Die Kollektivierung der Landwirtschaft und der Terror gegen die Kulaken

Vjaceslav Michajlovic Molotov (1890-1986) war im Jahre 1930 nicht nur Vorsitzender des Rates der Volkskommissare. Er gehörte auch dem Politbüro und dem Sekretariat des Zentralkomitees der kommunistischen Partei an. Molotovs Einfluss wuchs mit der Macht Stalins, dessen Alleinherrschaft 1930 schon nicht mehr in Zweifel stand. In der Partei galt Molotov als „Stellvertreter“ Stalins, als treuer Gefolgsmann, der sich dem Willen des Diktators bedingungslos unterwarf.[...]

Die Kollektivierung der Landwirtschaft und der Terror gegen die Kulaken[1]

Von Jörg Baberowski

Vjaceslav Michajlovic Molotov (1890-1986) war im Jahre 1930 nicht nur Vorsitzender des Rates der Volkskommissare. Er gehörte auch dem Politbüro und dem Sekretariat des Zentralkomitees der kommunistischen Partei an. Molotovs Einfluss wuchs mit der Macht Stalins, dessen Alleinherrschaft 1930 schon nicht mehr in Zweifel stand. In der Partei galt Molotov als „Stellvertreter“ Stalins, als treuer Gefolgsmann, der sich dem Willen des Diktators bedingungslos unterwarf. Molotov war die Stimme Stalins. Wo er das Wort ergriff, sprach er aus, was der Diktator ihm aufgetragen hatte.[2]So war es auch im Februar 1930, als Molotov den Parteisekretären der Sowjetrepubliken erläuterte, wie sich Stalin, der an der Versammlung teilnahm, den Vollzug der Kollektivierung in der Sowjetunion vorstellte. Die im Folgenden in Auszügen abgedruckte Rede verrät uns, wie die Täter im Zentrum der Macht verstanden, was sie anderen antaten. Es vergingen freilich mehr als 70 Jahre, bis der Archivbestand, zu dem dieses Dokument gehört, Historikern zugänglich gemacht werden sollte.

Molotovs Ansprache vor den lokalen Parteiführern im Februar 1930 fiel mit dem Beginn des Massenterrors zusammen, den das sowjetische Regime gegen die Bauern entfachte. Was in ihr gesagt wird, ist nur im Kontext des Geschehens, das sie kommentiert, verständlich. Zu Beginn des Jahres 1928, anlässlich einer Getreidebeschaffungskrise, hatten Stalin und seine radikalen Anhänger im Politbüro den Beschluss gefasst, mit Gewalt gegen Bauern vorzugehen, die Getreide zurückhielten, das der Staat für die Versorgung der Städte und für den Export benötigte. Wo Bauern sich der Getreideablieferung verweigerten, handelten sie aus ökonomischem Kalkül. Sie verkauften ihr Getreide nur jenen, die angemessene Preise zahlten. Und weil es in der Sowjetunion nur wenig Brauchbares zu kaufen gab, die staatlichen Ankaufpreise zu gering waren, zogen zahlreiche Bauern es vor, ihr Getreide auf den Schwarzmarkt zu bringen oder selbst zu verbrauchen. Stalin und seine Gefolgsleute verstanden, was ihnen aus der Provinz gemeldet wurde, als einen Versuch der Bauern, sich gegen das Regime zu erheben. Diese Rebellion musste der Staat mit überlegenen Gewaltmitteln im Keim ersticken. Daran jedenfalls ließ Stalin keinen Zweifel aufkommen.

Wo Widerstand aufschien, arbeitete der Klassenfeind. Dieser Feind war überall, er konnte, wenn die Aufmerksamkeit nachließ, auch in die Apparate des Regimes eindringen und sie von innen zerstören. Deshalb versuchten die Bolschewiki, den Kampf um das Getreide mit dem Kampf gegen vermeintliche Großbauern, die „Kulaken“, zu verbinden. Zu Beginn des Jahres 1928 reiste Stalin selbst nach Sibirien, um die lokalen Partei- und Sicherheitsorgane auf den neuen Kurs einzustimmen: Es galt nunmehr, die Bauern zu zwingen, ihr Getreide den staatlichen Beschaffungsbrigaden auszuliefern sowie die Kulaken aus den Dorfsowjets auszuschließen und sie mit ruinösen Strafsteuern zu belegen.[3]Auf diese Weise aber verschärften die Bolschewiki die Getreidebeschaffungskrise, denn die Bauern lieferten weniger, sie ernteten weniger und sie leisteten Widerstand. Aber Stalin und seine Anhänger sahen nur, was ihrer Perspektive auf das Leben entsprach. Und weil sie das eigene Bedeutungsuniversum schon nicht mehr verlassen konnten, entkamen sie ihren selbst geschaffenen Fiktionen nicht mehr: dass nämlich die Partei von bösartigen Saboteuren und Feinden umstellt war, die an der Destruktion der Sowjetunion arbeiteten. Der Kulak aber lebte nur in den Köpfen der Parteiführer, im Leben der Bauern kam er nicht vor.[4]Nur so wird die Eskalation der Gewalt gegen die Bauern verständlich, die die Rede Molotovs dokumentiert.

Die Bolschewiki regierten, aber sie übten in den Dörfern der Sowjetunion keine Macht aus, weil es ihnen an Übermittlern ihrer Vorstellungen fehlte. Im Dorf blieben die Bolschewiki ohne Einfluss. Sie waren sprachlos und ohnmächtig. So aber konnte sich das Regime weder in den Besitz des Getreides bringen noch konnte es die Bauern „zivilisieren“ und der neuen Ordnung unterwerfen.[5]Diesem Zweck sollte die Kolchose dienen. Sie ermöglichte es dem Regime, sich die Ernte der Bauern anzueignen und die Dorfbewohner unter ständige staatliche Kontrolle zu stellen. Die Idee, die Bauern zu enteignen und in Kollektivwirtschaften einzusperren, kam 1928 auf. Stalin setzte die lokalen Parteiführer unter Druck und zwang sie in einen Wettbewerb um die Beschaffung von Getreide und die Einrichtung von Kolchosen. Was 1929 begonnen hatte, eskalierte zu Beginn 1930, als aus den Städten entsandte Arbeiterbrigaden und Kommunisten die Dörfer überfielen und die Bauern enteigneten. Die Kollektivierungsquoten erreichten schwindelnde Höhen, wenngleich, was als Kollektivierung ausgegeben wurde, anfangs kaum mehr war als eine „wilde“ Enteignungs- und Terrorkampagne, die sich nur durch die Anwesenheit der städtischen Kommunisten und GPU-Truppen am Leben erhielt. Die Bauern empfanden, was das Regime ihnen antat, als Wiederkehr des Antichristen und Strafe Gottes. Sie schlachteten ihr Vieh, verbrannten ihre Ernte, sie flohen zu Hunderttausenden aus den Dörfern in die Städte, und wo sie blieben, leisteten sie Widerstand. In manchen Regionen, wie in Sibirien, in der Ukraine und im Kaukasus, brach die Staatsgewalt zusammen. Im März 1930, also kurz nach Molotovs Brandrede, stand das Regime mit dem Rücken zur Wand.[6]

Stalin und seine Helfer sahen im bäuerlichen Widerstand eine Bestätigung ihrer Wahnvorstellungen von einer „sozial verunreinigten“ Umwelt. Für sie reflektierten die Aufstandsbewegungen nicht nur die Unzufriedenheit der Bauern. Aus der Rebellion sprach die Sprache des Feindes. Dieser Feind war in Kollektiven organisiert, und deshalb konnte er auch nur kollektiv beseitigt werden. So kam es, dass die Bolschewiki die Kollektivierung mit der Vernichtung sozialer Kollektive verbanden. Im November 1929 hatte Molotov auf einer Plenarsitzung des Zentralkomitees erklärt, Kulaken müssten als „bösartige Feinde“ aus den Kolchosen ausgeschlossen werden.[7]Im Dezember kam es zu einer weiteren Eskalation, als Stalin öffentlich erklärte, es komme nunmehr darauf an, die Kulaken als Klasse zu „liquidieren“. Stalins Terrorbefehl blieb nicht ohne Folgen. Am 30. Januar 1930 schon versandte das Politbüro einen „geheimen Beschluß“, in dem es den lokalen Parteikomitees mitteilte, wie mit den registrierten Kulaken zu verfahren sei. Konterrevolutionäre und Bauern, die aktiven Widerstand gegen die Kollektivierung geleistet hätten, müssten in Konzentrationslager eingewiesen oder erschossen, alle übrigen Kulaken sollten verhaftet und nach Sibirien oder Zentralasien deportiert werden. Bis Ende Mai 1930 seien 60.000 Bauern in Konzentrationslager einzuweisen, 150.000 seien zu deportieren, wie das Politbüro in seinem Beschluss präzisierte. Dabei stand es im Ermessen der lokalen Dienststellen, selbst zu entscheiden, wer zu verhaften, wer zu erschießen und wer zu verbannen sei.[8]

Das Regime beauftragte sogenannte Arbeiterbrigaden, die aus den Städten in die Dörfer entsandt wurden, das dringend benötigte Getreide zu beschaffen. Darüber hinaus oblag diesen Brigaden, die Kulaken zu verhaften und auszusiedeln. Mehr als 25.000 solcher Aktivisten hielten sich Anfang 1930 in den Dörfern der Sowjetunion auf, zumeist junge, fanatisierte Arbeiter-Kommunisten und Komsomolzen, die die Bauern mitleidlos terrorisierten.[9]Stalin aber gab sich mit der Eigeninitiative lokaler Aktivisten nicht zufrieden. Er entsandte seine wichtigsten Gefolgsleute aus dem Politbüro in die Provinzen, damit sie überprüften, ob die Beschlüsse des Zentrums auch wirklich ausgeführt wurden. Mitte Februar 1930 wurden die Parteiführer der Republiken und Gebiete nach Moskau gerufen, wo Molotov sie aufforderte, den Terror gegen Kulaken und Feinde der Sowjetmacht zu verschärfen.

Molotov war, darin glich er Stalin, ein skrupelloser Gewalttäter, der, was er anderen antat, nicht nur als reinigendes Gewitter verstand, das die Gesellschaft von ihren Feinden erlöste. Gewalt und Terror gehörten für ihn zur Essenz des bolschewistischen Herrschaftsstils. Hier sprach kein kühler Technokrat, sondern ein Terrorist, der „Schweinehunde“ in den Apparaten erschießen und Kulaken in Flüssen ersäufen lassen wollte. Wer dem Terror vorgriff, der Führung entgegenarbeitete und dem Zentrum maßlose Vorschläge unterbreitete, wie die Mitglieder des Gebietsparteikomitees im Nordkaukasus, durfte mit seiner Zustimmung rechnen. „Für den Anfang ist das schon mal was“, und was immer die lokalen Parteikomitees sich in dieser Frage ausdächten, werde im Zentrum „begrüßt“, so kommentierte Molotov den vorauseilenden Gehorsam der Genossen aus dem Kaukasus.[10] Es waren diese Signale, die die Partei- und Sicherheitsorgane in den Provinzen dazu veranlassten, maßlosen Terror gegen die Bauern auszuüben.

Die Verschickung der Kulaken folgte keiner ökonomischen Rationalität. Molotov selbst räumte ein, dass das Politbüro nicht wisse, was mit den Deportierten geschehen solle. Für ihn schien der Zweck erfüllt, wenn die Kolchosen von ihren Feinden befreit, wenn die Funktionäre in den Apparaten und in den Dorfsowjets in Furcht und Schrecken versetzt wurden. Stalin und Molotov kam es darauf an, die Lebensweise der Bauern, das Russland der „Ikonen und Kakerlaken“, wie Lev Trockij es einst genannt hatte, für immer zu zerstören. Die in den Dörfern zurückgebliebenen Bauernfamilien wurden nicht nur in Kolchosen eingesperrt und an die Scholle gebunden. Man wollte sie brechen und „zersetzen“. Diesem Zweck ordneten die führenden Bolschewiki alle übrigen Erwägungen unter.

Molotov litt nicht an Gewissensqualen. Zwar warnte er die Zuhörer am Ende seiner Ansprache davor, auszuplaudern, was das Politbüro beschlossen habe. Aber diese Geheimhaltung stand nicht im Dienst des Gewissens. Was in der Parteiführung beschlossen wurde, musste exklusives Wissen bleiben. Denn jenseits der Partei herrschte der Feind. Die Loyalität der Stalinschen Gefolgschaft beruhte darauf, dass sie Geheimnisse mit dem Führer teilte und dass sie über ein Wissen verfügte, in dessen Besitz sonst niemand gelangen konnte.

Molotov sah auch vierzig Jahre später, als er mit dem Journalisten Feliks Cuev über seine Rolle in der Stalin-Zeit sprach, keinen Grund, warum er sich von den Terrorbefehlen der Vergangenheit distanzieren sollte. Er urteilte über die Ausweisung der Kulaken in den 1970er Jahren nicht anders als er es 1930 getan hatte. Für ihn war solcher Terror eine historisch notwendige Tat.[11]Was Molotov im Februar 1930 zum Vortrag brachte, war eine Repräsentation der totalitären Versuchung des 20. Jahrhunderts. In ihr verband sich das Streben nach eindeutigen, „europäischen“ Ordnungen mit dem Wahn, es müssten feindliche Kollektive vernichtet werden, die sich in diese Ordnungen nicht einfügen ließen. Deshalb führte die Vorstellung vom Staat als Gärtner unter sowjetischen Bedingungen in den Massenterror.[12]



[1] Essay zur Quelle Nr. 5.2, Rede Molotovs vor einer Versammlung von Parteichefs der Republiken und Gebiete der Sowjetunion in Moskau am 11. Februar 1930.

[2] Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Stalin und Molotov und die Erinnerung von Stalins Sekretär Boris Bažanov: Lih, Lars; Naumow, Oleg; Chlewnjuk, Oleg (Hg.), Stalin. Briefe an Molotov. 1925-1936, Berlin 1996; Basanov, Boris, Ich war Stalins Sekretär, Frankfurt am Main 1977.

[3] Hughes, James R., Stalin, Siberia and the crisis of the New Economic Policy, Cambridge 1991; Ders., Stalinism in a Russian province. Collectivization and dekulakization in Siberia, London 1996.

[4] Lewin, Moshe, Who was the Soviet Kulak?, in: Ders., The Making of the Soviet System. Essays in the Social History of Interwar Russia, New York 1985, S. 121-141; Altrichter, Helmut, Die Bauern von Tver. Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung, München 1984; Wehner, Markus, Bauernpolitik im proletarischen Staat. Die Bauernfrage als zentrales Problem der sowjetischen Innenpolitik 1921-1928, Köln 1998.

[5] Pethybridge, Roger, One step backwards, Two steps forward. Soviet society and politics under the New Economic Policy, Oxford 1990.

[6] Tragedija sovetskoj derevni. Kollektivizacija i raskulacivanie. Dokumenty i materialy, 5 Bde., Moskau 1999-2004, hier Bd. 2, Moskau 2000; Ivnickij, Nikolaj A., Kollektivizacija i raskulacivanie (nacalo 30-ch godov), Moskau 1996; Viola, Lynne, Peasant rebels under Stalin. Collectivization and the culture of peasant resistance, Oxford 1996; Baberowski, Jörg, Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München 2003, S. 691-721.

[7] Plenum CK VKP (B) 10-17 nojabrja 1929 g., in: Kak lomali NEP. Stenogrammy plenumov CK VKP(B) 1928-1929, Bd. 5, Moskau 2000, S. 373.

[8] RGASPI, Bestand 17, Findbuch 162 (osobaja papka), Akte 8, Blatt 64-69; Tragedija (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 163-167; Baberowski, Jörg, Stalinismus „von oben“. Kulakendeportationen in der Sowjetunion 1929-1933, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 46 (1998), S. 572-595.

[9] Kopelew, Lew, Und schuf mir einen Götzen. Lehrjahre eines Kommunisten, 2. Aufl., München 1981, S. 289-337 (Komsomol = Kommunistischer Jugendverband).

[10] RGASPI, Bestand 82, Findbuch 2, Akte 60, Blatt 152-153.

[11] Cuev, Feliks, Sto sorok besed s Molotovym. Iz dnevnika F. Cueva, Moskau 1991.

[12] Bauman, Zygmunt, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt am Main 1995, S. 29-30, 61.

 


Literaturhinweise:
  • Baberowski, Jörg, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, 2. Aufl., München 2004
  • Fitzpatrick, Stalin´s peasants. Resistance and survival in the Russian village after collectivization, Oxford 1994
  • Lih, Lars; Naumow, Oleg; Chlewnjuk, Oleg (Hg.), Stalin. Briefe an Molotov. 1925-1936, Berlin 1996
  • Tragedija sovetskoj derevni. Kollektivizacija i raskulacivanie. Dokumenty i materialy, 5 Bde., Moskau 1999-2004
  • Viola, Lynne, Peasant rebels under Stalin. Collectivization and the culture of peasant resistance, Oxford 1996

Molotov, Vjaceslav Michajlovic: Rede vor einer Versammlung von Parteichefs der Republiken und Gebiete der Sowjetunion (Moskau, 11. Februar 1930)[1]

[...] Und so stehen die Räte vor neuen Aufgaben im Dorf. Diese Aufgaben ergeben sich aus der sich entfaltenden sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft. Damit sind auch gewaltige Aufgaben der Umgestaltung der gesamten bäuerlichen Lebensweise verbunden. Die Verwirklichung der neuen Aufgaben ist nur dann möglich, wenn ein beharrlicher und erbarmungsloser Kampf gegen das Kulakentum geführt wird. Die Vertreibung aller und jeglicher Personen aus den Räten, die den Kulaken nach dem Munde reden, steht derzeit in den Räten im Dorf in besonderer Schärfe an. Zugleich werden die Räte im Dorf mit ihren Aufgaben nur auf der Grundlage des Zusammenschlusses des Kerns der einfachen Bauernschaft und der Landarbeiter, und nur auf der Grundlage intensiven Bemühens um die Organisation der Dorfarmut fertig werden. Und es kann jetzt für die Räte keine andere Aufgabe wichtiger sein als der Zusammenhalt der Landarbeiter und der armen Bauern in den Räten, um auf dieser Grundlage die proletarische Führung der Kolchosbewegung zu stärken. Und nur der Rückhalt der Dorfarmut und das Bündnis mit den Mittelbauern ermöglichen den Räten schnelle und entschlossene Erfolge im Kampf gegen das Kulakentum, indem es die Zerschlagung des Kulakentums für alle Zeiten ermöglicht. Unter der Losung „mit dem Gesicht zur Kolchose gewandt“ beginnen wir eine bis an die Wurzel gehende Umstrukturierung der Arbeit und eine Erneuerung der Räte.Die zu Tausenden und Abertausenden ins Dorf entsandten Arbeiter sollen die aktivsten Teilnehmer des Umbaus der Arbeit in den Räten werden. Fünfundzwanzigtausend fortschrittliche Proletarier spielen im Dorf eine gewaltige Rolle bei der Zusammenführung der armen Bauern und der Landarbeiter im Dorf, beim Aufbau eines Kerns von armen Bauern und Landarbeitern in den Räten und bei der Festigung des Bündnisses mit dem Mittelbauern. Aus den besten Proletarier-Aktivisten, aus dem Kern der armen Bauern und Landarbeitern, aus den fortschrittlichen Kolchosbauern sollten neue Räte im Dorf gewählt werden.

[...] Und wir gehen an der Spitze und erst das wird die Räte wirklich umgestalten. Das wird eine neue Kampagne zur Neuwahl der Räte werden. Das ist es, was wir brauchen. Wir schieben die Frage über den Umbau unserer Organe der Sowjetmacht nicht auf. Habt ihr etwa vergessen, dass wir schon seit mehr als einem Jahr die zentrale Frage über den Kampf mit dem Bürokratismus im Zentralapparat hinausposaunen. Und gibt es etwa in den Dorfsowjets keinen Bürokratismus? Warum führen wir also im Zentrum den Kampf gegen den Bürokratismus, und warum wird er in den unteren Sowjetapparaten nicht geführt? Unsere zentrale Aufgabe besteht in der Verbesserung des Sowjetapparates. Schreien wir denn etwa nutzlos herum? Nein, nicht nutzlos! Wozu haben wir denn Arbeiterbrigaden für den Kampf gegen den Bürokratismus geschaffen, wozu schaffen wir denn Arbeiterbrigaden zum Eintreiben der Rückstände? Warum vertrauen wir das denn nicht unseren Finanzbehörden an? Weil unsere Finanzbehörden verdreckt sind vom Bürokratismus, von Veruntreuungen, von jeglichen bourgeoisen und kleinbürgerlichen Demoralisierungen und wir sie da herausreißen müssen. Aber haben wir denn nicht schon begonnen mit dieser Sache, beschäftigen wir uns denn nicht damit? Ja, wir beschäftigen uns damit. Wofür haben wir die Astrachaner erschossen? Um zu zeigen, dass diese Schweinehunde, die unseren Apparat zerlegen, die ihn mit ihrem bourgeoisen und kleinbürgerlichen Bürokratismus anstecken, dass wir ihnen einen auf den Schädel hauen, dass wir sie jetzt erschießen und auch weiterhin erschießen werden. Und nicht nur im Dorf, sondern auch in der Stadt werden wir diesen Kampf führen.

[...] Jetzt die Frage hinsichtlich des Kulaken [...]Wir haben da eine Kommission ernannt. Diese Frage ist von außerordentlicher Wichtigkeit. Wir haben eine Kommission ernannt, welche diese Fragen praktisch ausarbeiten muss. Wir bringen das vor das Politbüro. Mit einzelnen Genossen hatten wir eine Besprechung. Insbesondere Genosse Stalin ist darüber im Bilde. Die Rede ist da von einem Dreiergespann (trojka): die Genossen Kaganovic, Stalin und ich, wir haben uns über die Bildung einer „Kulaken“-Kommission abgesprochen. (Gelächter). Das ist eine außerordentlich wichtige Frage. Wer glaubt, dass einzig auf der Grundlage einer Resolution diese Sache als beendet angesehen werden kann, der ist schon ein komischer Kauz (cudak). Das ist eine langfristige Sache. Und es ist auch klar, dass es einfach zu wenig ist, in dieser Sache nur eine Linie durchzuführen.

Welche Maßnahmen zu ergreifen sind? Ich sagen es ihnen im Vertrauen. Als mich auf dem November-Plenum[2]einzelne Genossen gefragt haben, was mit den Kulaken werden soll, da habe ich gesagt: ‚Wenn es ein geeignetes Flüsschen gibt, dann ertränkt sie.’ Aber nicht überall gibt es ein Flüsschen, das heißt, dass die Antwort unzureichend ist. Aber von daher wird klar: man muss sie vernichten. Da sind viele Schädel zu zählen. Da sind wirklich genug Schädel zu zählen, wenn sie so wollen, so viele, dass selbst das ZKK die Norm dafür nicht festlegen kann. Hier sind selbst Normen zuwenig. Wir werden all das begrüßen, was man sich an den Orten Nützliches dazu ausdenkt. [...] Aber natürlich ist es unmöglich, diese Aufgabe einzig allein nur am Ort zu lösen. Mir scheint, dass es außer jeglichem Zweifel steht, dass wir ohne administrative Maßnahmen nicht auskommen werden und dass wir wohl auch erschießen müssen. (Zuruf: aussiedeln!). Die erste Kategorie: erschießen, die zweite Kategorie: aussiedeln. Ich muss anmerken, dass es einen Beschluss des heute so schweigsamen Nordkaukasus gibt. Sie haben uns um Erlaubnis gebeten, zwanzigtausend Kulaken auszusiedeln. Dieser Vorschlag verdient Aufmerksamkeit. Für den Anfang ist das schon mal was. Wir können ja wahrscheinlich nicht alles auf einmal machen. Hier muss man noch die Frage entscheiden, wohin wir sie aussiedeln, wie viele und an welche Orte. (Kaganovic: Unter Umständen kann es sehr schwierig werden, einen solchen Bezirk zu finden, wohin man die ganzen Kulaken aussiedeln kann.) Wir werden ihn finden. Aber es ist offensichtlich, dass wir gezwungen sind, ordentliche Repressionsmaßnahmen anzuwenden. Um die Aussiedlung einer ordentlichen Anzahl von Personen an die unterschiedlichsten Ecken kommen wir nicht herum. Wo sollen wir sie hinschicken? (Zuruf: zu Ejche[3]). In Konzentrationslager, und wenn sie bei Ejche sind, dann zu Ejche. Wir müssen uns überlegen, zu welchen Arbeiten wir sie verschicken, vielleicht zur Holzbeschaffung, vielleicht kann man sie in unberührte Gebiete schicken, um Neuland urbar zu machen. Vielleicht müssen wir aber auch Sovchosen mit den Kulaken organisieren. Macht ja nichts, stellen wir ein paar Kommunisten an die Spitze der Sovchosen und dann werden sie arbeiten. Das können wir nicht ausschließen. Alle siedelst du nicht aus. Hier müssen wir auch um das Dorf herum noch etwas bewegen. Hier muss man die Familien zersetzen, politisch zersetzen. Da wird es diesen Frühling einen wütenden Kampf geben. Wer das bis jetzt noch nicht kapiert hat, der wird es dann spätestens an seiner eigenen Haut spüren.

[...] Es geht darum, dass am 30. Januar die Anordnung des ZK über die Liquidierung der Kulakenhöfe in den Rayons der Totalkollektivierung angenommen worden ist. Wissen die anwesenden Genossen von dieser Anordnung, haben Sie sie gelesen? Alle schweigen, das bedeutet, Sie haben sie gelesen. [...]

[...] Ich muss Sie warnen, Genossen. Der Beschluss vom 30. Januar ist ein geheimer Beschluss. Wir haben ihn nicht weit verbreitet, wir haben ihnen diese Beschlüsse zugeschickt, damit Sie sie an das ZK zurückgeben, damit sie nicht verbreitet werden können und damit die Maßnahmen, die wir durchgeführt haben und die wir durchführen, nicht vor unseren Feinden aufgedeckt werden, weil es hier sehr viele wichtige und komplizierte Sachen gibt und wir unsere Feinde darüber nicht offen informieren dürfen. [...]Ich muss Sie warnen, dass mir die Genossen auf keinen Fall etwas aus diesem Beschluss ausplaudern, umso mehr wir vorher auch Klartext gesprochen haben. Das ist eine völlig unzulässige Sache und ich bitte die Genossen auch nach der gegenwärtigen Besprechung so zu verfahren. Das, was in dieser Besprechung entschieden wird, wird sich ganz offensichtlich auch unter den Geheimbeschlüssen befinden. Unsere Maßnahmen müssen aufs Äußerste gut organisiert und ohne große Verlautbarung unserer Entscheidungen durchgeführt werden. Die Sache ist äußerst mühevoll und schwierig. Ich warne die Genossen erneut vor der Verletzung der unbedingten Geheimhaltungspflicht der Ergebnisse dieser Besprechung. [...]



[1] Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-Politiceskoj Istorii Moskva (RGASPI), Bestand 82, Findbuch 2, Akte 60, Rede V. M. Molotovs vor einer Versammlung von Parteichefs der Republiken und Gebiete der Sowjetunion in Moskau am 11. Februar 1930; die abgedruckten Auszüge betreffen die Blätter 129-130, 134, 139-141, 152-153. Aus dem Russischen von Jörg Baberowski.

[2] Molotov bezieht sich auf das Plenum des Zentralkomitees vom 10.-17. November 1929.

[3] Robert Ejche war zu jener Zeit Erster Sekretär des Gebietsparteikomitees von Westsibirien und Mitglied des Zentralkomitees.

 


Russisches Original der Quelle:
 
Zugehöriger Essay:
Jörg Baberowski: Die Kollektivierung der Landwirtschaft und der Terror gegen die Kulaken
Dieser Essay ist ab November 2007 im Themenportal Europäische Geschichte verfügbar.
Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.

Molotov, Vjaceslav Michajlovic: Речь перед собранием партийных лидеров республик и областей Советского Союза. Москва, 11 февраля 1930 [1]


[1] Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-Politiceskoj Istorii Moskva (RGASPI), Bestand 82, Findbuch 2, Akte 60, Auszüge betreffen die Blätter 129-130, 134, 139-141, 152-153.


 
Zugehöriger Essay:
Jörg Baberowski: Die Kollektivierung der Landwirtschaft und der Terror gegen die Kulaken
Dieser Essay ist ab November 2007 im Themenportal Europäische Geschichte verfügbar.
Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
Für das Themenportal verfasst von

Jörg Baberowski

( 2007 )
Zitation
Jörg Baberowski, Die Kollektivierung der Landwirtschaft und der Terror gegen die Kulaken, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1311>.
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