Friedenserklärung Gleichgewicht und Konsens in den internationalen Beziehungen in Europa um 1815

Die Frage nach den Ursachen von Kriegen gehört zu den zentralen Themen internationaler Geschichte. Erklärungsbedürftig sind aber auch ausgedehnte Friedensperioden, insbesondere dann, wenn sie auf jahrzehntelange militärische Konflikte folgen. Das weitgehend friedliche Nebeneinander der europäischen Großmächte nach 1815 ist dafür ein markantes Beispiel. Wie lässt sich der im Vergleich zur Entwicklung zwischen 1792 und 1814/15 „lange Frieden“ nach den Napoleonischen Kriegen erklären? Diese Frage hat Paul W. Schroeder in den Mittelpunkt einer umfangreichen Monographie über den Wandel der europäischen Politik zwischen 1763 und 1848 gerückt. Hier und bereits in einer ganzen Reihe von kleineren Veröffentlichungen, entwickelt Schroeder seine „Friedenserklärung“, die der Großmachtdiplomatie 1813/14 eine Schlüsselstellung in der Etablierung einer neuen Sicherheitsarchitektur zuspricht. [...]

Friedenserklärung. Gleichgewicht und Konsens in den internationalen Beziehungen in Europa um 1815[1]

Von Günther Kronenbitter

Die Frage nach den Ursachen von Kriegen gehört zu den zentralen Themen internationaler Geschichte. Erklärungsbedürftig sind aber auch ausgedehnte Friedensperioden, insbesondere dann, wenn sie auf jahrzehntelange militärische Konflikte folgen. Das weitgehend friedliche Nebeneinander der europäischen Großmächte nach 1815 ist dafür ein markantes Beispiel. Wie lässt sich der im Vergleich zur Entwicklung zwischen 1792 und 1814/15 „lange Frieden“ nach den Napoleonischen Kriegen erklären? Diese Frage hat Paul W. Schroeder in den Mittelpunkt einer umfangreichen Monographie über den Wandel der europäischen Politik zwischen 1763 und 1848 gerückt.[2] Hier und bereits in einer ganzen Reihe von kleineren Veröffentlichungen, entwickelt Schroeder seine „Friedenserklärung“, die der Großmachtdiplomatie 1813/14 eine Schlüsselstellung in der Etablierung einer neuen Sicherheitsarchitektur zuspricht. Das ist an und für sich weder neu noch überraschend, aber Schroeder stellt die Prinzipien und Praktiken der Großmachtpolitik des 18. Jahrhunderts und der Napoleonzeit klar denjenigen gegenüber, die ab 1814 das Handeln der Staatsmänner und Diplomaten Europas prägten. Statt einer Politik der „balance of power“, bei der krudes Machtkalkül regiert habe, sei nun das „political equilibrium“ zum Maßstab geworden, also ein Ausgleich der Rechte aller Akteure internationaler Politik. Schroeder charakterisiert diesen Wandel als „Revolution“ europäischer Politik, die tiefere Spuren hinterlassen habe als die Umbrüche im revolutionären Frankreich. Er hält alle Versuche, diesen Umbruch aus bloßer Erschöpfung und Kriegsmüdigkeit abzuleiten, für zu kurz gegriffen. Vielmehr sieht Schroeder ein neues und besseres Verständnis der Gesetzmäßigkeiten zwischenstaatlicher Politik am Werk. Die Einsicht in den Eigenwert und die Funktionsbedingungen eines stabilen Systems internationaler Beziehungen habe die Reduktion der Politik auf puren Macht- und Überlebenskampf verdrängt.

Kritiker Schroeders haben gerade an der zugespitzten Gegenüberstellung von 18. und 19. Jahrhundert deutliche Zweifel angemeldet. Ob nicht doch, etwa auf dem Wiener Kongress, das Austarieren von Macht und Gegenmacht eine entscheidende Rolle in der Großmachtdiplomatie hat, bleibt strittig. Auch die Verwendung der Leitbegriffe „equilibrium“ einerseits und „balance of power“ andererseits bleibt fragwürdig, passt diese doch nur sehr begrenzt zum Sprachgebrauch der Zeitgenossen und wirkt daher willkürlich.[3] Schroeders Gesamteinschätzung lautet dennoch: „A fundamental change occurred in the governing rules, norms, and practices of international politics. Those of the eighteenth century, with its competitive and conflictual balance of power, gave way to those of the nineteenth-century concert and political equilibrium.“ Auch ernste Konflikte seien so friedlich gelöst worden. Verändert worden seien „the spirit and goals of international politics. Aims considered normal and permissible in the eighteenth century were banned in the nineteenth, practices routinely sanctioned or prescribed“ – wie beispielsweise Teilungen und Kompensationen – „were proscribed.“[4] Dieses Umdenken kann als Lernprozess gedeutet werden, der vor allem die Einsicht in die Grundlagen für die Funktionsfähigkeit gewaltarmer Konfliktlösungsmechanismen zum zentralen Element erfolgreicher Staatskunst erhob. Auf einer bloßen Balance of Power-Politik beruhte, so Schroeder, weder der Wiener Kongress noch die in seiner Schlussakte grundgelegte Ordnung.[5]

Für die vom antirevolutionären Konsens getragene Kongressdiplomatie der ersten Jahre nach 1815, in der systematisch die Vertragsbestimmungen der Quadrupelallianz umgesetzt wurden, hat Anselm Doering-Manteuffel den Terminus „Wiener System“ vorgeschlagen. So kann begrifflich die spätestens 1822 beendete Phase europäischer Politik von den 1814/15 grundgelegten Strukturen einer weitaus dauerhafteren „Wiener Ordnung“ geschieden werden.[6] Ohne auf Formen übernationaler Organisation zurückgreifen zu können, sicherten die Anerkennung des Existenzrechts aller Mitglieder des Staatensystems, die Garantie der bestehenden Grenzen und das Zusammenwirken der Großmächte bei der Lösung von Konflikten Europa jahrzehntelang vor einem allgemeinen Krieg. Die Revolutionen 1848/49 führten die Funktionsfähigkeit der internationalen Ordnung Europas vor Augen und deren Grundlage, nämlich die Entschlossenheit, Großmachtkriege zu vermeiden. Noch der Krimkrieg mündete in Versuche zu einer Wiederbelebung des europäischen Konzerts. Bis 1914 kam es immer wieder zu Versuchen, durch den Konsens der Großmächte Konflikte zu entschärfen, beispielsweise auf der Londoner Botschafterkonferenz, die sich der Lage auf dem Balkan seit 1912 annahm. Die Wiener Ordnung vermittelte zwischen der Norm der Gleichberechtigung souveräner Staaten und der machtpolitischen Realität, die von Ungleichgewichten geprägt war. Sie beruhte daher auch auf der Abstufung von Mitgestaltungsrechten. Scharf geschieden waren die Großmächte, die bei allen europäischen Fragen mitsprechen konnten, von den übrigen Akteuren internationaler Politik, die nur in eigener Sache mitsprechen durften und sich dem Konsens der Großmächte im Zweifelsfall zu beugen hatten.

Deutungswandel

Wie bewusst sich die Zeitgenossen tatsächlich des grundlegenden Wandels der internationalen Politik waren, den sie selbst erlebten und mitgestalteten, ist eine Frage, die auch von Schroeder nur partiell beantwortet wird. Am Beispiel von Friedrich Gentz, dem Berater des österreichischen Außenministers Metternich und Sekretär des Wiener Kongresses, kann hier dieser Frage nachgegangen werden. In seinen 1806 veröffentlichten „Fragmenten aus der neusten Geschichte des politischen Gleichgewichts“ hat Gentz eine berühmt gewordene Definition des Gleichgewichts gegeben: „Das, was man gewöhnlich politisches Gleichgewicht (balance du pouvoir) nennt, ist diejenige Verfassung neben einander bestehender Staaten, vermöge deren keiner unter ihnen die Unabhängigkeit oder die wesentlichen Rechte eines andern, ohne wirksamen Widerstand von irgend einer Seite, und folglich ohne Gefahr für sich selbst, beschädigen kann.“[7] Mit einer Position, die heute der Schule des Realismus in den Internationalen Beziehungen zugeordnet werden würde, fügte Gentz hinzu, es handele sich bei seiner „wohlverstandne[n] Theorie eines Gleichgewichts in der politischen Welt“ eigentlich um eine „Theorie der Gegen-Gewichte (système des contre-poids), […] [d]enn selbst das höchste ihrer Resultate ist nicht sowohl ein vollkommnes Gleichgewicht, als eine beständige wechselseitige Schwankung, die aber, durch Gegen-Gewichte geregelt, nie über gewisse Gränzen hinausschweifen kann.“[8]

Wo lagen die Ansatzpunkte für eine Neubestimmung des Gleichgewichtsbegriffs, wie ihn Schroeder unter den Diplomaten und Staatsmännern Europas seit 1813 verortet?[9] Zunächst nur darin, dass nicht von der Durchsetzung von Machtinteressen die Rede ist, sondern von Rechten. Das Gleichgewicht solle bewirken, „daß dem Kleinsten wie dem Größten sein Recht gesichert sey, und daß er durch unrechtmäßige Gewalt weder gezwungen noch verletzt werden könne.“[10] Der „eigentliche Charakter eines völkerrechtlichen Gemeinwesens (wie es im neuern Europa sich gebildet) und der Triumph seiner Vortrefflichkeit“ sei es, „daß eine gewisse Anzahl auf sehr verschiednen Stufen von Macht und Reichthum stehender Staaten, unter dem Schutz eines gemeinschaftlichen Bandes, ein Jeder unangetastet in seinen sichern Gränzen verharre, und der, dessen ganzes Gebiet eine einzige Stadt-Mauer umschließt, von seinen Nachbarn so heilig gehalten werde, als jener Andre, dessen Besitz und Gewalt sich über Länder und Meere erstreckt.“[11] Ohne Einsicht in die Grundlagen des Systems und Beharrlichkeit bei deren Verteidigung war eine Gleichgewichtsordnung nicht zu erreichen oder zu bewahren. Die Teilung Polens und die Diplomatie der europäischen Mächte in den Koalitionskriegen bis 1813 boten Beispiele für den „Mißbrauch der Form“ und die „Erschlaffung des Geistes“, die Gentz als Ursachen der Gewaltherrschaft Napoleons über Europa ausmachte.[12]

Die inhaltliche Neufüllung des Gleichgewichtsgedankens fasste Gentz 1819 in einer Polemik gegen den französischen Publizisten de Pradt zusammen, der nach dem Kongress von Aachen 1818 den Mächten der Quadrupelallianz vorwarf, eine inakzeptable Ordnung Europas zu zementieren, die nicht nur Frankreich schwäche, sondern durch die Sonderstellung Russlands und Englands weit von jedem Machtgleichgewicht entfernt sei, ganz abgesehen davon, dass mit der Heiligen Allianz ein ideologisches und damit wesensfremdes Element in der Diplomatie Einzug gehalten habe. „Das heutige Föderativ-System von Europa hat sich unmittelbar aus der großen Verbindung, die im Jahre 1813 zur Auflösung des Napoleonischen Reiches gebildet worden war, entwickelt. Gleichwie diese Verbindung nicht den Charakter einer eigentlichen Allianz, im alten diplomatischen Sinne, sondern den einer bewaffneten Koalition zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit darbot, so kann man das nach beendigtem Kriege daraus hervorgegangene politische System eine Koalition des Friedens nennen. In diesem System hat jeder europäische Staat seinen bestimmten und festen Platz; sie sind sammt und sonders durch gemeinschaftlich anerkannte Grundsätze, und durch gemeinschaftliche positive Verträge zu Einem Zweck verbunden; sie genießen alle gleiche Rechte“, auch wenn im Krieg die „die Hauptmächte eine einstweilige Oberleitung der Geschäfte, eine Art föderativer Diktatur ausübten“. Spätestens seit dem Kongress von Aachen seien jedoch „jene Hauptmächte nichts mehr, als die ersten und natürlichsten Beschützer der allgemeinen, durch wiederholte Verträge bekräftigten Ordnung und des von der ganzen Christenheit beschwornen, auf politischen, ökonomischen, moralischen und religiösen Grundlagen mehr als je zuvor befestigten Friedens. Der kleinste souveraine Staat ist übrigens auf einem Gebiet, und in dem Wirkungskreise seiner Rechte, so unabhängig als Frankreich, England oder Rußland; und die wechselseitigen Verhältnisse von Staaten werden durchaus nach alt-völkerrechtlichen Grundsätzen und in rein-diplomatischen Formen verhandelt.“[13]

Die Heilige Allianz etablierte in den Großmachtbeziehungen eine weltanschauliche Deutungsebene internationaler Politik, die nur so lange konsensfähig blieb, wie darauf verzichtet wurde, sie zur Grundlage konkreter diplomatischer oder militärischer Maßnahmen zu machen. Das Gewicht der Heiligen Allianz sollte nicht überschätzt werden, auch wenn sie von Metternich in der Orientalischen Frage dazu benutzt wurde, Zar Alexander I., ihren Urheber, auf en Erhalt des status quo festzulegen. Metternich selbst war es gewesen, der den Ehrgeiz Alexanders, mit der Heiligen Allianz einen radikalen Neuanfang in den internationalen Beziehungen zu wagen, erfolgreich gebremst hatte.[14] Die österreichische Außenpolitik vermied es tunlichst, die Grundprinzipien der modernen Staatenwelt über Bord zu werfen. Die Visionen Adam Müllers oder Friedrich Schlegels von einer alternativen, überstaatlichen Ordnungsstruktur, inspiriert von einem idealisierten Bild mittelalterlichen Kaisertums, blieben ohne Einfluss auf die außenpolitische Praxis.[15] Die alten Regeln der Staatenwelt blieben erhalten; „Wien“ und „Westfalen“ ergänzten einander. „Verträge allein“, so meinte Gentz, „sind das Verbindungsmittel zwischen unabhängigen Staaten; eine höhere rechtliche Sanction für diese Verträge gibt es nicht; denn die Staaten sind nicht mehr unabhängig, wenn sie einen höheren Richter erkennen. Aber die einzige wahre Sanction der Verträge der Staaten ist ja ohnehin nur ihre wechselseitige Moralität. Diese muß also cultiviert, diese muß mehr und mehr gegründet werden.“[16]

Metternich betrachtete dies als Fundament erfolgreicher Außenpolitik, denn die „moderne Geschichte […] zeigt uns die Anwendung des Princips der Solidarität und des Gleichgewichtes zwischen den Staaten und bietet und das Schauspiel der vereinten Anstrengungen mehrerer Staaten gegen die jeweilige Uebermacht eines Einzelnen, um die Ausbreitung seines Einflusses hemmen und ihn zur Rückkehr in das gemeine Recht zu zwingen. Die Herstellung internationaler Beziehungen auf der Grundlage der Reciprocität unter der Bürgschaft der Achtung vor den erworbenen Rechten und der gewissenhaften Erhaltung des beschworenen Wortes bildet heutzutage das Wesen der Politik, von der die Diplomatie nur die tägliche Anwendung ist.“[17] In einem Brief an den Hospodaren der Walachei, den Staathalter des Sultans an der unteren Donau, brachte schließlich Gentz das Neue in der internationalen Politik auf die Foprmel: „Au principe de l’équilibre ou, pour mieux dire, des contre-poids formés par des alliances particulières, principe qui a gouverné, et trop souvent aussi trouble et ensanglanté l’Europe pendant trios siècles, a succédé un principe d’union générale, réunissant la totalité des États par un lien fédératif, sous la direction des cinq principales Puissances.“[18]

Widersprüche

Diese leitende Hand richtete sich in der Zeit des Wiener Systems eindeutig gegen alle politischen Kräfte, die als aufrührerisch eingeschätzt werden konnten. Interventionen, die darauf zielten, Revolutionsherde zu löschen, bevor die zwischenstaatliche Ordnung ernsthaft gefährdet war, mochten ein konsensfähiges Instrument der Steuerung sein, so lange die Definition einer Umsturzbewegung von einem für die internationale Gemeinschaft bedrohlichem Ausmaß in den Schaltzentralen der europäischen Mächte geteilt wurde. Der präventive Charakter, den eine solche Politik prinzipiell besaß – und besitzen musste, wenn der Anspruch auf Friedenswahrung eingelöst werden sollte –, war aber auch die Sollbruchstelle einer aktivistischen Auslegung der Rolle des Großmacht-Konzerts. Was für Österreich oder Frankreich eine ernsthafte Bedrohung zu sein versprach, mochte aus britischer Sicht kaum ein nennenswertes Risiko darzustellen. Das State Paper des britischen Außenministers Castlereagh vom Mai 1820 hat diese Differenz klar benannt. Nur die konservativen Monarchien Russland, Preußen und Österreich kooperierten auch nach den Kongressen von Troppau, Laibach und Verona immer wieder als strikte Verteidiger des status quo. Die Zeit der militärischen Unternehmungen zur Revolutionsabwehr in Spanien oder Italien im Namen Europas waren jedoch gezählt. Immerhin fanden die Großmächte im Fall von Belgien und letztlich auch in der Griechischen Frage zu einer Anpassung des Staatensystems, ohne das europäische Konzert auf längere Sicht aus dem Takt zu bringen.

Interventionsbedarf zeichnete sich aber nicht nur bei Krisen ab, die von Unabhängigkeitskämpfen ausgelöst wurden, sondern auch auf Gebieten, die schon die Zeitgenossen primär als humanitäre Fragen bewerteten, so beim Verbot des Sklavenhandels oder beim Vorgehen gegen die nordafrikanische Piraterie. Die Ansätze zu einer Politik kollektiver Umsetzung vereinbarter humanitärer Standards waren jedoch zaghaft und standen im Zweifelsfall hinter den politischen und ökonomschen Interessen der beteiligten Mächte zurück. Dennoch erwies sich das Konzept einer friedenssichernden Intervention der europäischen Mächte an der Peripherie des Staatensystems als durchaus praxistauglich. Im südosteuropäischen Raum und der Levante, den Randzonen des europäischen Staatensystems und dem Austragungsort des Ringens um die Orientalische Frage, kam es wiederholt zu solchem Eingreifen. Voraussetzung war das starke Interesse der meisten Großmächte an der Entschärfung und Lokalisierung regionaler Gewaltkonflikte und die Fähigkeit, die regionalen Akteure dazu zu zwingen, die Macht des europäischen Konzerts zu akzeptieren. Der neue Geist europäischer Kooperation nach 1813 ließ dem Expansionsdrang der Europäer neuen Spielraum und konnte aggressive Machtpolitik begünstigen, so etwa in Afrika oder China. In Europa bewährte sich die Konzertpolitik dagegen immer wieder als praxistaugliche Form, den Frieden in der Staatenwelt zu wahren oder wiederherzustellen.

Das sollte jedoch nicht dazu verleiten, die Widersprüche zu negieren, von denen die Großmachtdiplomatie nach 1813/14 geprägt war. Dies galt für die politische Praxis, in der es oft genug ökonomische oder militärische Zwangslagen oder gar Zufallskonstellationen waren, die die friedliche Konfliktlösung erlaubten.[19] Darüber hinaus spiegelt sich das zwiespältige Verhältnis der Entscheidungsträger zu den Normen internationaler Politik aber auch in den Wertungen der Ordnungsstrukturen. Die Abneigung gegen Doktrinen, die den Handlungsspielraum der Diplomatie verengten, war nicht nur Politikern wie Castlereagh oder Metternich gemein, sondern wurde auch von Beobachtern wie Gentz geteilt, der nicht nur der Rhetorik der Heiligen Allianz mit Skepsis gegenüber stand. Als Sekretär des Wiener Kongresses fasste er seine Einschätzung des diplomatischen Treibens im Februar 1815 so zusammen: „Les grandes phrases de ‚régénération du système politique de l’Europe’, de ‚paix durable fondée sur une juste répartition de forces’, etc., etc., se débitaient pour tranquilliser les peuples, et pour donner à cette réunion solennelle un air de dignité et de grandeur; mais le véritable but du Congrès était le partage entre les vainqueurs des dépouilles enlevées au vaincu.“[20] Zwei Wochen später erzwang Napoleons Rückkehr auf die Bühne der europäischen Politik die Wiederbelebung der Kriegskoalition und auf Waterloo folgte die Erneuerung der Quadrupelallianz und die Gründung der Heiligen Allianz. Selbst in der anschließenden Hochphase der Kongressdiplomatie blieb sich Gentz jedoch der Tatsache bewusst, dass die Stabilität in den internationalen Beziehungen davon abhing, dass Konsens und Kooperation nicht im Widerspruch zu den nationalen Interessen der einzelnen Großmächte stand.[21]

Diese Einschätzungen stützen eher den beispielsweise von Alan Sked erhobenen Einwand gegen Schroeders Thesen, diese würden die Rolle von Konsens und Kooperation in der internationalen Politik nach 1815 dramatisch überschätzen. Aus der Warte eines „Realisten“ – im Sinne der Methoden im Forschungsfeld der Internationalen Beziehungen – erscheint besonders das Bestreben fehlgeleitet „to over-systematise the past. States in Europe had to co-exist. They could not do so anarchically, but very rarely did they do so systematically. The word ‚system’ in the phrase ‚European state system’ should therefore not be taken too literally.“[22] So wichtig es ist, die Widersprüche in den Deutungsmustern und Handlungsweisen der Akteure nicht aus den Augen zu verlieren, so blendet eine Analyse der internationalen Politik, die das Staatensystem letztlich als Chimäre einstuft, wichtige Elemente der zeitgenössischen Debatte aus, die helfen können, den beobachtbaren Wandel in den zwischenstaatlichen Beziehungen im frühen 19. Jahrhundert zu erklären. Zu den transnationalen Voraussetzungen internationaler Politik gehörte neben der Ausgestaltung von Diplomatie und Völkerrecht auch die Wahrnehmung von kulturellen Gemeinsamkeiten und Strukturähnlichkeiten der europäischen Staaten und Gesellschaften. Der Wandel in den Deutungen und Normen der zwischenstaatlichen Politik sollte daher einen wichtigen Platz in der internationalen Geschichte einnehmen. Auch eine vorgestellte Staatengemeinschaft, wie sie von Zeitgenossen und Historikern auf den Begriff des Staatensystems gebracht wird, hat Einfluss auf das Handeln von Entscheidungsträgern. Das verstärkte Bemühen der europäischen Großmächte um Konsenslösungen im frühen 19. Jahrhundert ist dafür ein Beispiel.

Erst der Geltungsverlust des Konzerts in der Krisensequenz internationaler Politik vor 1914 zerstörte dieses Fundament der Wiener Ordnung endgültig. Der Kollaps der europäischen Friedensordnung im Sommer 1914 war nicht zuletzt das Resultat eines längerfristigen Prozesses. In den Worten Schroeders war es die Erosion der Wirkungsmacht jener Prinzipien, die die europäische Politik seit 1813/14 maßgeblich geprägt hatten: „Europe had remained generally peaceful throughout the nineteenth century not by the natural workings of the balance of power, but by restraints on it – a system of rules, norms, and practices enabling actors, especially the great powers, to act on the assumption that rivalry and competition, though inescapable, would not destroy them. The original Vienna system of guarantees had broken down and been discarded, but new versions of deterrence/assurance had emerged or survived providing enough such confidence to keep the system going. By 1914 that belief was gone, replaced by the conviction that the next, inevitable war would be one fought not within limits by governments, but to the death by whole peoples – a belief that helped postpone war till 1914 and bring it on then. The fund of assurances and mutual restraints had run out; everyone’s hopes for peace rested on making others accept the unacceptable. July 1914 marks not just the onset of war, but the exhaustion of peace.”[23]



[1] Essay zur Quelle: Friedrich Gentz, Texte zu Gleichgewicht und Konsens in den internationalen Beziehungen Europas (1806, 1818 und 1819); [Ausschnitte].

[2] Schroeder, Paul W., The Transformation of European Politics, 1763-1848, Oxford 1994.

[3] Vgl. die Beiträge in: Paul W. Schroeder’s International System. Essays in Celebration of the Transformation of European Politics, 1763, in: International History Review 26 (1994), S. 661-754 und in: AHR Forum, in: American Historical Review 97 (1992), S. 683-735 sowie in: Krüger, Peter; Schröder, Paul W. (Hgg.), „The Transformation of European Politics, 1763-1848“: Episode or Model in Modern History?, Münster 2002.

[4] Schroeder, Transformation, S. VII.

[5] Schroeder, Paul W., Systems, Stability, and Statecraft: Essays on the International History of Modern Europe, hg. von Wetzel, David; Jervis; Robert; Levy, Jack S., New York 2004, S. 37-57.

[6] Doering-Manteuffel, Anselm, Vom Wiener Kongreß zur Pariser Konferenz. England, die deutsche Frage und das Mächtesystem 1815-1856, Göttingen 1991, S. 41-56.

[7] Gentz, Friedrich, Gesammelte Schriften, hg. von Günther Kronenbitter, 12 Bde. in 24 Teilbänden, Hildesheim 1997-2004, hier Bd. IV, S. 1.

[8] Ebd., S. 8 f.

[9] Schroeder, Systems, S. 233.

[10] Gentz, Gesammelte Schriften, Bd. IV, S. 3.

[11] Ebd., S. 4.

[12] Ebd., S. 15.

[13] Gentz, Gesammelte Schriften, Bd. VIII/3, S. 96 f.

[14] Paulmann, Johannes, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000, S. 112.

[15] Kronenbitter, Günther, Deutsche Romantik und österreichische Außenpolitik 1806 bis 1829, in: Aspalter, Christian u.a. (Hgg.), Paradoxien der Romantik. Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in Wien im frühen 19. Jahrhundert, Wien 2006, S. 186-201, hier S. 199 f.

[16] Gentz, Friedrich, Kant’s Rechtslehre, in: Aus dem Nachlasse Friedrichs von Gentz, hg. von Prokesch-Osten, Graf Anton (Sohn), 2 Bde., Wien 1867/68, hier Bd. I, S. 289-301, hier S. 301

[17] Metternich, Clemens Fürst, Materialien zur Geschichte meines öffentlichen Lebens (1773-1815), in: Aus Metternich’s nachgelassenen Papieren, hg. von Metternich-Winneburg, Richard Fürst, 8 Bde., Wien 1880-1884, hier Bd. I, S. 1-272, hier S. 33.

[18] Dépêches inédites du Chevalier de Gentz aux hospodars de Valachie. Pour servir à l’histoire de la politique européene (1813 à 1828), hg. von Prokesch-Osten, Comte [Anton], 3 Bde., Paris 1876/77, hier Bd. I, S. 354.

[19] Vgl. hier und im Folgenden die scharfe Kritik an Schroeder in Sked, Alan, Metternich and Austria: An Evaluation, New York 2008, S. 54-63.

[20] Gentz, Friedrich von, Denkschrift vom 12.2.1815, in: Metternich’s nachgelassene Papiere, Bd. II, S. 473-502, hier S. 474. Vgl. auch Sked, Metternich and Austria, S. 54.

[21] Dépêches inédites du Chevalier de Gentz, 356-360. Vgl. Gentz, Friedrich, Denkschrift vom November 1818, in: Metternich’s nachgelassene Papiere, Bd. III, S. 164-170.

[22] Sked, Metternich and Austria, S. 61.

[23] Schroeder, Paul W., International Politics, Politics, Peace, and War, in: Blanning, T. C. W. (Hg.), The Nineteenth Century: Europe 1789/1914, Oxford 2000, S. 158-209, hier S. 209.

Literaturhinweise:


  • Erbe, Michael, Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1785-1830, Paderborn 2004.
  • Duchhardt, Heinz, Gleichgewicht der Kräfte – Convenance – Europäisches Konzert. Friedenskongresse und Friedensschlüsse vom Zeitalter Ludwigs XIV. bis zum Wiener Kongress, Darmstadt 1976.
  • Holbraad, Carsten, The Concert of Europe. A Study in German and British International Theory 1815-1914.
  • Schroeder, Paul W., The Transformation of European Politics, 1763-1848, Oxford 1994.
  • Schulz, Matthias, Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat 1815-1860, München 2009.

Friedrich Gentz, Texte zu Gleichgewicht und Konsens in den internationalen Beziehungen Europas (1806, 1818 und 1819); [Ausschnitte]

1. Quelle

[Gentz, Friedrich], Fragmente aus der neusten Geschichte des politischen Gleichgewichts in Europa, St. Petersburg (Leipzig) 1806 (=Friedrich Gentz, Gesammelte Schriften, hg. von Kronenbitter, Günther, Bd. IV, Hildesheim 1997), S. 1-9

I. Von dem wahren Begriffe eines politischen Gleichgewichts.

Das, was man gewöhnlich politisches Gleichgewicht (balance du pouvoir) nennt, ist diejenige Verfassung neben einander bestehender und mehr oder weniger mit einander verbundner Staaten, vermöge deren keiner unter ihnen die Unabhängigkeit oder die wesentlichen Rechte eines andern, ohne wirksamen Widerstand von irgend einer Seite, und folglich ohne Gefahr für sich selbst, beschädigen kann.

Die Aehnlichkeit mit körperlichen Gegenständen, nach welchen das Wort gebildet ward, hat Gelegenheit zu mancherlei Mißdeutung gegeben. Man hat sich vorgestellt, die, welche in dem Gleichgewicht der Macht die Grundfläche einer Staaten=Verbindung erkanten, beabsichteten eine möglichst=vollständige Gleichheit, oder Ausgleichung der Kräfte, und verlangten, dass die verschiednen Staaten eines durch politische Bande in ein Ganzes verknüpften Bezirkes, in Rücksicht auf Größe, Volksmenge, Reichthum, Hülfsquellen u. s. f. aufs genauste gegen den andern abgemessen, abgewogen und abgerundet seyn sollten. Aus dieser Voraussetzung sind, je nachdem man sie gläubig oder skeptisch auf die Staatsverhältnisse anwenden wollte, zwei einander entgegenstehende Irrthümer, der eine fast so schädlich als der andre, entsprungen. Die, welche jenes eingebildete Prinzip in seinem ganzen Umfang annahmen, wurden dadurch zu einer Meinung geführt, als ob in jedem Falle, wo sich ein Staat durch äußern Zuwachs oder innre Entwicklung verstärkte, die übrigen Widerstand leisten, und so lange kämpfen müßten, bis sie entweder ein Aequivalent errungen, oder jenen in die vorige Verfassung zurück gebracht hätten. Dagegen erklärten die andern, in ihrer ganz richtigen Ueberzeugung von der Unmöglichkeit eines solchen Systems, die ganze Idee eines politischen Gleichgewichts der Macht für ein Hirngespinst, von Träumern erfunden, und von Schlauköpfen künstlich benutzt, damit es nur an Vorwänden zum Streit, zur Ungerechtigkeit und zur Gewaltthätigkeit nicht gebreche. Der erste dieser Irrthümer würde den Frieden von der Erde verbannen; der letzte würde der Alleinherrschaft eines eroberungssüchtigen Staats die erwünschtesten Aussichten eröffnen.

Beide Irrthümer beruhen auf eben der Verwechselung der Begriffe, der wir auf dem Gebiet der innern Staatsverhältnisse alle lockre und luftige Theorien von bürgerlicher Gleichheit, und alle mißlungne praktische Versuche, diese zur Vollziehung zu bringen, verdanken. Gleich im Rechte, oder gleich vor dem Rechte sollen in jedem wohlgeordneten Staate die sämmtlichen Bürger, und in jeder wohlgeordneten Völker=Gemeinschaft die sämmtlichen Staaten seyn; aber gleich an Rechten keinesweges. Die wahre Gleichheit, die einzige auf rechtmäßigen Wegen erreichbare, besteht in einem, wie in dem andern Falle nur darin, daß dem Kleinsten wie dem Größten sein Recht gesichert sey, und daß er durch unrechtmäßige Gewalt weder gezwungen noch verletzt werden könne.

So wie es die Grundlage eines richtig=organisirten Staates und der Triumph seiner Verfassung ist, daß eine Menge an Rechten und Kräften, an Fähigkeiten und Ausbildung derselben, an ererbten und erworbenen Besitzungen im höchsten Grade ungleicher Personen durch gemeinschaftliche Gesetze und Regierung so glücklich neben einander bestehen, daß keine mit Willkühr in die Sphäre des Nachbarn greifen könne, und dem Aermsten seine Hütte und sein Feld in eben der uneingeschränkten Fülle, wie dem Reichsten sein Pallast und seine Herrschaften gehören: eben so wird es der eigentliche Charakter eines völkerrechtlichen Gemeinwesens (wie es im neuern Europa sich gebildet) und der Triumph seiner Vortrefflichkeit seyn, daß eine gewisse Anzahl auf sehr verschiednen Stufen von Macht und Reichthum stehender Staaten, unter dem Schutz eines gemeinschaftlichen Bandes, ein Jeder unangetastet in seinen sichern Gränzen verharre, und der, dessen ganzes Gebiet eine einzige Stadt=Mauer umschließt, von seine Nachbarn so heilig gehalten werde, als jener Andre, dessen Besitz und Gewalt sich über Länder und Meere erstreckt.So wie aber auch die beste, von Menschen zu erfindende Staats=Verfassung ihrem Zwecke nie vollständig entspricht, und immer noch einzelnen Verletzungen, Bedrückungen und Ungerechtigkeiten Raum läßt: desselben gleichen ist die vollkommenste Völker=Verfassung nicht stark genug, um jedem Eingriffe eines mächtigern Staates in die Gerechtsame eines Minder=Mächtigen zuvor zu kommen. Noch mehr: unter sonst gleichen Bedingungen wird allemal eine Völker=Verbindung verhältnismäßig weniger geschickt seyn, die Unabhängigkeit und Sicherheit ihrer Glieder, als ein Staat die rechtliche Gleichheit und Sicherheit seiner Bürger zu schützen.Die Sicherheit der Bürger eines Staates beruht auf der Einheit seiner Gesetzgebung und seiner Verwaltung. Die Gesetze gehen alle von demselben Mittelpunkte aus; ihre Aufrechterhaltung ist das Werk einer und derselben Gewalt, die Jeden, der sie zu verletzen geneigt wäre, durch regelmäßigen Zwang von dem unerlaubten Beginnen zurückführen, und Jeden, der sie wirklich übertrat, vor einem Richterstuhl zur Verantwortung ziehen kann. Das Gesetz, welches die Staaten unter einander verbindet, liegt blos in ihren wechselseitigen Verträgen; und so wie diese, bei der unbegränzten Mannigfaltigkeit der Verhältnisse, aus welchen sie entspringen, in ihrem Wesen, Geist und Charakter unendlicher Verschiedenheit fähig sind, so schließt auch die Natur ihres Ursprunges jede höhere, gemeinschaftliche Sankzion im strengen Wortverstande aus. Es giebt zwischen unabhängigen Völkern weder eine vollziehende, noch eine richterliche Macht; die eine, wie die andre durch äußre Veranstaltungen zu schaffen, war von Alters her ein fruchtloser frommer Wunsch und manches Wohlmeinenden eitles Bestreben. Was aber ganz zu vollbringen, die Natur des Verhältnisses untersagte, wurde wenigstens durch Annäherung erreicht; und im Staaten=System des neuern Europa war die Aufgabe so glücklich gelöset, als von Menschen und menschlicher Kunst vernünftiger Weise erwartet werden konnte.Es bildete sich unter den Staaten dieses Welttheils eine ausgebreitete gesellschaftliche Verbindung, deren wesentlicher und charakteristischer Zweck auf Erhaltung und wechselseitige Verbürgung der wohlerworbnen Rechte eines jeglichen ihrer Mitglieder gerichtet war. Von der Zeit an, da dieser ehrwürdige Zweck in seiner vollen Klarheit erkannt ward, entwickelten sich auch nach und nach die nothwendigen und ewigen Bedingungen, von denen seine Erreichbarkeit abhing. Man wurde gewahr, daß es in dem Verhältnis der Kräfte jedes einzelnen Bestandtheiles zum Ganzen gewisse Grundregeln gab, ohne deren beharrlichen Einfluß die Ordnung nicht gesichert seyn konnte; und es setzten sich allmählig folgende allgemeine Maximen als immerwährende Richtpunkte fest:Daß, wenn das Staaten=System von Europa bestehen, und durch gemeinschaftliche Anstrengungen behauptet werden soll, nie Einer der Theilnehmer an demselben so mächtig werden müsse, daß die Gesammtheit der Uebrigen ihn nicht zu bezwingen vermöchte;Daß, wenn jenes System nicht blos bestehen, sondern auch ohne beständige große Gefahr und heftige Erschütterungen behauptet werden soll, jeder Einzelne, der es verletzt, nicht blos von der Gesammtheit der Uebrigen, sondern schon von irgend einer Mehrheit (wenn nicht von einem Einzelnen) müsse bezwungen werden können;

Daß aber, um der Wechsel Gefahr einer ununterbrochnen Reihe von Kriegen oder willkührlichen Unterdrückung der Schwächern in jedem kurzen Zwischenraum des Friedens zu entrinnen, die Furcht vor gemeinschaftlichem Widerstande oder gemeinschaftlicher Rache der Andern in der Regel schon hinreichend seyn müsse, um Jeden in seinen Schranken zu halten; und

Daß, wenn irgend ein Europäischer Staat sich durch eigne rechtlose Unternehmungen zu einer Macht emporschwingen wollte, oder wirklich emporgeschwungen hätte, mit welcher er der fernen Gefahr einer Verbindung zwischen mehrern seiner Nachbarn, oder dem wirklichen Eintritt derselben, oder gar einem Bunde des Ganzen Trotz zu bieten vermöchte, ein solcher als gemeinschaftlicher Feind des gesammten Gemeinwesens behandelt; wenn hingegen eine ähnliche Macht durch zufällige Verkettung der Umstände, und ohne widerrechtliche That des Erwerbers, irgendwo auf dem Schauplatz erschiene, kein Mittel zur Schwächung derselben, das die Staats=Weisheit nur irgend an die and giebt, unversucht gelassen werden müsse.Der Inbegriff dieser Maximen ist die einzige wohlverstandne Theorie eines Gleichgewichtes in der politischen Welt.*)

*) Man würde sie vielleicht mit mehr Sicherheit Theorie der Gegen=Gewichte (système des contre-poids), genannt haben. Denn selbst das höchste ihrer Resultate ist nicht sowohl ein vollkommnes Gleichgewicht, als eine beständige wechselseitige Schwankung, die aber, durch Gegen=Gewichte geregelt, nie über gewisse Gränzen hinausschweifen kann.

2. Quelle

Dépêches inédites du Chevalier de Gentz aux hospodars de Valachie. Pour servir à l’histoire de la politique européene (1813 à 1828), hg. von Prokesch-Osten, Comte [Anton], Bd. I, Paris 1876, S. 354-356

Wien, 24. März 1818

Le système politique qui s’est établi en Europe depuis 1814 et 1815 est une phénomène inouï dans l’histoire du monde. Au principe de l’équilibre ou, pour mieux dire, des contre-poids formés par des alliances particulières, principe qui a gouverné, et trop souvent aussi trouble et ensanglanté l’Europe pendant trois siècles, a succédé un principe d’union générale, réunissant la totalité des États par un lien fédératif, sous la direction des cinq principales Puisssances, don’t quatre on tune part égale à cette direction, tandis que la cinquième se trouve encore, jusqu’à ce moment, placée sous une espèce de tutelle, don’t elle sortira bientôt pour se mettre sur la meme ligne avec ses tuteurs. Les États de second, de troisième, de quatrième ordre se soumettent tacitement, et sans que rien n’ait jamais été stipulé à cet égard, aux decisions prises en commun par les Puissances prépondérantes; et l’Europe ne semble former enfin qu’une grande famille politique, réunie sous les auspices d’un aréopage de sa proper creation, dont les members se garantisent à eux-mêmes, et garantissent à chacune des parties intéressées, la jouissance tranquille de leurs droits respectifs.

Cet ordre de choses a ses inconvénients. Mais il est certain que, si l’on pouvait le rendre durable, il serait, après tout, la meilleure des combinaisons possibles pour assurer la prospérité des peoples et le maintien de la paix qui en est une des premières conditions. L’objection la plus forte contre le système d’aujourd’hui est celle de la difficulté évidente de conserver pour longtemps l’amalgame d’éléments hétérogènes dont il se compose. Les intérêts les plus divergents, les tendances les plus opposées, les prétensions, les vues, les pensées secrètes les plus contradictoirees, sont englobés et submergés, pour le moment, dans l’action commune d’une ligue, qui ressemble beaucoup plus à une coalition, créée dans un but extraordinaire, qu’à une véritable alliance fondée sur des intérêts distincts et permanents. Il a fallu des circonstances uniques pour amener une ligue pareille; il serait contre la nature des hommes et des choses qu’elle remplaçât pour longtemps cet état d’opposition et de lutte, auquel la diversité de position, d’intérêts et d’opinion entraînera toujours une masse de Puissances indépendantes, dont chacune a nécessairement son caratère et son système particuliers. Cette perspective n’èst rien moins qu’indifférente. Car on ne peut se dissimuler que la chute d’une système actuellemet établi, par quelque nouveau système qu’il soit suivi, fera naître sur-le-champ un état d’incertitude, d’anxiété et de danger, et ouvrira les voies à un nouvel embrasement général dont les effets et le terme sont incalculables.

3. Quelle

Ueber de Pradt’s Gemälde von Europa nach dem Kongreß von Aachen (1819), in: Schriften von Friedrich von Gentz. Ein Denkmal. Dritter Theil. Kleinere Schriften von Friedrich von Gentz. Zweiter Theil, hg. von Schlesier, Gustav, Mannheim 1839 (=Friedrich Gentz, Gesammelte Schriften, hg. von Kronenbitter, Günther, Bd. VIII/3, Hildesheim 2002), S. 95-97

Das heutige Föderativ-System von Europa hat sich unmittelbar aus der großen Verbindung, die im Jahre 1813 zur Auflösung des Napoleonischen Reiches gebildet worden war, entwickelt. Gleichwie diese Verbindung nicht den Charakter einer eigentlichen Allianz, im alten diplomatischen Sinne, sondern den einer bewaffneten Koalition zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit darbot, so kann man das nach beendigtem Kriege daraus hervorgegangene politische System eine Koalition des Friedens nennen. In diesem System hat jeder europäische Staat seinen bestimmten und festen Platz; sie sind sammt und sonders durch gemeinschaftlich anerkannte Grundsätze, und durch gemeinschaftliche positive Verträge zu Einem Zweck verbunden; sie genießen alle gleiche Rechte, und wenn auch in dem stürmischen Zeitpunkte, wo diese neue Ordnung der Dinge – von welcher die Geschichte noch nichts Aehnliches aufzuweisen hat – zu Stande kam, die Hauptmächte eine einstweilige Oberleitung der Geschäfte, ein Art von föderativer Diktatur ausübten, so haben sie diese doch nie als ein Vorrecht in Anspruch genommen, sie stets nur im Sinn des allgemeinen Interesses geführt, und sie zu Aachen, nachdem die letzte provisorische Maßregel erfüllt war, feierlich niedergelegt. Forthin sind jene Hauptmächte nichts mehr, als die ersten und natürlichsten Beschützer der allgemeinen, durch wiederholte Verträge bekräftigten Ordnung und des von der ganzen Christenheit beschwornen, auf politischen, ökonomischen, moralischen und religiösen Grundlagen mehr als je zuvor befestigten Friedens. Der kleinste souveraine Staat ist übrigens auf einem Gebiet, und in dem Wirkungskreise seiner Rechte, so unabhängig als Frankreich, England oder Rußland; und die wechselseitigen Verhältnisse von Staaten werden durchaus nach alt-völkerrechtlichen Grundsätzen und in rein-diplomatischen Formen verhandelt.

Für das Themenportal verfasst von

Günther Kronenbitter

( 2009 )
Zitation
Günther Kronenbitter, Friedenserklärung Gleichgewicht und Konsens in den internationalen Beziehungen in Europa um 1815, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2009, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1485>.
Navigation