Die Schubertiade. Bürgerlichkeit, Hausmusik und das Öffentliche im Privaten

Die Musik Franz Schuberts wird man in die Kategorie ‚Hochkultur’ einsortieren. Schubert figuriert in der Reihe der großen Komponisten, deren Werke epochen- und länderübergreifend gespielt und gehört werden. Diese ‚klassisch’ genannte Musik ist wesentlicher Bestandteil des auditiven Gedächtnisses Europas, eine praktizierte Tradition, die auch außerhalb des Kontinents nach wie vor viel beachtet wird und als Imagination mit europäischer Kultur eng verbunden ist. Schuberts Musik ist klassisch geworden. Denn zu seinen Lebzeiten erfuhr sie nur geringe Resonanz in der Öffentlichkeit. Goethe wies die Annäherungsversuche des jungen Komponisten aus Wien wortlos zurück. Später wurde Schuberts Werk als ‚biedermeierlich’ verniedlicht und auf sentimentale Liedchen von der ‚schönen Müllerin’ usw. reduziert. [...]

Die Schubertiade. Bürgerlichkeit, Hausmusik und das Öffentliche im Privaten[1]

Von Joachim Eibach

Die Musik Franz Schuberts wird man in die Kategorie ‚Hochkultur’ einsortieren. Schubert figuriert in der Reihe der großen Komponisten, deren Werke epochen- und länderübergreifend gespielt und gehört werden. Diese ‚klassisch’ genannte Musik ist wesentlicher Bestandteil des auditiven Gedächtnisses Europas, eine praktizierte Tradition, die auch außerhalb des Kontinents nach wie vor viel beachtet wird und als Imagination mit europäischer Kultur eng verbunden ist. Schuberts Musik ist klassisch geworden. Denn zu seinen Lebzeiten erfuhr sie nur geringe Resonanz in der Öffentlichkeit. Goethe wies die Annäherungsversuche des jungen Komponisten aus Wien wortlos zurück. Später wurde Schuberts Werk als ‚biedermeierlich’ verniedlicht und auf sentimentale Liedchen von der ‚schönen Müllerin’ usw. reduziert.

Eine Ehrenrettung für Franz Schubert aus musikwissenschaftlicher Sicht braucht es nun längst nicht mehr. Spätestens seit Theodor W. Adornos Essay über Schubert aus dem Jahr 1928 muss man nicht beschwörend, gleich einem älter gewordenen Punk, hinterher rufen: „Schubert’s not dead!“[2] Mit dem Namen Schuberts verbindet sich indes auch eine distinkte Praxis der Geselligkeit, die ‚Schubertiade’, deren Analyse konstitutive Aspekte bürgerlicher Kommunikation offen legt. Die Entstehung und Entwicklung dieses Kommunikationsstils, der auf das Haus zentriert ist, ist längst nicht in allen Ländern Europas und erst recht nicht in allen sozialen Schichten gleichermaßen zu verorten. Es handelt sich um ein Ritual, mit allerdings einiger Ausstrahlung, das besonders in solchen Ländern praktiziert wurde und wird, die ein starkes Bildungsbürgertum aufweisen.

Die „Schubertiade“ begegnet uns auf einer Sepiazeichnung des Schubertfreunds Moritz von Schwind unter dem Titel „Ein Schubert-Abend bei Josef von Spaun“ aus dem Jahr 1868. Eine geplante Umsetzung des Motivs in einem Ölgemälde wurde durch Schwinds Tod verhindert. Nur ein Fragment des Gemäldes ist vorhanden. Wie der Maler an Eduard Mörike schrieb, meinte er, „dem vernünftigen Teil Deutschlands schuldig zu sein – meinen trefflichen Freund Schubert am Klavier nebst seinem Zuhörer-Kreise“ abzubilden.[3] Die Zeichnung erinnert an eine Geselligkeit im Hause des Wiener Juristen und späteren Direktors der Staatslotterie Spaun im Dezember 1826, bei der Schubert Eigenkompositionen am Klavier vortrug und der neben ihm sitzende Bariton Johann Michael Vogl sang. Schwind wollte nicht nur Schubert, sondern ebenso der Schubertiade ein Denkmal setzen. Diese Wortschöpfung hatte sich im Freundeskreis Schuberts seit 1821 eingebürgert als Bezeichnung für Abende, an denen man sich in wechselnder Runde traf und Schubert musizierte.

Sämtliche auf der Zeichnung Schwinds abgebildete Personen, einschließlich des Gemäldes an der Wand, lassen sich als Mitglieder des Schubertschen Freundeskreises und Teilnehmer/innen an Schubertiaden individuell bestimmen.[4] Meistens war die Zahl der Anwesenden bei diesen Abenden allerdings geringer als die abgebildeten 42 Personen. Vermutlich malte Schwind einfach alle diejenigen hinzu, die ihm von Schubertiaden in Erinnerung waren. Es handelt sich um bekannte und weniger bekannte Maler, Musiker, Literaten und Intellektuelle, z. B. am rechten Bildrand zwischen Türrahmen und Kamin Franz Grillparzer, aber auch angehende Juristen und Staatsdiener. Nicht wenige der Besucher/innen hatten einen Adelstitel. So erkennt man links hinter Vogl den hoch aufgeschossenen Sänger Freiherr Karl von Schönstein, gleichsam als Gegenüber und auf Augenhöhe mit dem bürgerlichen Juristen Grillparzer auf der anderen Bildseite. Das Gemälde an der Wand zeigt die von Schubert verehrte Komtesse Karoline Esterházy. Auch sich selbst verewigte der Maler: Schwinds kleiner Kopf mit Schnurrbart ist vor dem linken Türrahmen zu erkennen. Die ins Bild gesetzte Erinnerung Schwinds vermittelt einen wohlgeordneten und harmonischen, etwas statischen Eindruck von dieser Art Geselligkeit in bürgerlichem Interieur. Offensichtlich konnten sich Bürgerliche und Adlige über die Praxis der Musik – weiter gefasst: die Künste – miteinander verständigen. Im Hinblick auf die Geschlechterordnung fällt auf, dass alle Frauen sitzen dürfen bzw. müssen, während die sie überragenden Männer bis auf alte und die Ausführenden in der Regel stehen müssen bzw. dürfen. Die Musik bewegt: Es wird konzentriert, ja andächtig zugehört.

Schubertiaden galten später als typisch ‚biedermeierlich’. Darüber hinaus wurden sie als Prototyp und historisches Vorbild der bürgerlichen Hausmusik verstanden.[5] Um die Entstehung und die – wie sich zeigt – veränderliche Bedeutung dieser kulturellen Praxis, die für die Identität des Bürgertums im Verlauf des 19. Jahrhunderts so bezeichnend, die als Ritual so geliebt oder belächelt werden sollte, soll es hier gehen. Eine klare Definition von Hausmusik gibt es nicht. Als Vor- und Nebenläufer sind zu nennen: Musik als religiöse Praxis im Haus, musikalische Zirkel von Professoren und Studenten, Musik im Salon, die in einer adlig-höfischen Tradition stehende Kammermusik, aufwändige Bälle in Privathäusern. Vergleichbar sind zudem Lesezirkel, auch wenn dabei meistens nicht musiziert wurde, deren Signifikanz für die Genese eines neuen, in nuce ständeübergreifenden Bürgertums seit Mitte des 18. Jahrhunderts wesentlich bekannter ist. In verschiedenen Formen ist eine Praxis des Musizierens im Haus schon seit dem Mittelalter nachweisbar. Als Begriff findet ‚Hausmusik’ in Deutschland zu Anfang des 17. Jahrhunderts Verbreitung. Korrespondierende Begriffe wie ‚domestic music’, ‚music of friends’, ‚musique domestique’ oder ‚musica domestica’ existierten in anderen europäischen Sprachen, was jedoch nicht immer dasselbe meinte. In den protestantischen Gebieten führten vor allem die frommen Hausandachten mit Musik zur Drucklegung zahlreicher Sammlungen geistlicher Lieder unter Titeln wie ‚Musicalische Hauß-Andacht’ oder ‚Kirchen und Hauß Musica Geistlicher Lieder’.[6]

Aus der Frühen Neuzeit übernahm die fortan genuin bürgerliche Praxis der Hausmusik nach 1800 die Möglichkeit zur Ausübung durch Laien und den Sinn der ‚Erbauung’ durch Musik. Allerdings waren das Erbauliche und das Andachtsvolle – als Stimmung in den Gesichtern bei Schwinds Schubertiade gut erkennbar – nun nicht mehr primär christlich buchstabiert. Vielmehr ist die Mode der Hausmusik undenkbar ohne den säkularisierten Bildungsenthusiasmus des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Ganz allgemein betraf dieser Wandel auch die konzertante Praxis. Die Erosion des alten höfischen Mäzenatentums führte zum einen zur Herausbildung eines öffentlichen Konzertwesens, zum anderen zu einer halbprivat-halböffentlichen Form in Gestalt der Hausmusik.[7] In beiden Kontexten entstand parallel die Praxis des stillen, regungslosen Zuhörens, verbunden mit selbst-reflexiver Einkehr, nicht unähnlich der meditativen Haltung beim Gottesdienstbesuch.

Die Ausführenden von Hausmusik konnten Angehörige der Familie sein oder große, international bekannte Namen wie Franz Liszt, Niccolò Paganini und Clara Wieck. Dementsprechend changierte der Charakter der Hausmusik zwischen Teestunde und ‚Event’. Zahlreiche autobiographische Erinnerungen und Bilder hausmusikalischer Praxis im Familienkreis oder aber vor Gästen belegen unzweideutig deren Relevanz während des 19. Jahrhunderts. Nicht unwesentlich ist die genaue Situierung des Geschehens innerhalb des bürgerlichen Hauses. Bereits Jürgen Habermas hat in seinem ‚Strukturwandel der Öffentlichkeit’ folgende Beobachtung gemacht: „Die Sphäre des Publikums entsteht in den breiteren Schichten des Bürgertums zunächst als Erweiterung und gleichzeitig Ergänzung der Sphäre kleinfamilialer Intimität. Wohnzimmer und Salon befinden sich unter dem gleichen Dach“.[8] Das gemütvolle Wohnzimmer umfasst die intime Privatheit der Familie, der repräsentative Salon das Öffentliche im Privaten. Der Ort des Konzerts im Hause entscheidet so mit über Stil und Funktion der Musik. Damit untrennbar verbunden ist die Frage: Wo steht das Klavier? Denn das Klavier ist das bevorzugte Instrument des Bürgertums, nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und Frankreich. Aus den Musikmetropolen Wien und Paris wird ein regelrechtes ‚Clavierfieber’ gemeldet. Klavier bedeutet Wohlstand und Zugehörigkeit zum Bürgertum. Deswegen stellen der Besitz eines solchen und sein Erklingen bei offenem Fenster auf der Straße auch für untere Schichten ein erstrebenswertes Symbol des sozialen Aufstiegs dar. Genau genommen laufen die perspektivischen Linien in der Zeichnung Schwinds auch nicht auf Schubert zu, sondern auf das Klavier mit seinem Notenständer als Mittelpunkt des Geschehens.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verfestigte sich die Hausmusik zu einem Ritual, das je länger umso mehr einem kanonisierten Repertoire und einer zur Tradition werdenden Bildung verpflichtet war. Das Erlernen eines Instruments, des Klavierspiels zumal, wird für Kinder aus bürgerlichem Hause verbindlich, wenn nicht unausweichlich. In Deutschland wie in England gehört es in der zweiten Jahrhunderthälfte gewissermaßen auch zur Ausbildung der heiratsfähigen ‚höheren Tochter’, die Klaviatur der guten Sitten zu beherrschen und diese auch hin und wieder Gästen vorzuführen.[9] Einladungen und die gewandte Teilnahme an musikalischen Soiréen bedeuten Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft. Sie werden zu einem zentralen Mittel bürgerlicher Kommunikation. Auf die Relevanz eines bestimmten Habitus in der Lebensführung, zu dem auch Bildungskonsum und die Pflege von Hochkultur gehören, für eine Definition von Bürgerlichkeit hat bereits Jürgen Kocka hingewiesen.[10] Aufgrund der besonderen lokalen und regionalen Umstände variierte der Umgang mit der Hausmusik. Interessant ist das Beispiel Schweiz. Während im Bürgertum der alten Universitätsstadt Basel im 19. Jahrhundert die aus der Frühen Neuzeit weitergeführte Hausmusik hoch im Kurs stand, war deren Etablierung im patrizischen, stark ständisch geprägten Bern schwieriger.[11]

In dem Moment, in dem sich Bürgerlichkeit zu einem hegemonialen Stil entwickelte, bestand die Tendenz, Bildungsgut und damit bestimmte Zugänge zur Musik primär als „Bildungskapital“ und damit als Strategie sozialer Distinktion im Sinne der Kultursoziologie Pierre Bourdieus einzusetzen.[12] Im Zentrum der Praxis stand dann gewissermaßen nicht mehr die Musik selbst, sondern der performative Akt der Darbietung vor Publikum in repräsentativem Ambiente. Skepsis bezüglich dieser Aneignung von Musik wurde früh laut, bereits zu Lebzeiten Schuberts. Zeitgenössische Musikzeitschriften monieren mangelnde Professionalität und Dilettantismus in der Haus- und Salonmusik. Karikaturen, die aus dem skandinavischen Raum schon aus der Zeit vor der Jahrhundertmitte überliefert sind und damit die Rezeption des Phänomens auch dort bezeugen, weisen in die gleiche Richtung. Zu sehen sind hier nicht andächtig berührte, sondern geistig abwesende, schlafende oder miteinander flirtende Zuhörer/innen, während sich die Ausführenden am Klavier oder mit Gesangsblättern angestrengt abmühen.[13] Die Institutionalisierung der Hausmusik als Ritual bürgerlicher Selbstdarstellung bestimmte im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend diese Art des Zugangs zur Musik. Korrekte Abendgarderobe und gestrenge Klavierlehrer sorgten für stilsichere Orchestrierung. Spätestens im Moment des deutlicheren Hervortretens bürgerlicher Klasseninteressen konnten kritische Stimmen dazu nicht ausbleiben.

An dieser Stelle könnte alles gesagt sein – ist es aber nicht. Denn die Bedeutung von Musik ragt über ihren Einsatz als soziale Strategie hinaus und auch der kulturelle Aspekt der Musikpraxis ist historisch nicht gleich bleibend, obwohl die Töne dieselben sein mögen. So hat Bourdieu zwar den Konnex von Musikgeschmack und Klassenzugehörigkeit in der französischen Gesellschaft offen gelegt. Er stellt – nicht allzu überraschend – Korrelationen zwischen sozialer Herkunft, Bildungsabschluss und den Präferenzen der befragten Personen für bestimmte Werke in den Metiers Populärmusik, Chanson und klassische Musik fest. Andererseits „enthält das Kunstwerk“, laut Bourdieu, „immer auch etwas Unsagbares […]; etwas, das sich […] von Leib zu Leib, jenseits der Worte und Begriffe mitteilt, wie musikalischer Rhythmus oder der Ton von Farben. Kunst ist auch etwas ‚Körperliches’ und Musik, die ‚reinste’ und ‚spirituellste’ aller Künste, ist vielleicht die körperlichste überhaupt. Verknüpft mit ‚Seelenzuständen’, Stimmungen also, die nicht minder Körperzustände sind, entzückt sie, trägt sie mit sich fort, bewegt und erregt sie“.[14] Bourdieu unterscheidet zwischen zwei Arten der Aneignung von Musik: eine rein rezeptive Aneignung über Tonträger, d.h. „eine Musik für Schallplattenfreunde“, und eine Aneignung durch Praktizieren oder unmittelbares sinnliches Erleben der Musik. Der genuine Ort der zweiten Aneignungsweise scheint für Bourdieu nun die bürgerliche Familie zu sein: „all das, was einst mit reiner Musik, dem intimen Wesen des Klaviers, dem Instrument der Mutter, und der Intimität des bürgerlichen Salons assoziiert wurde.“[15]

Zurück zu Franz Schubert und der Schubertiade im Wien nach der Jahrhundertwende. Wien kann für diese Zeit als europäische Hauptstadt der Musik gelten. Die Stadt hatte Mozart, Haydn und Beethoven zwar nicht gerade hervorgebracht, aber angezogen. Dabei beschränkte sich die Entwicklung in Wien nicht auf einsame Höhenkammwanderungen genialer Komponisten. Ein expandierender Musikmarkt, das öffentliche Konzertleben, aber eben auch neue bürgerliche Formate wie Musikvereine sowie kleine Konzerte in Salons und Privathäusern sorgten für Aufbruchsstimmung. Schon vor Schubert florierten Kompositionen in Gattungen für den quasi privat-intimen Gebrauch wie Lieder und Instrumentalstücke, insbesondere für das Klavier. Schubert hat die Hausmusik nicht erfunden, auch wenn sein Name später eng mit ihr assoziiert werden sollte. In diesem Rahmen und für diese neue Form der Geselligkeit, die ihm wichtig ist, schrieb er aber seine Musik. Schwind gibt den zentralen, den heiligen Moment der Schubertiaden wieder: Schubert am Klavier. Es ist jedoch nur ein Ausschnitt aus einer umfassenderen Praxis bürgerlicher Geselligkeit. Und der Stil und Kontext dieser Geselligkeit zur Zeit Schuberts unterscheidet sich erheblich von der Hausmusik und musikalischen Soiréen im großbürgerlichen Ambiente, wo sie sich dann als ein formfestes, repräsentatives Ritual etablieren sollte.

Über den Ablauf der Schubertiaden, die bis zu Schuberts Tod im Jahr 1828 mehr oder weniger regelmäßig in Wien oder an anderen Aufenthaltsorten Schuberts in Österreich stattfanden, sind wir auch aus Briefen und Tagebucheinträgen der Freunde Schuberts gut informiert. Der Charakter der Treffen, bei denen Musik Schuberts erklang, pendelte zwischen spontanen Treffen im kleinen Kreise, in diesem Fall meist nur Männer, bei denen sich die Freunde gegenseitig Belletristik vorlasen und ihre Gedanken austauschten, und Einladungen im größeren Kreise mit den Frauen (wie auf dem Bild Schwinds). Die einzelnen Elemente und der Ablauf der Schubertiaden variierten auch dann, wenn es sich um eine Einladung mit mehreren Dutzend Personen handelte. Zentral ist der begriffsstiftende Akt, dass Schubert musiziert, sei es allein, mit einem Partner vierhändig am Klavier oder einen Sänger bzw. eine Sängerin begleitend. Speziell ist im Vergleich zur späteren Hausmusik, dass neue, zum Teil. noch nie aufgeführte Werke Schuberts intoniert werden. Es wird also keineswegs nur ein klassisches Repertoire ‚gepflegt’. Nach der Musik wird gegessen, entweder ein kleiner Imbiss oder ein größeres Souper. Dazu trinkt man Punsch und es können Toasts ausgebracht werden, deren Inhalt leider nicht überliefert ist. Manchmal kommt es zu Lesungen von Gedichten. Möglich sind im größeren Kreise auch ein spontaner Tanz, gemeinsame Turnübungen oder ein Ball. Kleine Schubertiaden wie auch Leseabende der Freunde finden zeitweise mehrmals pro Woche statt, manchmal mit, manchmal ohne Musik. Gelesen werden Texte der deutschen Frühromantik, Schiller, Goethe, Friedrich Schlegel oder Heinrich Heine, d.h. auch hier Werke von zeitgenössischer Aktualität.

Zum Procedere dieser Art von Geselligkeit gehört es auch, dass der engere Zirkel, inklusive Schubert, zu vorgerückter Stunde noch um die Häuser zieht und in ein Gasthaus einkehrt. Dort oder andernorts wird bis nach Mitternacht gezecht und geraucht. Mitunter wird auf der Straße auch getanzt und herumgealbert. So berichtet der spätere Gerichtspräsident Franz von Hartmann – sein Gesicht ist auf der Zeichnung Schwinds mittig unter dem Wandgemälde zu erkennen – in seinem Tagebuch unterm 12. Januar 1827: „Endlich nahmen wir von unseren freundlichen Wirten Abschied und gingen in hellen Haufen zum [Café] Bogner, wo wir einige Pfeifen rauchten und auf der Gasse Schwind laufend durch Mantelschwingen das Fliegen [einer Fledermaus] täuschend nachahmte.“[16] Wie seine Freunde war Schubert selbst ein häufiger Gast in Kaffeehäusern und in den Literatur- und Musiksalons Wiens. Auch die dortige Geselligkeit ist eher spontan-informeller Art, ein Kommen und Gehen. Die Freunde teilen nicht nur ihre Ideen, ästhetischen Vorstellungen und sonstige Genüsse, sondern – für den jungen Komponisten lebenswichtig – auch manchmal Geld und öfter die Wohnung, ja sogar Kleidungsstücke tauscht man, sofern einigermaßen passförmig, untereinander aus. Zu diesem neuartigen Konzept von Freundschaft als elektiver Geistesverwandtschaft ohne zünftisch-korporative Bindung gehörte es auch, dass sich persönliche Spannungen einstellen. Davon ist in den Briefen und Tagebuchnotizen einige Male die Rede.

Auf einem Gemälde aus dem Jahr 1897, das im Auftrag der Stadt Wien aus Anlass des 100. Geburtstages Franz Schuberts angefertigt wurde, sieht man einen selbstbewussten Schubert in einem bourgeoisen Salon mit großem Kronleuchter sitzen.[17] Das Publikum in diesem „Wiener Bürgerhaus“ ist arriviert, die Szenerie glanzvoll. Ob diese Aneignung Schuberts der historischen Schubertiade entspricht oder nicht eher einer nun gänzlich hochkulturellen Adaption gegen Ende des 19. Jahrhunderts, ist die Frage. Auf der Zeichnung des Schubertfreunds Schwind erscheint Schubert nicht als der große ‚Liederfürst’, vielmehr klein und zurückgesetzt. Er wird von dem breitschultrigen Bariton neben ihm fast völlig verdeckt. Das Interieur bei Schwind ist bürgerlich, aber unauffällig. Der Komponist stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sein Vater war Schullehrer in einer Wiener Vorstadt. Schubert war von kleiner Gestalt, korpulent und schüchtern. Er vernachlässigte sein Äußeres und roch nach Tabak. Laut den Berichten der Freunde war seine Persönlichkeit sehr ambivalent: phlegmatisch und arbeitsam, melancholisch und gesellig, bescheiden und genusssüchtig. Sein Alltag zwischen Klavier und Kaffeehaus war eher bohèmistisch als biedermeierlich, jedenfalls wenn man die übliche Verwendung der Begriffe zugrunde legt. Diesen Befund wird man für die Geselligkeit und die Musikpraxis der Schubertiade insgesamt geltend machen können, die als kulturelle Form während der avantgardistischen Phase des Bürgertums in mancher Hinsicht offener und spontaner war als das später verfestigte Ritual.

Avantgardistisch war die Bürgerlichkeit in den 1820er Jahren nicht zuletzt deshalb, weil sie im restaurativen System des österreichischen Kanzlers Klemens Graf von Metternich polizeistaatlich, mit Zensur und Spitzelwesen, unterdrückt wurde. Regelmäßige Zusammenkünfte von Künstlern, Bürgern und Adligen als Freunde und Gleiche in Privathäusern hatten eine klar politische Dimension. Überhaupt erweist sich das bürgerliche Haus als ein öffentlicher Ort; nicht nur für die Formierung eines literarisch-kritischen Publikums im Sinne von Habermas. Die ganz konkret zu verstehende Öffnung des eigenen Hauses zur Gesellschaft hin in Form von Geselligkeit und Einladungen, angereichert durch Bildung, sollte sich für den Status und das Selbstverständnis des Bürgers und der Bürgerin in Zukunft als ausgesprochen wichtig erweisen.



[1] Essay zur Quelle: Ein Schubert-Abend bei Josef von Spaun. Sepiazeichnung von Moritz von Schwind (1868).

[2] Adorno, Theodor W., Schubert, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 17: Musikalische Schriften IV, Frankfurt am Main 1982, S. 18-33; erinnert sei an ein Graffito, das in den 1980er Jahren oft an Häuserwände gesprüht wurde: „Punk’s not dead!“

[3] Deutsch, Otto Erich (Hg.), Franz Schubert: Sein Leben in Bildern, 3. Aufl., München 1913, S. 5f.; vgl. auch Art. „Ein Schubert-Abend bei Josef von Spaun“, in: Schubert-Lexikon, hg. von Hilmar, Ernst; Jestremski, Margret, 2. Aufl., Graz 1997, S. 104f.

[4] Schlüssel zum „Schubert-Abend“ von Moritz v. Schwind nach Alois Trost, in: Deutsch, Schubert: Sein Leben, S. 38a.

[5] Hilmar, Ernst, Was ist an Schubert ‚biedermeierlich’? Kurzbemerkungen zu einigen Klischees, in: Kube, Michael u.a. (Hgg.), Schubert und das Biedermeier. Beiträge zur Musik des frühen 19. Jahrhundert, Kassel 2002, S. 17-24.

[6] Salmen, Walter, Haus- und Kammermusik. Privates Musizieren im gesellschaftlichen Wandel zwischen 1600 und 1900, Leipzig 1969, S. 6-9.

[7] Petrat, Nicolai, Hausmusik des Biedermeier im Blickpunkt der zeitgenössischen musikalischen Fachpresse (1815-1848), Hamburg 1986; Art. Hausmusik, in: Schubert-Lexikon (wie Anm. 3), S. 186f.

[8] Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990, S. 115.

[9] Budde, Gunilla-Friederike, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840-1914, Göttingen 1994, S. 139; vgl. zum Folgenden ebd., S. 317.

[10] Kocka, Jürgen, Das europäische Muster und der deutsche Fall, in: Ders. (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1: Einheit und Vielfalt Europas, Göttingen 1995, S. 9-84, S. 17 f.

[11] Schanzlin, Hans Peter, Basels private Musikpflege im 19. Jahrhundert, Basel 1961; Tanner, Albert, Arbeitsame Patrioten – wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz 1830-1914, Zürich 1995, S. 426-30, 438.

[12] Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1982, S. 36.

[13] Salmen, Haus- und Kammermusik (wie Anm. 6), S. 169-171 und 185.

[14] Bourdieu, Unterschiede (wie Anm. 11), S. 142 (Hervorhebungen im Original).

[15] Ebd., S. 135 (erstes Zitat), 136 (zweites Zitat).

[16] Deutsch, Otto Erich (Hg.), Schubert. Die Dokumente seines Lebens, Wiesbaden 1996, S. 399f.; zum Ablauf der Schubertiaden auch Briefe und weitere Tagebucheinträge ebd., bes. S. 115, 206, 275f., 388f., 424 und 488; ferner Art. Schubertiade, in: Schubert-Lexikon (wie Anm. 3), S. 410 f.; Dürr, Walther, Schubert in seiner Welt, in: Ders.; Krause, Andreas (Hgg.), Schubert-Handbuch, Kassel 1997, S. 2-76, hier 26-32.

[17] Hilmar, Ernst, Schubert, Graz 1989, S. 193.

Quelle

Moritz von Schwind: Schubertiade (1868). Dieses Bild befindet sich in der Public Domain. Die digitale Reproduktion ist abrufbar unter http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Bild:Moritz_von_Schwind_Schubertiade.jpg&filetimestamp=20060126183500


Literaturhinweise:

  • Budde, Gunilla-Friederike, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840-1914, Göttingen 1994.
  • Dürhammer, Ilja, Schuberts literarische Heimat: Dichtung und Literaturrezeption der Schubert-Freunde, Wien 1999.
  • Mettele, Gisela, Der private Raum als öffentlicher Ort. Geselligkeit im bürgerlichen Haus, in: Hein, Dieter; Schulz, Andreas (Hgg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996, S. 155-69.
  • Ottomeyer, Hans u.a. (Hgg.), Biedermeier. Die Erfindung der Einfachheit, Ostfildern 2006.
  • Petrat, Nicolai, Hausmusik des Biedermeier im Blickpunkt der zeitgenössischen musikalischen Fachpresse (1815-1848), Hamburg 1986.


Für das Themenportal verfasst von

Joachim Eibach

( 2008 )
Zitation
Joachim Eibach, Die Schubertiade. Bürgerlichkeit, Hausmusik und das Öffentliche im Privaten, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2008, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1462>.
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