Max Sering, Rede auf dem Internationalen Landwirtschaftskongress (Budapest, 17.-20. September 1896); [Auszüge]

Gestatten Sie mir […], auf die mannigfaltigen Einflüsse hinzuweisen, unter denen die Getreidepreisbildung seit zwei Jahrzehnten, seit dem Beginne der heutigen Depression gestanden hat. Am greifbarsten tritt die Wirksamkeit der entwickelten Verkehrstechnik zu Tage, ein Moment, von dem hier noch kaum die Rede gewesen ist. Es handelt sich dabei allerdings nicht blos um die Verbilligung des Land- und Wassertransportes. Während z.B. von 1871/75 bis 1891/94 die Fracht für die Tonne Weizen von Chicago nach Liverpool oder Hamburg um 40 M[ar]k zurückging, sank der Durchschnittspreis für amerikanischen Weizen an diesen Orten um mehr als 90 M[ar]k. [...]

Max Sering, Rede auf dem Internationalen Landwirtschaftskongress (Budapest, 17.-20. September 1896); [Auszüge] [1]

[Früherer Titel der Quelle: Rede auf dem Internationalen Landwirtschaftskongress 1896 in Budapest]

Prof. Dr. Max Sering (Berlin): […] Gestatten Sie mir […], auf die mannigfaltigen Einflüsse hinzuweisen, unter denen die Getreidepreisbildung seit zwei Jahrzehnten, seit dem Beginne der heutigen Depression gestanden hat.

Am greifbarsten tritt die Wirksamkeit der entwickelten Verkehrstechnik zu Tage, ein Moment, von dem hier noch kaum die Rede gewesen ist. Es handelt sich dabei allerdings nicht blos um die Verbilligung des Land- und Wassertransportes. Während z.B. von 1871/75 bis 1891/94 die Fracht für die Tonne Weizen von Chicago nach Liverpool oder Hamburg um 40 M[ar]k zurückging, sank der Durchschnittspreis für amerikanischen Weizen an diesen Orten um mehr als 90 M[ar]k. Die Preise sind sehr viel stärker gesunken, als die Frachten von der Peripherie des Getreidebaues nach den Centren des Getreidekonsums. Wäre dies nicht der Fall gewesen, so würden die exportirenden Länder ihrerseits nicht unter irgendwelchem Preisdruck zu leiden haben, thatsächlich aber stehen auch sie inmitten einer schweren Preiskrisis.

Was die Getreidepreise weit über die Frachtermässigung hinaus gesenkt hat, war zunächst die Thatsache, dass mit der Ausdehnung des Eisenbahnnetzes die grossartigste Kolonisation verknüpft war, welche die Weltgeschichte kennt, nämlich die Kolonisation von Nordamerika. Unter dem beherrschenden Einfluss dieses historischen Vorganges steht diejenige Periode unserer Preisgeschichte, welche ich in erster Linie ins Auge fasse und die etwa von 1875 bis zum Ende der ersten Hälfte der 80-er Jahre gedauert hat. […] [S. 119]

So ist es gekommen, dass in der Zeit von 1850-1880 das Farmland der Vereinigten Staaten sich erweiterte von 118 Millionen Hektar auf 217 Millionen; davon entfiel die grössere Hälfte auf das Jahrzehnt 1870-1880. Die Weizenausfuhr steigerte sich 1870-1880 auf das Dreifache, die Weizenproduktion per Kopf der Bevölkerung von 120 Kilogramm im Jahre 1850 auf 250 im Jahre 1880.

Kurz, es war eine Bewegung von fast elementarer Gewalt, welche damals eine ungeheure Erweiterung der Getreideproduktion hervorbrachte. Diese Erweiterung stand in keinerlei Beziehungen zu den Bedürfnissen des Getreidemarktes. Eine echte Ueberproduktion ist gar nicht hinwegzuleugnen – für jene Zeit; d.h. es wurden Weizenmengen auf den Markt geworfen, welche schlechterdings nach den bestehenden Konsumtions- und Einkommensverhältnissen nicht aufgenommen werden konnten. Unverkäufliches Getreide staute sich in allen Speichern auf und drückte die Preise tief herab. Also eine echte Ueberproduktion, hervorgerufen durch die rapide Besiedelung Nordamerikas, hat die Preiskrisis zum Ausbruch gebracht.

Indessen änderten sich die Verhältnisse. […] Der Farmer des Westens ist wegen der Einseitigkeit seiner Wirthschaft in viel höherem Grade als der europäische Bauer auf den Absatz seiner Erzeugnisse angewiesen. […] Dazu kommt der bedeutende Aufwand, den der amerikanische Farmer für die Erziehung seiner Kinder, den Komfort seines Hauses, für Kulturzwecke und in Form von Abgaben für öffentliche Schulbauten, Wegebauten etc. zu machen hat.

Aus alledem ergiebt sich, dass die amerikanische Landwirthschaft gegen jeden Preisdruck überaus empfindlich ist. Die niedrigen Getreidepreise brachten in den 80-er Jahren eine heftige Agrarkrisis nicht blos in Europa, sondern auch in Nordamerika zum Ausbruch. […]

Der Anbau von Weizen hatte in den Vereinigten Staaten seine höchste Ausdehnung erreicht 1884; […] Als ich i[m] J[ahr] 1893 zum zweiten Mal den amerikanischen Westen bereiste, traten mir alle Anzeichen eines traurigen Darniederliegens der Landwirthschaft entgegen.

Ebenso nun wie in den Vereinigten Staaten ist die Ausbreitung des Brodgetreidebaus auch in anderen Ländern ins Stocken geraten. […]

Ebenso ist die australische Konkurrenz neuerdings zurückgetreten. Nur in Argentinien hat die rapideste Ausdehnungsbewegung bis in die letzten Jahre fortgedauert. […]

Auf der anderen Seite ist nun aber die sehr rasche Vermehrung der Bevölkerung und damit des Brodbedarfs in Betracht zu ziehen. In den europäischen Importländern westlich von der ungarischen und der russischen Westgrenze wächst sie um etwa zwei Millionen Köpfe im Jahr; rechnet man dazu die Vermehrungsrate von Mittel- und Nordamerika mit ca 1,8 Mill[ionen] Köpfen, so ergiebt sich, dass in der Hauptmasse der Länder europäischer Kultur jährlich etwa vier Millionen Menschen mehr mit Brod versorgt werden müssen. Es bedarf schon eines sehr rasch steigenden Angebots von Nahrungsmitteln, wenn es mit der Nachfrage fortdauernd Schritt halten soll. […] Die Produktion wächst nicht mehr rascher als die Bevölkerung. Das fortgesetzte Sinken der Preise ist also aus den blossen Quantitätsverhältnissen, aus dem Verhältnis von Vorrath und Bedarf nicht ausreichend zu erklären. […]

Meines Erachtens muss jede Erklärung der Preisbewegung davon ausgehen, dass die ganze Mechanik der Preisbildung für die Bodenerzeugnisse sich in neuerer Zeit verändert hat. Wir alle kennen von der Universität her die schöne Theorie, die auf die früheren Verhältnisse zugeschnitten war, wonach der Preis für Bodenprodukte und deshalb auch die Grundrente die Tendenz hatte, fortgesetzt zu steigen. Die Lehre beruht auf der Beobachtung, dass die Versorgung der anwachsenden Bevölkerung in voll besiedelten Ländern zur Zeit der Entstehung jener Theorie, also in voreisenbahnlicher Zeit immer nur mit gesteigerten Kosten möglich war. […] So lautete die alte Theorie, die den Thatsachen abgelauscht war. Aber in der Gegenwart trifft sie nicht mehr zu. […]

Diejenigen Kräfte aber, welche seit dem Ausbruch der Krisis die Preise immer tiefer herabgedrückt haben, ohne dass schliesslich eine sonderliche Steigerung der Gesammtproduktion stattgefunden hätte, treten vor Allem in der Thatsache zu Tage, dass sich der Schwerpunkt der Getreide-Erzeugung immer weiter nach der Peripherie des Getreidebaues verschoben hat. […] Es ist also die Konkurrenz der billig liefernden Gebiete, auf die der Preisdruck in erster Linie zurückzuführen ist; von der Konkurrenz sollte man also sprechen, statt den unklaren und falsche Vorstellungen erwirkenden Ausdruck Überproduktion zu verwenden. Die Getreidepreise werden heute, wie die Preise für die Massenprodukte der Industrie, durch die Produktionskosten derjenigen Produktionsgebiete bestimmt, die am billigsten zu liefern vermögen. […]

Nicht der reale Produktionsaufwand ist heute entscheidend für den Weltmarktpreis, welchen eine Farmerschaft von so hohen Kulturbedürfnissen wie die nordamerikanische übrigens bei Anwendung der raffinirtesten Technik machen muss, um eine menschenwürdige Existenz zu führen, sondern der Preis zu dem der Handel in Ländern auf niedrigster Kulturstufe dem Produzenten das Getreide abzunehmen vermag. Nicht die nordamerikanische Konkurrenz ist die Gefahr, sondern die russische und argentinische. Der russische Bauersmann steht bekanntlich unter einem furchtbaren Wucherdruck und giebt nicht selten sein letztes Korn fort, um die Schuldzinsen und Steuern zu decken. Der Konsum von Getreide ist im Rückgang begriffen, und die bedeutende Ausfuhr Russlands kommt zum grossen Theil auf Kosten der Lebenshaltung seiner Landbevölkerung zu stande. […] Ist nach dem allen der Hauptgrund für den jetzigen Stand der Getreidepreise in der kapitalistischen Ausbeutung des bedürfnislosen und widerstandsunfähigen Landvolks von Russland und Südamerika zu erblicken, so erscheint deren unbehinderte Konkurrenz geeignet, die Lebenshaltung der mittel- und westeuropäischen Landwirthe soweit sie auf den Getreidebau angewiesen sind, dem Kulturniveau jener armseligen Bevölkerungen stark anzunähern. Die Gefahr ist um so grösser, als zur Zeit der aufsteigenden Konjunktur unser Boden mit schweren Schuldverpflichtungen belastet worden ist.

Blicken wir in die Zukunft, so ist anzunehmen, dass die Preise wieder eine dauernd steigende Tendenz gewinnen werden, erst von dem Zeitpunkte an, wo die Besiedelung der gemässigten Zone in der Hauptsache abgeschlossen und sie in allen ihren Theilen dem Weltverkehr eingegliedert sein wird. […] Von dem ‚nahenden Ende der landwirthschaftlichen Konkurrenz’, das noch im Jahre 1894 verkündet worden ist, kann gar keine Rede sein. Bis zu jenem Zeitpunkt würde, abgesehen von ungünstigen Erntejahren, eine Besserung der Weltmarktspreise nur durch eine finanzpolitische und kulturelle Umwälzung in den wichtigsten Konkurrenzländern zu erwarten sein, deren Eintritt in keiner Weise abzusehen ist. […] [S. 121-128]


[1] Rede auf dem Internationalen Landwirtschaftskongress 1896 in Budapest, in: Congrès International d'Agriculture tenu à Budapest du 17 au 20 septembre 1896. Comptes-Rendus/Nemzetközi Gazdakongresszus Tartatott Budapesten, 1896. Évi Szeptember 17-20. Napjain. Föjelentés, Budapest 1897, S. 119-128, die Auszüge: S. 119, S. 121-128. Hervorhebungen im Original.

Landwirtschaft im Spannungsfeld von Nationalisierung und Globalisierung. Internationaler Getreidehandel und Agrarkrisen in Westeuropa, 1850-1914[1]

Von Rita Aldenhoff-Hübinger

Globalisierung als wirtschaftlicher Prozess ist gekennzeichnet durch die weltweite Integration der Märkte von Waren und Dienstleistungen, von Kapital und von Arbeitskräften. Dagegen formieren sich gesellschaftliche Bewegungen, auch kommt es zu staatlichen Gegenmaßnahmen. Im Unterschied zu diesen als wirtschaftsnationalistisch zu bezeichnenden Bewegungen und Maßnahmen werden aber auch erhebliche gesellschaftliche und wirtschaftliche Anstrengungen unternommen, der internationalen Konkurrenzsituation nicht durch Abschottung der Märkte, sondern durch Innovationen, Produktivitätssteigerungen und Rationalisierungen aus eigener Kraft standzuhalten. Die Globalisierung ist, historisch gesehen, kein unbekanntes Phänomen. Bereits von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg gab es eine erste Phase oder Welle.[2] Stehen heute viele Zweige der industriellen Produktion in Europa unter hohem Konkurrenzdruck und Rationalisierungszwang, so war es im 19. Jahrhundert der Agrarsektor, der besonders betroffen war. Über Ursachen, Folgen und mögliche Reaktionen wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts lebhaft auf großen internationalen Agrarkongressen debattiert. Auf dem Landwirtschaftskongress in Budapest 1896 war es der deutsche Agrarwissenschaftler und Nationalökonom Max Sering, der den Zusammenhang von Globalisierung, Preiskonvergenz und Preisverfall bei dem am häufigsten international gehandelten Agrarprodukt, dem Getreide, erörterte. Seine Ausführungen von 1896, die hier als Quelle ausgewählt werden, haben nicht an Aktualität verloren.

Im Zuge der Industrialisierung ging der Anteil der Bevölkerung, der in und von der Landwirtschaft lebte, kontinuierlich zurück. Ab 1900 fanden z.B. in Deutschland mehr Beschäftigte in der Industrie und im Dienstleistungssektor ihr Auskommen als in der Landwirtschaft. Das, was uns heute, wo nur noch wenige Prozent der Erwerbsbevölkerung im Agrarsektor tätig sind, als selbstverständlich erscheint, wurde von den Zeitgenossen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Erste von dieser Umstrukturierung betroffen waren, als Existenz bedrohender Strukturwandel empfunden. Die zunehmende internationale Verflechtung des Handels führte auch zum Auftreten neuer Agrarexportländer auf dem europäischen Markt: Nordamerika, Südamerika, besonders Argentinien, Britisch-Ostindien und Russland. Ermöglicht wurden die Agrarexporte, vor allem von Getreide – aus Argentinien auch von Fleisch und Vieh – durch die Aufsiedelung und verkehrsmäßige Erschließung dieser Länder. Nordamerika spielte hierbei eine besondere Rolle. Nach dem Ende des Sezessionskriegs begann mit dem Zug nach Westen die Besiedelung eines ganzen Kontinents, flankiert von einer die „Farmer“ begünstigenden Gesetzgebung wie den homestead laws, die den kleinen Besitz vor Zwangsvollstreckung schützten.[3] Der Ausbau der Eisenbahn und der Einsatz von Dampf- und Kühlschiffen sorgten für schnellere und bessere Transportbedingungen mit stetig fallenden Transportkosten. Die Telegrafie beschleunigte den Datenaustausch und die internationale Preisbildung. Der in Liverpool, dem größten europäischen Importhafen für überseeisches Getreide notierte Importpreis für Weizen bewegte sich nahe am Weltmarktniveau, das zunehmend auch den Preis für Getreide auf dem europäischen Kontinent bestimmte.

Mitte der 1870er Jahre setzte ein Preisverfall bei Getreide ein. Er hing zusammen mit der so genannten „Großen Depression“ in den meisten Ländern Europas (1873-1896), die eigentlich eine große Deflation war. Die Preise fielen in vergleichbarem Maße auch für Industrieprodukte; von den zeitgenössischen Landwirten wurde der Verfall bei ihren Produkten aber als besonders dramatisch empfunden, da sie sich in der vorausgehenden Prosperitätsperiode hoch verschuldet, ja, in Erwartung anhaltender Prosperität, überschuldet hatten. Damals, wie auch heute, wiegen langfristig festgeschriebene Hypothekenschulden in Zeiten knappen Geldes besonders schwer. In fast allen Ländern des europäischen Kontinents wurde vorrangig die „überseeische Konkurrenz“ für diesen Preisverfall verantwortlich gemacht. Nur Großbritannien bildete als frühzeitig industrialisiertes Land eine Ausnahme. Der Vorwurf richtete sich besonders gegen Nordamerika, da die nordamerikanischen Weizenexporte zwischen 1878 und 1880 ihren Höhepunkt erreichten. Die Konsequenz war die Einführung von landwirtschaftlichen Schutzzöllen (neben industriellen). Auch hier bildete Großbritannien, neben den Niederlanden und Dänemark, eine Ausnahme, ansonsten gingen alle westeuropäischen Länder zum Protektionismus über. Dies bedeutete nicht nur die Einführung von Schutzzöllen, sondern auch von Steuererleichterungen und Exportsubventionen verschiedener Art für die jeweilige einheimische Agrarwirtschaft. Neben diesen staatlichen Maßnahmen waren es gesellschaftliche Bewegungen, Vereine und Interessenverbände, die sich offen gegen die „überseeische Konkurrenz“ formierten und danach trachteten, die staatlichen Abschottungsmaßnahmen immer wieder zu überarbeiten und zu intensivieren. Neben den einseitig auf Protektion ausgerichteten Verbänden, wie dem Bund der Landwirte im deutschen Kaiserreich, der Société des Agriculteurs de France, der Asociación de Agricultores de España, der italienischen Lega di Difesa Agraria oder dem Schweizerischen Bauernverband, gab es jedoch auch Vereinigungen, die nicht primär oder ausschließlich Schutzzölle und Subventionen wollten. Sie strebten vielmehr staatlich induzierte oder auf Selbsthilfe beruhende Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung und somit Erhöhung der internationalen Konkurrenzfähigkeit an.

Der 1889 von dem französischen Agrarpolitiker Jules Méline in Paris gegründete Internationale Landwirtschaftskongress war die wichtigste Zusammenkunft dieser Art in Europa.[4] Landwirte, Agrarwissenschaftler und Agrarpolitiker trafen sich bis 1913 im Rhythmus von zumeist zwei Jahren: 1891 in Den Haag, 1895 in Brüssel, 1896 in Budapest, 1898 in Lausanne, 1900 in Paris, 1903 in Rom, 1907 in Wien, 1911 in Madrid und 1913 in Gent. Diese Zusammenkünfte waren nicht nur Orte des Austauschs von bewährten Konzepten, sondern auch von Ideen zur Zukunftsgestaltung. Der durch den hochschutzzöllnerischen Tarif von 1892 bekannte Jules Méline entwickelte hier in produktiver Auseinandersetzung mit deutschen und italienischen Genossenschaftsmodellen (Raiffeisen, Schulze-Delitzsch, Luigi Luzzatti) seine Vorstellungen vom Agrarkredit („crédit agricole“), der den französischen Bauern Hilfe zur Selbsthilfe bieten sollte. Fragen zum Erbrecht, zu Versicherungen zum Schutz gegen die speziellen Risiken landwirtschaftlicher Tätigkeit wurden ebenso erörtert wie lohnende Alternativen zum Getreideanbau. Darüber hinaus analysierten Agrarwissenschaftler und Nationalökonomen auf hohem Niveau die Ursachen des Preisverfalls bei Agrarprodukten vor dem Hintergrund der Globalisierung.

Der Landwirtschaftliche Kongress 1896 in Budapest befasste sich mit den Problemen der Produktion, des Handels und Transportwesens, der Zollpolitik und monetären Fragen. Neben namhaften Nationalökonomen wie Émile Levasseur vom Collège de France und Gustav Schmoller von der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, wurde der Nationalökonom und Agrarwissenschaftler Max Sering zu einem Vortrag über die Ursachen des Preisverfalls bei Getreide in den letzten beiden Jahrzehnten geladen. Auszüge aus diesem Vortrag werden im Themenportal Europäische Geschichte von Clio-online als Quelle wiedergegeben.

Max Sering (1857-1939) war einer der prominentesten Agrarwissenschaftler und Agrarpolitiker des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Agrarwissenschaft war zu dieser Zeit eine wichtige Teildisziplin der Volkswirtschaftslehre. Sering lehrte 1885 zunächst an der Bonner Universität Staatswissenschaften, also alle Bereiche der Volkswirtschaftslehre. Vier Jahre später wurde er als Nachfolger Gustav Schmollers an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin zum ordentlichen Professor ernannt. 1893 wurde er zudem außerordentlicher und 1897 ordentlicher Professor an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Agrarwissenschaft und Agrarpolitik, also Forschung und Praxis, gingen bei ihm eng zusammen. Er war Mitglied des preußischen Landesökonomiekollegiums, des Deutschen Landwirtschaftsrates und des Vereins für Socialpolitik, an dessen Landarbeiterenqueten er 1891/92 mitwirkte. Im Auftrag der preußischen Regierung wurden unter seiner Leitung umfangreiche Erhebungen über die Vererbung des ländlichen Grundbesitzes durchgeführt. Im Zentrum seines Interesses standen die Sicherung des kleinen und mittleren Grundbesitzes, zeitgenössisch unter dem Stichwort „innere Kolonisation“ erörtert, durch die Eindämmung der Verschuldung, ein adäquates Erbrecht sowie Maßnahmen zum Schutz vor Zwangsvollstreckung. Sering war 1919 maßgeblich an der Abfassung des Reichssiedlungsgesetzes beteiligt und Leiter des Deutschen Forschungsinstituts für Agrar- und Siedlungswesen. Obwohl selber nicht frei von nationalistischen Bestrebungen im Bereich der Ostkolonisation, wurde er aufgrund seiner Kritik am Reichserbhofgesetz als Institutsleiter entlassen und das Institut unter seinem nationalsozialistischen Nachfolger 1934 aufgelöst.[5]

Doch zurück in das Jahr 1896. Es waren nicht Serings frühe Publikationen zur „inneren Kolonisation“ oder zum Heimstättenrecht, die ihm die Einladung auf den Internationalen Agrarkongress in Budapest eintrugen. Es war vielmehr seine Studienreise nach Nordamerika, die er zwischen Februar und Oktober 1883 in offiziellem Auftrag unternahm. Sering gehörte damit zu den Europäern, die bereits in den 1880er Jahren „die Ursachen und den voraussichtlichen Verlauf der landwirthschaftlichen Konkurrenz“[6] vor Ort eruieren sollten.

Dass sich Nationalökonomen auf eine solche Studienreise begaben, war nicht ungewöhnlich.[7] Der Italiener Egisto Rossi bereiste im Jahre 1882, die Franzosen Émile Levasseur und Paul Bureau bereisten in den 1890er Jahren Nordamerika. In Deutschland ist, neben anderen, noch der sozialkonservative Rudolph Meyer zu nennen, der, begeistert von den homestead laws, nach seiner Rückkehr 1882 versuchte, eine vergleichbare Heimstättengesetzgebung zum Schutz des kleinen Grundbesitzes in Deutschland zu etablieren. Sering wiederholte 1893 seine Reise. Die neuen Erfahrungen ließ er 1896 in seine Überlegungen zur Preisbildung einfließen. Ebenso wie der europäische Agrarsektor habe auch der amerikanische unter den Folgen der sinkenden Weltmarktpreise zu leiden gehabt: „Als ich i[m] J[ahr] 1893 zum zweiten Mal den amerikanischen Westen bereiste, traten mir alle Anzeichen eines traurigen Darniederliegens der Landwirthschaft entgegen.“[8] Er zog daraus den Schluss, dass der Preisverfall nicht auf die nordamerikanische Getreidekonkurrenz zurückzuführen sei, sondern auf die weltweite wirtschaftliche Integration, also Preiskonvergenz, wobei der Preis sich nach dem billigsten Anbieter richte. Bei Getreide seien dies vor allem Argentinien und Russland, die aufgrund einer ungehemmten Ausbeutung ihrer Landbevölkerung das Getreide so billig anbieten könnten: „Ist nach dem allen der Hauptgrund für den jetzigen Stand der Getreidepreise in der kapitalistischen Ausbeutung des bedürfnislosen und widerstandsunfähigen Landvolks von Russland und Südamerika zu erblicken, so erscheint deren unbehinderte Konkurrenz geeignet, die Lebenshaltung der mittel- und westeuropäischen Landwirthe […] dem Kulturniveau jener armseligen Bevölkerungen stark anzunähern.“[9]

Sering hat die Einführung von Schutzzöllen favorisiert, allerdings nur von begrenzter Dauer, um der einheimischen Landwirtschaft die Gelegenheit zur Rationalisierung und Produktivitätssteigerung zu geben und somit die Anpassung an die verschärften Konkurrenzverhältnisse zu ermöglichen. Zugleich hat er, ohne Zukunftsprognosen zu wagen, auf eine mögliche „finanzpolitische und kulturelle Umwälzung in den wichtigsten Konkurrenzländern“[10] gesetzt. Hierbei spielte er einerseits auf Argentinien an, das aufgrund eines stark abgewerteten Peso Weizen billig auf den Weltmarkt werfen konnte, und andererseits auf Russland, das aufgrund der rücksichtslosen Ausbeutung der bäuerlichen Bevölkerung Getreide produzieren und zu niedrigsten Preisen absetzen konnte. Von hier aus lassen sich Bezüge zur aktuellen Globalisierungsdebatte herstellen.

Die Quelle zeigt die historische Dimension eines Prozesses, der uns heute in anderer Gestalt analoge Probleme vor Augen führt. Es handelt sich um das Zusammenspiel von etablierten Produktionszentren und neuen Billigpreisländern. Was damals den agrarischen Bereich in Westeuropa betraf, betrifft heute den industriellen. Damals wie heute erscheint es erstrebenswert, einen Ausgleich zu schaffen zwischen einer Steigerung der wirtschaftlichen Rentabilität einerseits und der weltweiten Sicherung eines angemessenen Lebensstandards und einer menschenwürdigen Lebensweise („Kulturniveau“) andererseits.

 


[1] Essay zur Quelle: Max Sering, Rede auf dem Internationalen Landwirtschaftskongress (Budapest, 17.-20. September 1896); [Auszüge]

[2] Zu Definition und Periodisierung der Globalisierung: Torp, Cornelius, Die Herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860-1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 168), Göttingen 2005, S. 27-49.

[3] Siehe dazu den Überblick bei: Guggisberg, Hans R., Geschichte der USA. Fortgeführt von Hermann Wellenreuther, 4. erweiterte Auflage, Stuttgart 2002, S. 119, 126-139.

[4] Zur Geschichte der internationalen Landwirtschaftskongresse: Aldenhoff-Hübinger, Rita, Agrarpolitik und Protektionismus. Deutschland und Frankreich im Vergleich 1879-1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 155), Göttingen 2002, S. 42-70.

[5] Vgl. Stoehr, Irene, Von Max Sering zu Konrad Meyer – ein „machtergreifender“ Generationenwechsel in der Agrar- und Siedlungswissenschaft, in: Heim, Susanne (Hg.), Autarkie und Ostexpansion. Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialismus (Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, Band 2), Göttingen 2002, S. 57-90.

[6] Sering, Max, Die landwirthschaftliche Konkurrenz Nordamerikas in Gegenwart und Zukunft, Leipzig 1887, S. V.

[7] Vgl. dazu: Aldenhoff-Hübinger, Agrarpolitik, S. 32-41.

[8] Rede auf dem Internationalen Landwirtschaftskongress (Budapest, 17.-20. September 1896), in: Congrès International d'Agriculture tenu à Budapest du 17 au 20 septembre 1896. Comptes-Rendus/Nemzetközi Gazdakongresszus Tartatott Budapesten, 1896. Évi Szeptember 17-20. Napjain. Föjelentés, Budapest 1897, S. 119-128, Zitat: S. 122f. Vgl. Quelle: Max Sering, Rede auf dem Internationalen Landwirtschaftskongress (Budapest, 17.-20. September 1896); [Auszüge].

[9] Ebd., S. 127. Vgl. Quelle.

[10] Ebd., S. 128. Vgl. Quelle.


 


Literaturhinweise:

  • Aldenhoff-Hübinger, Rita, Agrarpolitik und Protektionismus. Deutschland und Frankreich im Vergleich 1879-1914 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 155), Göttingen 2002.
  • Aldenhoff-Hübinger, Rita, Agrarhandel zwischen Integration, Desintegration und transnationaler Kooperation, in: Henrich-Franke, Christian; Neutsch, Cornelius; Thiemeyer, Guido (Hgg.), Internationalismus und Europäische Integration im Vergleich. Fallstudien zu Währungen, Landwirtschaft, Verkehrs- und Nachrichtenwesen, Baden-Baden 2007, S. 193-202.
  • Mayaud, Jean-Luc; Raphael, Lutz (Hgg.), Histoire de l’Europe rurale contemporaine. Du village à l’État, Paris 2006.
  • O’Rourke, Kevin H., The European Grain Invasion, 1870-1913, in: Journal of Economic History 57 (1997), S. 775-801.
  • Torp, Cornelius, Weltwirtschaft vor dem Weltkrieg. Die erste Welle ökonomischer Globalisierung vor 1914, in: Historische Zeitschrift 279 (2004), S. 561-609.
Quelle zum Essay
Landwirtschaft im Spannungsfeld von Nationalisierung und Globalisierung. Getreidehandel und Agrarkrisen in Westeuropa, 1850-1914
( 2007 )
Zitation
Max Sering, Rede auf dem Internationalen Landwirtschaftskongress (Budapest, 17.-20. September 1896); [Auszüge], in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28326>.
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