Das Paris der Afrikaner und die Erfindung der Négritude.

Léopold Sédar Senghor (1906-2001), der erste gewählte Staatspräsident des unabhängigen Senegal, war im April 1961 erst seit wenigen Monaten im Amt. Seine erste Reise nach Europa führte ihn, wenig überraschend, zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. In seinen Reden während des Staatsbesuches, wie auch in seiner Ansprache auf dem Empfang des Stadtrates von Paris am 20. April, die der vorliegende Essay als Ausgangspunkt wählt, betonte Senghor wiederholt die engen und positiven Verbindungen zwischen den beiden Ländern. [...]

Das Paris der Afrikaner und Die Erfindung der Négritude[1]

Von Andreas Eckert

Léopold Sédar Senghor (1906-2001), der erste gewählte Staatspräsident des unabhängigen Senegal, war im April 1961 erst seit wenigen Monaten im Amt. Seine erste Reise nach Europa führte ihn, wenig überraschend, zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. In seinen Reden während des Staatsbesuches, wie auch in seiner Ansprache auf dem Empfang des Stadtrates von Paris am 20. April, die der vorliegende Essay als Ausgangspunkt wählt, betonte Senghor wiederholt die engen und positiven Verbindungen zwischen den beiden Ländern. Für diese engen Verbindungen stand nicht zuletzt seine Biografie.[2]Senghors Karriere war eng mit Frankreich und vor allem mit Paris verknüpft: Senghor hatte zunächst nach seinem Studium in den 30er Jahren dort als Lehrer zu arbeiten begonnen und war nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der bekanntesten afrikanischen Poeten geworden, zugleich aber auch als nationalistischer Politiker hervorgetreten. Zwanzig Jahre lang war er Präsident des Senegal. Diese Zeit endete 1980, als er als erstes afrikanisches Staatsoberhaupt freiwillig von seinem Amt zurücktrat. Vier Jahre später, 1984, wurde er zum Mitglied der Académie Française ernannt. Mit kurzen Unterbrechungen lebte Senghor von 1928 bis 1960 in Paris, also in der Stadt, über die er sich in seiner Ansprache gegenüber dem Stadtrat so freundlich äußert. Die positive Darstellung war daher nicht allein diplomatischen Gepflogenheiten geschuldet. Vom „Geist von Paris“, den Senghor in seiner Rede beschwört, hat er wahrscheinlich mehr als die meisten Kolonisierten profitiert, auch wenn ihm rassistisch motivierte Demütigungen nicht erspart blieben. Die Stadt an der Seine markierte im 20. Jahrhundert für Senghor wie für viele Intellektuelle aus den französischen Kolonien einen Ort, an dem sie wesentliche Prägungen erfuhren und – auf unterschiedliche Weise – ihr Profil etwa als Schriftsteller, Wissenschaftler oder auch als Politiker schärften. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des „Black Paris“ liegt bislang allerdings bestenfalls nur in Ansätzen vor: Senghor nimmt in dieser Geschichte eine tragende Rolle ein.[3]

Die französische Hauptstadt entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg zum unbestrittenen kulturellen Zentrum Europas und zu einem Treffpunkt kreativer Köpfe aus vielen Teilen der Welt, nicht zuletzt aus den Vereinigten Staaten. „Paris, ein Fest fürs Leben“ – damit setzte etwa Ernest Hemingway den Pariser „roaring twenties“ ein literarisches Denkmal. Kosmopolitisch orientierte Pariser Intellektuelle und Künstler entfalteten zunehmendes Interesse an Afrika und der afrikanischen Diaspora. Die im ethnografischen Museum am Trocadéro ausgestellte afrikanische Kunst faszinierte Maler wie Picasso. Die große Expedition Dakar-Djibouti 1931-33 unter Leitung des Ethnologen Marcel Griaule sorgte für öffentliches Aufsehen und intensivierte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kontinent.[4]Freilich verband die Mehrheit der Pariser „Afrika“ eher mit Ereignissen wie den Auftritten Josephine Bakers in der „Revue Nègre“ im Theater an den Champs d’Elysées oder mit der großen Pariser Kolonialausstellung von 1931.[5]

Eine große Sensation war 1921 die Verleihung des renommierten Prix Goncourt an René Maran aus Martinique, einem Mitarbeiter der Kolonialverwaltung in Zentralafrika, für seinen Roman „Batoula“, die Geschichte eines afrikanischen Dorfes. Im Vorwort des Buches sparte Maran nicht mit Kritik an der französischen Kolonialadministration, was ihn – trotz der literarischen Auszeichnung – seinen Posten kostete. Der Roman wurde in den französischen Kolonien verboten.[6]In Frankreich tätige politische Aktivisten aus Afrika und den Antillen gerieten im Übrigen rasch in den Ruch, kommunistische Agitatoren zu sein und mussten mit Verfolgung durch staatliche Behörden rechnen. Dennoch entwickelte sich Paris in der Zwischenkriegszeit zu einem Zentrum panafrikanischer Aktivitäten.[7]In Organisationen wie der „Ligue de Défense de la Race Nègre“ dominierten Studierende oder auch ehemalige Studierende von den Antillen. Im Vergleich zu Großbritannien waren Zahl und politische Bedeutung afrikanischer Studenten in Frankreich vor dem Zweiten Weltkrieg allerdings gering.[8]Senghor war in dieser Zeit offenbar der einzige Student aus Afrika, der einen Abschluss in den Geisteswissenschaften, in seinem Fall in Latein und Griechisch, anstrebte. Und 1935 gelang es ihm als erstem Afrikaner überhaupt, die ebenso begehrte wie rare Agrégation zu erlangen, einen Abschluss, der eine feste Stelle im Staatsdienst nach sich zieht.

Der Beginn seiner Studienzeit in Paris gestaltete sich für den Sohn einer wohlhabenden Serer-Kaufmannsfamilie, der mit Bravour in der senegalesischen Hauptstadt Dakar die Schule abgeschlossen hatte, jedoch keineswegs verheißungsvoll. In der Ansprache erwähnt er rückblickend seine Enttäuschung, die er bei seiner Ankunft über das graue Antlitz der Stadt empfand. Als frustrierend erwies sich zunächst auch das Studium an der Sorbonne. Senghor fühlte sich isoliert und überfordert. Auf den Rat eines wohlwollenden Professors wechselte Senghor bald an das Lycée Louis-le-Grand, eine der ältesten Kaderschmieden des französischen Bildungssystems, um sich auf die Aufnahmeprüfung zur Ecole Normale Supérieure vorzubereiten. An dieser Schule schloss er – wie er auch in der Ansprache berichtet – lebenslange Freundschaften: vor allem mit Georges Pompidou, dem späteren Präsidenten Frankreichs, mit dem vietnamesischen Schriftsteller und Diplomaten Pham Duy Khiem, mit dem sozialistischen Politiker Robert Verdier und mit dem Schriftsteller Robert Merle.[9]Das „old boys network“ dieser Pariser Einrichtung konnte Senghor in seiner späteren Karriere als Politiker wiederholt nutzen. Insbesondere mit Hilfe von Pompidou „entdeckte“ Senghor nun auch die Stadt. Der kalte Regen seiner Ankunft wich „langen Spaziergängen unter einem warmen Regen oder in blaugrauem Nebel.“[10]

Trotz guter Leistungen misslang Senghor die Aufnahmeprüfung zur Ecole Normale Supérieure, er wechselte daraufhin wieder an die Sorbonne, weiterhin unterstützt durch ein staatliches Stipendium. Seine Unterkunft fand er in der neuen Cité Universitaire, im Haus der Fondation Deutsch de la Meurthe. Senghor knüpfte nun intensive Kontakte zur „schwarzen Diaspora“ in Paris und versuchte, Westinder und Afrikaner zusammenzubringen – ein nicht einfaches Unterfangen, denn die meisten Studenten von den Antillen betrachteten sich als Franzosen und pflegten auf die „primitiven Afrikaner“ hinabzuschauen. Gemeinsam mit Léon Dumas aus Guyana und Aimé Césaire aus Martinique gründete Senghor 1935 die kulturell-literarische Zeitschrift „L’Etudiant Noir“, die auch den Kern der Négritude-Bewegung bildete. Senghor hat die Anfänge später etwas dramatisierend so beschrieben: „Mit einigen anderen schwarzen Studenten verfielen wir in eine Art panische Hoffnungslosigkeit. Der Horizont verschloss sich, keine Reform war in Aussicht, und die Kolonisatoren rechtfertigten unsere politische und wirtschaftliche Abhängigkeit mit der Theorie des unbeschriebenen Blattes. Sie meinten, wir hätten bisher niemals etwas erfunden und erschaffen, nichts geschrieben und geforscht, nicht gemalt, nicht gesungen. Um unsere eigene und wirkliche Revolution zu beginnen, mussten wir unsere entliehenen Kleider, die Kleider der Assimilation, ablegen und unser eigenes Sein bejahen, nämlich unsere Négritude.“[11]

Das Projekt der Négritude, das in Paris seinen Ausgang nahm, blieb ein äußerst widersprüchliches Projekt, dem es nicht zuletzt darum ging, den Kolonialismus zunächst ideell zu überwinden. Rasch sorgten die Texte aus dem Umfeld dieser Bewegung unter der schwarzen Diaspora und in den Intellektuellenkreisen von Paris für Aufsehen. Die Weihe, gleichsam Teil des Weltgeistes zu sein, gab der Bewegung jedoch erst Jean-Paul Sartre, der die Négritude in seinem klassischen Essay „Der schwarze Orpheus“ 1948 emphatisch analysierte. Sartre konstruierte die Négritude als einen „anti-rassistischen Rassimus“, dessen Aufgabe es sei, „sich seiner Rasse bewusst zu werden.“[12]Senghor hingegen blieb in der Bestimmung seines Afrika-Bildes immer ambivalent und spekulativ. Einerseits plädierte er für einen kulturellen Synkretismus, andererseits suchte er die Négritude als das zu konstituieren, was afrikanischen Geist vom europäischen trennt. In diesem Zusammenhang stellte er die äußerst kontroverse These auf, Afrikaner eigneten sich die Welt nicht wie die Europäer mit Vernunft, sondern mit Emotionen an.

Die Négritude entstand, wie Senghor in seiner Ansprache kurz erwähnt, in intensiver Auseinandersetzung mit europäischen Schriften über Afrika, auf die er in Paris stieß. Die Schriften der Ethnografen Leo Frobenius und Maurice Delafosse sowie des Kolonialbeamten und Afrikaspezialisten Robert Delavignette übten auf ihn einen besonders nachhaltigen Einfluss aus.[13]Ihre größte Wirkung entfaltete die Négritude schließlich in der ersten Dekade nach dem Zweiten Weltkrieg. „Présence Africaine“, die 1947 gegründete Zeitschrift, zu der sich bald das gleichnamige Verlagshaus gesellte, gab diesem Einfluss sichtbaren Ausdruck.[14]Senghor publizierte weiter Gedichte und Essays, agierte fortan aber vor allem als Politiker. Als Abgeordneter Senegals saß er in der französischen Nationalversammlung und setzte sich von Paris aus für die Unabhängigkeit der afrikanischen Kolonien ein. In den 1950er Jahren artikulierte sich auch erstmals grundlegende Kritik an Senghors Konzept der Négritude. Auf dem von Présence Africaine im September 1956 organisierten Kongress der schwarzen Schriftsteller und Künstler in Paris konstatierte etwa Frantz Fanon, der Theoretiker einer antikolonialen Revolution, dass die Négritude im Grunde eine Spielart des westlichen Rassismus sei, indem sie einem essentialistischen „schwarzen Wesen“ das Wort rede.[15]

Die jüngere Generation afrikanischer Schriftsteller und Künstler in Paris bezieht sich nur noch selten auf Senghor oder grenzt sich gar explizit von ihm ab. Für jene Historiker, denen es darum zu tun ist, die Geschichte der Moderne als eine „verwobene Geschichte“ zu konzeptualisieren, für welche (freilich durch Asymmetrien und Hierarchien geprägte) Interaktionen zwischen Kolonisierten und Kolonisierenden konstitutiv sind, bieten Senghors Aktivitäten in Paris und seine Perzeption der imperialen Metropole hingegen wichtiges Material, denn nicht zuletzt war Paris im 20. Jahrhundert ein Ort, an dem französische und afrikanische, europäische und außereuropäische Geschichte sich vermischten.



[1] Essay zur Quelle Nr. 4.6, Léopold Sédar Senghor: Der Geist von Paris (1961).

[2] Über Senghor sind inzwischen zahlreiche biographische Studien entstanden. Die mit Abstand beste ist Vaillant, Janet G., Black, French, and African. A life of Léopold Sédar Senghor, Cambridge/Ma. 1990; ferner u.a. Hymans, Jacques Louis, Léopold Sédar Senghor: An intellectual biography, Edinburgh 1971; Biondi, Jean-Pierre, Senghor ou la tentation de l’universel, Paris 1993; Sorel, Jacqueline, Léopold Sédar Senghor. L’emotion et la raison, Saint-Maur-des Fossés 1995.

[3] Vgl. etwa Jules-Rosette, Bennetta, Black Paris. The African writers’ landscape, Chicago 1998.

[4] Vgl. Sibeud, Emmanuelle, Une science impériale pour l’Afrique: La construction des savoirs africanistes en France 1878-1930, Paris 2002, Kap. 9. Zur Expedition vgl. die berühmten Tagebücher von Leiris, Michel, L’Afrique fantôme, Paris 1988 (1934).

[5] Vgl. Ezra, Elizabeth, The colonial unconscious. Race and culture in interwar France, Ithaca 2000.

[6] Senghor hat den großen Einfluss von Maran auf die afrikanischen Studenten und Intellektuellen in Paris beschrieben in: René Maran. Précurseur de la Négritude, in: Senghor, Léopold Sédar, Liberté 1. Négritude et humanisme, Paris 1964, S. 407-411. Senghors erste Publikation beschäftigte sich ebenfalls mit Maran: Senghor, Léopold Sédar, L’humanisme et nous: René Maran, in: L’Etudiant Noir 1 (1935).

[7] Vgl. Liauzu, Claude, Aux origines du tiers-mondismes. Colonisés et anticolonialistes en France (1919-1939), Paris 1982; Dewitte, Philippe, Les mouvements nègres en France 1919-1939, Paris 1985; Spiegler, James, Aspects of nationalist thought among french-speaking West Africans, 1921-1939, unpubl. D. Phil Thesis, Oxford 1967; Geiss, Immanuel, Panafrikanismus. Zur Geschichte der Dekolonisation, Frankfurt am Main 1968, Kap. II, 7; Langley, J. Ayodele, Pan-Africanism in Paris 1924-1936, in: Journal of Modern African Studies 7 (1969), S. 69-94.

[8] Vgl. Eckert, Andreas, Afrikanische Studenten und anti-koloniale Politik in Europa, 1900-1960, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 7 (2004), S. 129-145.

[9] Vgl. dazu auch Senghor, Léopold Sédar, Lycée Louis-le-Grand, haut lieu de culture française, in: Ders., (wie Anm. 6), S. 403-406.

[10] Ebd., S. 405.

[11] Senghor, L’Esprit de la civilisation ou des lois de la culture Negro-Africaine (1956), zit. n. der Übersetzung in Imfeld, Al (Hg.), Verlernen, was mich stumm macht. Lesebuch zur afrikanischen Kultur, Zürich 1980, S. 83.

[12] Sartre, Jean-Paul, Orphée Noir, in: Senghor, Léopold Sédar (Hg.), Anthologie de la nouvelle poésie nègre et malgache de langue française, Paris 1948, S.IX-XLIV (dt.: Schwarzer Orpheus, in: Sartre, Jean-Paul, Situationen, Reinbek 1965, S. 189-211).

[13] Vgl. Vaillant (wie Anm. 2), S. 121ff.; zu den vielen Quellen, die Senghors Denken beeinflussten, vgl. ferner Lölke, Ulrich, Kritische Traditionen. Afrika. Philosophie als Ort der Dekolonisation, Frankfurt am Main 2001.

[14] Vgl. Mudimbe, Valentin Y. (Hg.), The surreptitious speech. Présence africaine and the politics of otherness 1947-1987, Chicago 1992.

[15] Fanon, Frantz, Racisme et culture, in: Présence Africaine 8-10 (1956), S. 125f.

 


Literaturhinweise:
  • Ezra, Elizabeth, The colonial unconscious. Race and culture in interwar France, Ithaca 2000
  • Jules-Rosette, Bennetta, Black Paris. The African writers’ landscape, Urbana 1998
  • Lölke, Ulrich, Kritische Traditionen: Afrika – Philosophie als Ort der Dekolonisation, Frankfurt am Main 2001
  • Mudimbe, Valentin Y. (Hg.), The surreptitious speech. Présence africaine and the politics of otherness. 1947-1987, Chicago 1992
  • Vaillant, Janet G., Black, French, and African. A life of Léopold Sédar Senghor, Cambridge/Mass. 1990

Senghor, Léopold Sédar: Der Geist von Paris (1961) [1]

[...] Wie ich Paris kennen- und lieben lernte, dies möchte ich Ihnen in gebotener Kürze berichten. Seien Sie versichert, ich werde weder von der politischen noch von der ökonomischen Bedeutung von Paris sprechen. Dafür wäre ich nicht der Richtige. Und wenn ich den Handel erwähne, so wird es um den Handel des Geistes gehen, in welchem Paris eine bedeutende Rolle spielt: die der Hauptstadt und Metropole.

Es regnete kalt aus dem Oktoberhimmel, als ich eines Morgens in Paris ankam. Alles war grau, selbst die berühmten Gebäude. Welch eine Enttäuschung! Und doch hatte ich bereits einen Sonnenstrahl auf den blassen Gesichtern entdeckt: ein aufmerksames Lächeln, eine Freundlichkeit die zur Freundschaft einlud und die ich nirgendwo in Europa so wiederfinden sollte.

Und tatsächlich, meine tiefsten Freundschaften nahmen ihren Anfang in Paris, auf den Bänken des Lycée Louis-le-Grand – Freundschaften von nun schon dreißig Jahren. Und es waren eben jene Freunde vom Lycée, durch die ich Paris kennen lernte, und sie es gleichzeitig mit mir. Nicht über abstraktes Wissen, sondern durch das Erleben. Wir durchstreiften gemeinsam zu Fuß das Paris der Zwischenkriegszeit: vom Jardin du Luxembourg zum Parc Montsouris, von Notre-Dame bis Sacré Coeur, von der Concorde zur Porte d’Auteuil und von der Bastille zur Porte Dorée.

Ich lernte von Paris zunächst also die Straßen kennen, einem neugierigen Touristen gleich. Weniger das Paris by night als vielmehr die Hauptstadt mit ihren bei Tageslicht so verschiedenen Gesichtern. Ach, dieses Licht, das auch der Rauch aus den Fabrikschornsteinen nicht zu verdecken vermag! Blond, blau, grau, je nach Jahreszeit, Tag oder Stunde bleibt dieses Licht immer weich und reich an Nuancen, scheint auf Bäume und Steine und belebt alles mit dem Geist von Paris.

Paris erstreckt sich nicht nur bis zu seinen äußeren Boulevards, die ganze Île de France ist noch Paris! Die berühmten Hügel, die in der Ferne die Hauptstadt wie eine Krone umgeben, die Wälder von Cheuvreuse und Ermenoville, von Chantilly und Montmorency, die Täler der Oise, Marne und Seine, all diese Landschaften sind in dasselbe Licht getaucht, unsterblich gemacht durch die größten Maler. Überall dort künden das Lächeln des Mai und die Pracht des Septembers von der Süße des Lebens.

Ja, für mich ist Paris vor allem dies: eine Stadt – eine Symphonie aus Steinen –, die an ihren Rändern in eine harmonische Landschaft von Gewässern, Blumen, Wäldern und Hügeln übergeht. Eine Landschaft, die eine Seelenlandschaft ist, dem Menschen zugetan. Und auf all dies scheint das Licht des Geistes.

Dieser Geist von Paris, der ein Musterbeispiel für den französischen Geist ist, war es, wonach ich während meiner Studienjahre suchte und ich widmete mich dieser Sache mit einer ganz afrikanischen, ja primitiven Leidenschaft. Vielleicht versäumte ich dabei etwas, denn ich besuchte sehr viel häufiger als die Nachtclubs die Theater, die Museen, die Konzertsäle und Kunstausstellungen.

Ausgestellt und dargeboten wurden dort vielfach ausländische Meisterwerke. Eben diese Weltoffenheit, die Suche nach dem Anderen, ist ein Merkmal des Pariser Geistes. Ich würde aber noch weitergehen: In diesem unstillbaren Wissensdurst, in der aktiven Bereitschaft, etwas in sich aufzunehmen, um etwas hervorzubringen, zeigt sich das Wesen des Geistes von Paris, ja des französischen Genies [...]

Was seinen besonderen Wert ausmacht, ist, dass dieses Genie eine schöpferische Wahl ist. Nichts bleibt, wie es sich präsentiert, in seinem Schwung und seinem Übermaß; alles wird auf seine gehörigen Proportionen, auf sein gesundes menschliches Maß gebracht. Alles spricht vom Mensch und strebt zum Mensch, alles vollzieht sich als Ausdruck des Geistes, der ein Geist des Menschen ist.

Die wichtigste Lektion, die mir in Paris zuteil wurde, bestand indessen weniger in der Entdeckung der anderen als vielmehr in der Entdeckung meiner selbst. Indem die Metropole mir die Welt der anderen erschloss, half sie mir, Kenntnis von mir selbst zu erlangen. Wenn Paris nicht ohnehin das größte Museum schwarzafrikanischer Kunst ist, so wurde die schwarze Kunst jedenfalls nirgendwo in diesem Maße verstanden, kommentiert, überschwänglich gelobt und aufgenommen. Dadurch, dass Paris mir die Werte der Kultur meiner Vorfahren vermittelte, zwang es mich gleichsam, diese Werte zu akzeptieren und in mir reifen zu lassen – und dies betraf nicht nur mich, sondern eine ganze Generation schwarzer Studenten von den Antillen wie aus Afrika.

Paris inspirierte uns gleichermaßen mit seinem Geist. Es lud uns ein, aus seinen Museen wie aus seiner universitären Ausbildung keine Genussobjekte oder nutzlosen Zierrat zu machen, sondern Instrumente der Kultur, Instrumente von Befreiung und Fortschritt.

Es wurde gesagt, dem Geist von Paris fehle die kosmische, die göttliche Dimension. Ich glaube vielmehr, dass dieser Geist, ohne irgendetwas zu verwerfen, uns gelehrt hat, die Götter auf die Erde zu holen und an jede Sache sehr genau den Menschen als Maßstab anzulegen: um in der Welt und in uns klar zu sehen und um jedem Ding – Tatsachen, Ideen, Gefühlen – seinen richtigen Platz zuzuweisen.

Herr Präsident des Stadtrates, Sie werden mir verzeihen, dass ich nicht von den Pariser Vergnügungen gesprochen habe, weder von der Mode noch vom Pariser Stil. Für mich macht all das nicht Paris aus. Der Geist von Paris, das sind auch nicht jene Wortspiele, die den Fremden erfreuen, jene listigen Scherze, an denen wir im Lycée Louis-le-Grand Gefallen fanden. Die Freundlichkeit, die Freundschaft bedeutet, die Neugier, die Wissen ist, dies ist in ihrem Wesen die Gabe der Schöpfung, die Paris kennzeichnet [...]



[1] Ansprache Leopold Senghors auf einem Empfang des Stadtrates von Paris am 20. April 1961, in: Ders., Liberté 1. Négritude et humanisme, Paris 1964, S. 312-314; Übersetzung aus dem Französischen von Andreas Eckert.

 


Französisches Original der Quelle:
Senghor, Léopold Sédar: Paris (20 avril 1961)
 
Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.

Senghor, Léopold Sédar: Paris (20 avril 1961) [1]

[…]

Comment j’ai appris à connaître et aimer Paris, c’est ce que je voudrais vous dire pas trop longuement. Rassurez-vous, je ne vous parlerai ni du rôle politique ni du rôle économique de Paris; je ne serais pas pertinent. Et si je vous parle de commerce, ce sera du commerce de l’Esprit, dans lequel Paris tient un rôle capital: un rôle de Capitale, je veux dire de Métropole.

C’est sous la pluie froide et le ciel d’octobre que j’ai débarqué, un matin, à Paris. Et tout était gris, jusqu’aux monuments fameux. Quelle déception! Mais, déjà, j’avais découvert un rayon de soleil sur les visages pâles: un sourire attentif, une gentillesse que je ne devais retrouver nulle part en Europe, qui est une invitation à l’Amitié.

De fait, mes plus solides amitiés, je les ai nouées à Paris, sur les bancs du Lycée Louis-le-Grand: des amitiés de trente ans, maintenant. Eh bien! Ce sont mes amis du Lycée qui m’ont appris à connaître Paris, en l’apprenant en même temps que moi. Non pas d’une connaissance abstraite, mais vécue. Nous avons parcouru ensemble, à pied, le Paris d’entre-les-guerres: des Jardins du Luxembourg au Parc Montsouris, de Notre-Dame à Sacré-Cœur, de la Concorde à la Porte d’Auteuil et de la Bastille a la Porte dorée.

De Paris donc, j’ai connu, d’abord, les rues, en touriste curieux. Moins le Paris by night que la Capitale aux visages si divers sous la lumière du jour. Ah! cette lumière que les fumées des usines n’arrivent pas à ternir… Blonde, bleue, grise, selon les saisons, les jours, les heures, elle reste toujours fine et nuancée, éclairant arbres et pierres, animant toutes choses de l’esprit de Paris.

Paris ne se limite pas aux boulevards extérieurs. L’Ile de France, c’est encore Paris. Les collines célèbres, qui ceignent la Capitale, à distance, comme une couronne, les bois de Chevreuse et d’Ermenonville, les forêts de Chantilly et de Montmorency, les vallées de l’Oise, de la Marne, de la Seine, tous ces paysages baignent dans la même lumière, immortalisée par les plus grans peintres. Le sourire de mai et la splendeur de septembre y chantent la douceur de vivre.

Oui, pour moi, Paris, c’est d’abord cela, une ville – une symphonie de pierres – ouverte sur un paysage harmonieux d’eaux, de fleurs, de forêts et de collines. Paysage qui est paysage de l’âme, à la mesure de l’Homme. Et tout s’éclaire de la lumière de l’Esprit.

Cet esprit de Paris, exemplaire de l’esprit français, a été l’objet de ma quête durant mes années d’études. J’y ai mis une passion tout africaine; j’allais dire: toute barbare. C’est, peut-   être, une lacune, j’ai fréquenté les théâtres et les musées, les salles de concert et les salons d’art plus que les night clubs.

Et il est vrai que l’on nous offrait, souvent, des chefs-d’œuvre étrangers. C’est, précisément, un aspect de l’esprit de Paris, que cette ouverture au monde, que cette recherche de l’Autre. J’irais plus loin, cette soif insatiable de connaître, cette volonté lucide d’assimiler pour créer, voilà qui est le sceau de l’esprit de Paris, du génie français.

Ce qui le distingue et fait sa valeur exemplaire, c’est que ce génie est choix créateur. Rien ne subsiste tel qu’il s’est présenté, avec sa sève et sa démasure; tout est ramené à ses justes proportions, à sa mesure humaine. Tout y parle de l’Homme et tend à l’Homme, tout s’y accomplit comme expression de l’Esprit, qui est esprit de l’Homme.

Cependant, la plus grande leçon que j’ai reçue de Paris est moins la découverte des autres que de moi-même. En m’ouvrant aux autres, la Métropole m’a ouvert à la connaissance de moi-même. Si Paris n’est pas le plus grand musée d’art négro-africain, nulle part ailleurs l’Art nègre n’a été, à ce point, compris, commenté, exalté, assimilé. Véritablement Paris, en me révélant les valeurs de ma civilisation ancestrale, m’a obligé à les assumer et à les faire fructifier en moi. Pas seulement moi, mais toute une génération d’étudiants nègres: des antillais, comme des africains.

Du même coup, Paris nous inspirait de son esprit. Il nous invitait à faire, de ses musées comme de son enseignement universitaire, non pas des objets de délactation ou de vaines parures, mais des instruments de culture: je veux dire de libération et de progrès.

On a dit que la dimension cosmique, la dimension divine manquait à l’esprit de Paris. Je crois, plutôt, que cet esprit, sans rien rejeter, nous a appris àfaire descendre les dieux sur terre, très précisément à appliquer, à toute chose, la mesure de l’Homme: à voir clair dans le monde et en nous-mêmes, pour placer toute chose – faits, idées, sentiments – à sa juste place.

Monsieur le Président du Conseil municipal, vous me pardonnerez de n’avoir pas parlé des frivolités parisiennes, pas même de la monde ou du goût de Paris. Pour moi, ce n’est pas cela Paris.

L’esprit de Paris, ce ne sont même pas ces jeux de mots qui font les délices de l’Etranger, ces «astuces» auxquelles nous nous complaisions au Lycée Louis-le-Grand. Cette gentillesse, qui est amitié, cette curiosité, qui est connaissance, c’est, essentiellement, ce don de création qui est la marque de Paris […]



[1] Rede vor dem Conseilmunicipal von Paris am 20. April 1961, in: Senghor, Léopold Sédar, Liberté 1. Négritude et humanisme, Paris 1964, S. 312-314.

 


 
Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
Für das Themenportal verfasst von

Andreas Eckert

( 2007 )
Zitation
Andreas Eckert, Das Paris der Afrikaner und die Erfindung der Négritude, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1320>.
Navigation