unterliegt“ hierbei. Dann folgt es einer „Parfüm-Dame“, von der sein geliebter Veilchenduft ausströmt und wird von 3 Gangstern, Freunden der „Dame“, eingesperrt, die es am nächsten Tage schlachten wollen und in Vorfreude auf den zu erwartenden Erlös ein Gelage veranstalten.

Ein Mäuslein kommt zu dem gefangenen Dickhäuter, er erzählt ihm seine Geschichte. Die Maus will den Gärtner, den sie kennt, benachrichtigen, wird aber unterwegs überfahren. Die Verwandten der Maus kommen ebenfalls neugierig zu dem Walroß und bald ist der Gärtner von ihnen benachrichtigt. Die Polizei wird verständigt. Das Walroß wird befreit. Die Gangster und die „Dame“ werden eingelocht.

Das Walroß wandert nun durchs „Land, wo die Melonen blüh’n“, nimmt am Mäusebegräbnis teil und rehabilitiert den Gärtner vor dem Prof., die seine Züchtungsergebnisse am Nordpol nicht glauben wollten. Der Gärtner erhält 1.000 Franken und fährt mit dem Professor und dem Walroß an Bord zu neuen Taten an den Pol. Die Eskimos lernen Melonen essen.

Obwohl viele der Zeichnungen sehr reizvoll und kindertümlich sind und beweisen, daß der Künstler nicht nur nette Einfälle besitzt, sondern auch über ein ausgezeichnetes Darstellungsvermögen verfügt und mit Liebe für Kinder zeichnet, so entgleist er doch infolge des Mangels an pädagogischem Verantwortungsbewußtsein vielfach aus der Welt des Kindes in die kindlich verspielter Erwachsener.

Wie kann z.B. ein Kind den Witz, der in der Abwandlung „wo die Melonen blüh’n“ liegt, überhaupt erfassen? So kann auch den Humor eines Bildes, wie jenes, auf dem das Walroß mit der Miene eines Münchener Bierphilisters mit aufgeblähten Nüstern der „schönen Dame“ nachsteigt, nur ein Erwachsener aufnehmen. Diese Zeichnung gehört eher in den „Frischen Wind“, als in ein Buch für unsere Jüngsten. Das Bild des nächtlich von den Mäusen besuchten Gärtners könnte bei Kindern Angstträume erwecken.

Wir können keine Prostituierte, selbst wenn die mit der Bezeichnung „Parfüm-Dame“ umschrieben wird, als Figur eines Kinderbuches akzeptieren. Sie ist „Schlepperin“ für ihre 3 Freunde, die Gangster, und tritt in 4 Bildern in Erscheinung. Eins davon ist eine regelrechte Kaschemmenszene.

Wir können und wollen unseren Kindern, die in der Volkspolizei ihre Freunde und Beschützer sehen, nicht mit solch einer Polizei bekannt machen, die typische Vertreter einer anderen alten und überholten Welt sind.

Wir können und wollen unseren Kindern nicht in einer Zeit, in der die großartigen Versuche der klimatischen Umgewöhnung von Pflanzen durch die Methoden von Mischurin und Lysenko längst zu tatsächlichen Erfolgen geführt haben, durch eine märchenhafte Behandlung dieses Themas diese Versuche so karikiert und unwirklich darstellen.

Wollen wir eine der populärsten Zeilen Goethes (Kennst Du das Land, wo die Zitronen blüh’n) humoristisch abgewandelt als Leitmotiv eines Kinderbuches verwenden?

Es wäre also bei einer Ausgabe für die DDR einmal notwendig, nur eine Auswahl der Illustrationen zu bringen, und nach ihnen müsste man eine neue Form der Fabel machen. Diese ist durchaus denkbar und man könnte dann ohne Einbuße des Humorvollen den Gärtner etwa als Symbol des Neuerers aus Erfahrung machen, den Professor noch mehr als den Buchgelehrten und Erstarrten charakterisieren.


[1] Zensurgutachten von Ursula Miessner über Heinrich Strub, Das Walroß und die Veilchen (Bundesarchiv Berlin, DR 1 (Ministerium für Kultur, Teil 3: Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel, Druckgenehmigungsvorgänge), 1947–1991, 5126a, 21. Oktober 1957). Eine Druckversion der Quelle findet sich in: Isabella Löhr, Matthias Middell, Hannes Siegrist (Hgg.): Kultur und Beruf in Europa, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, S. 146—148, Band 2 der Schriftreihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays.


Für das Themenportal verfasst von

Siegfried Lokatis

( 2014 )
Zitation
Siegfried Lokatis, DDR-Literatur aus der Schweiz, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2014, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1637>.
Navigation