Sex Control (1972) Veröffentlicht im Rahmen des Themenschwerpunkts „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“

The sex control of all the competitors participating in the women’s sporting events in the 1972 Olympic Games will be carried out in accordance with the decisions and instructions of the Medical Commission of the International Olympic Committee. Neither the fact of this examination nor its results will be made public out of deference to the human rights of the individual. [...]

International Olympic Committee. Medical Commission (Hg.): Sex Control (1972)[1]

The sex control of all the competitors participating in the women’s sporting events in the 1972 Olympic Games will be carried out in accordance with the decisions and instructions of the Medical Commission of the International Olympic Committee. Neither the fact of this examination nor its results will be made public out of deference to the human rights of the individual.

Competitors who have been registered as being female must take a sex control examination within one or several days after entering the Olympic village.

The examination of all competitors in this category will be completed prior to the beginning of the events.

The test will be set up in the women’s quarters of the Olympic Village and carried out in the examination room in the presence of members of the I.O.C. Medical Commission.

Each team will be notified of the day and time of the test by the Sex Control Head Office in the name of the Medical Commission.

The women competitors of teams who have been notified will report to the examination room with their I.D. cards at the appointed time and day.

Women competitors who have taken a sex control test in past competitions and who have a sex control certificate issued either from the I.O.C. Medical Commission or from International Federation [sic] during world championships or continental championships proving their sex which the I.O.C. deems valid, will be exempted from the examination upon presenting that certificate.

The identity of the competitors appearing for the examination will be confirmed on the basis of their I.D. cards.

As a screening test, a sex chromatin test for X-chromosomes and a fluorescent body test for Y-chromosomes will be conducted. Should the above method be inconclusive, the examinee’s karyotype (chromosome map) will be examined. The samples will be taken from the buccal mucous membrane or hair roots.

The results of the examination will be reported to the chairman of the Medical Commission or his appointed representative only.

Should the results of the examination prove irregular, the chairman will call a meeting of the Medical Commission in the presence of a physician from the team and a representative of the International Federation concerned.

The Medical Commission will issue a medical certificate to those competitors whose test results prove normal.

Those competitors who fail to take this examination for no justifiable reason will be disqualified from taking part in the events.

The Chairman of the I.O.C. Medical Commission:

Prince Alexandre de Merode

Lausanne 1972


[1] International Olympic Committee. Medical Commission (Hg.), Sex Control, Lausanne 1972 (IOC Archives / Medical commission – publications 1966-1972). Abdruck mit freundlicher Genehmigung der International Olympic Committee Historical Archives.


Frauensport und Männerwelt im Kalten Krieg

Von Stefan Wiederkehr

Im Vorfeld der Olympischen Spiele von 1972 veröffentlichte die Medizinische Kommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) ein zweisprachiges Faltblatt unter dem Titel „Le contrôle de féminité/Sex control“[1], das die in Sapporo und München durchzuführenden Geschlechtertests reglementierte. Die Medizinische Kommission des IOC unter dem Vorsitz des belgischen Adeligen Alexandre de Merode (1934-2002) war 1967 ins Leben gerufen worden. Sie bildete das Resultat mehrjähriger Debatten innerhalb der IOC-Gremien, wie dem Problem des Dopings im olympischen Sport zu begegnen sei.[2] Kurzfristig wurde die Medizinische Kommission mit einer zusätzlichen Aufgabe betraut: Sie sollte durch geeignete Kontrollen sicherstellen, dass die Teilnehmerinnen bei Frauenwettbewerben tatsächlich Frauen sind. In der Folge fanden bei den Olympischen Spielen von 1968 bis 1998 systematische Labortests statt, die das Ziel hatten, das Geschlecht der untersuchten Sportlerin als eindeutig weiblich zu bestimmen und dies durch Ausgabe eines Zertifikats zu bestätigen. Diesen Tests hatten sich sämtliche Olympiateilnehmerinnen unter Androhung der Disqualifikation zu unterziehen. Das Faltblatt, das die 1972 anzuwendenden Methoden zur Feststellung des – chromosomalen – Geschlechts erläuterte und die Bedingungen, unter denen die Athletinnen zum Test zu erscheinen hatten, sowie die Voraussetzungen für die Anerkennung früherer Testresultate regelte, wurde sämtlichen Nationalen Olympischen Komitees frühzeitig zugestellt. Mit dieser Maßnahme reagierte die Medizinische Kommission des IOC auf Vorwürfe, vor den Spielen 1968 habe es an Transparenz über die zu erwartenden Tests gefehlt. Im vorliegenden Essay frage ich nach den Gründen, weshalb es zur Einführung der diskriminierenden Praxis der Geschlechtertests im Sport kommen konnte, und lege dar, welche Aporien sich aus dem Versuch ergaben zu definieren, wer „olympisch gesehen eine Frau“[3] sei.

In der Blockkonfrontation des Kalten Krieges nahm die Instrumentalisierung des Sports für die politische Propaganda eine zuvor ungekannte Intensität und Dauerhaftigkeit an.[4] Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs wurde das bessere Abschneiden in der Nationenwertung bei Olympischen Spielen als Indikator für die Überlegenheit des jeweiligen politischen Systems interpretiert. Entsprechend kam es zu einem Wettrüsten im Bereich des Sports – zum Aufbau von Talentförderungssystemen, zur Verwissenschaftlichung der Trainingsmethoden und auch zur, zumindest in den sozialistischen Ländern staatlich organisierten, Indienstnahme der (Sport)medizin für immer ausgefeilteres Doping. Dabei standen insbesondere die beiden Supermächte USA und Sowjetunion sowie die Bundesrepublik und die DDR in direkter Konfrontation. Beim jährlichen Treffen der Vorsitzenden der Sportorganisationen der sozialistischen Länder von 1975 drückte der sowjetische Vertreter dies wie folgt aus:

„Im Westen ist man sich bewusst, dass große Sportveranstaltungen, insbesondere die Olympischen Spiele, heutzutage ein Kriterium sind, mit Hilfe dessen die Weltöffentlichkeit [...] die gesellschaftlich-wirtschaftliche Überlegenheit des einen oder anderen Gesellschaftssystems beurteilen kann. Es ist kein Zufall, dass der gegenwärtige Anführer der größten kapitalistischen Macht, Gerald Ford, bekannte, dass ‚bei der heutigen Bedeutung von Massenveranstaltungen ein sportlicher Triumph ein ebenso wichtiges Mittel zur Hebung des Nationalstolzes ist wie der Sieg auf dem Schlachtfeld‘. [...] Die enormen Erfolge der Sportler aus den sozialistischen Staaten auf der internationalen Sportbühne bringen die westlichen Ideologen in eine schwierige Situation.“ [5]

Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs kommentierte die Schweizer Boulevard-Zeitung Blick die Olympischen Sommerspiele 1968 mit unverhohlener Schadenfreude:

„Der Kreml ist muff [Helvetismus für ‚verärgert‘, S. W.] darüber, wie das Sowjetteam in Mexiko von den amerikanischen ‚Kapitalisten‘ geradezu deklassiert wird: 88 US-Medaillen, davon 37 Gold, gegen nur 53, davon 16 Gold für die Sowjetunion [...]. Seit die USA so weit voran sind, werden in den Sowjet-Zeitungen [...] keine Medaillenspiegel mehr abgedruckt.“[6]

Neben anekdotischer Evidenz dieser Art existieren auch Studien mit wissenschaftlichem Anspruch, deren Autoren versuchten, „sportliche Leistung (bzw. Nicht-Leistung) als Ergebnis wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Bedingungen aufzufassen“[7] und entsprechend sportliche Erfolge zum Maßstab für die Bewertung politisch-gesellschaftlicher Systeme machten.

Im Kalten Krieg prallten aber nicht nur zwei politische Blöcke aufeinander, sondern auch unterschiedliche Wertsysteme und Vorstellungen von Weiblichkeit. Die Frauendisziplinen waren für die sportliche Systemkonkurrenz von nicht zu unterschätzender Bedeutung. In diesem Zusammenhang ist zunächst festzuhalten, dass für den Frauensport seit seinen Anfängen ein komplexes Wechselspiel von Inklusion und Exklusion kennzeichnend ist: Bot der Sport Frauen durchaus ein emanzipatorisches Potential, so bildete er doch stets ein Feld der Inszenierung von Geschlechtsunterschieden.[8] In vermutlich keinem anderen gesellschaftlichen Bereich ist die Segregation der Geschlechter bis heute so vollständig verwirklicht wie im Sport. Das offizielle Frauenbild in den sozialistischen Staaten war während des Kalten Krieges offenkundig ein anderes als zur selben Zeit in Westeuropa und den USA: Die bürgerliche Frau erfüllte in den 1950er und frühen 1960er Jahren die Rollenerwartungen in erster Linie als familienorientierte Hausfrau, die sozialistische Frau hingegen war gemäß Propaganda emanzipiert, leistete gleichberechtigt Erwerbsarbeit und handelte im öffentlichen Raum. Natürlich wäre es naiv, das Frauenbild der Propaganda mit der Wirklichkeit des sozialistischen Alltags gleichzusetzen. Die Familienverantwortung oblag auch hier fast ausschließlich den Frauen, die die Doppelbelastung durch Familie und Beruf allein zu bewältigen hatten.[9] Gleichwohl stieß der Frauenleistungssport in den sozialistischen Staaten auf geringeren Widerstand von Vertretern traditioneller Weiblichkeits- und Schönheitsideale, als dies in den kapitalistischen der Fall war. Die Tatsache, dass ihre Funktionäre und Trainer geringere mentale Barrieren gegen den Frauenleistungssport aufwiesen, erleichterte es den sozialistischen Staaten, diesen gezielt zu fördern, um in der Nationenwertung bei Großereignissen besser abzuschneiden. Diese Strategie hatte bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften spürbare Auswirkungen. In den amerikanisch-sowjetischen Leichtathletikbegegnungen, die seit 1958 unter großer Aufmerksamkeit des Publikums stattfanden, ging dies sogar so weit, dass die Sowjetunion regelmäßig den Gesamtsieg davontrug, obwohl die amerikanischen Männer die sowjetischen besiegt hatten.[10]

Einen Ausweg aus dem Dilemma, das in der frühen Nachkriegszeit noch weitgehend intakte Ideal der häuslichen und familienorientierten Frau verteidigen und gleichzeitig in den weiblichen Disziplinen Erfolge feiern zu wollen, fanden die westlichen Akteure darin, die gegnerischen Athletinnen abzuwerten. So machte sich in der westlichen Sportpresse seit den 1950er Jahren das Stereotyp der vermännlichten Ostblockathletin breit, die „eigentlich gar keine Frau“ ist. Die weit überwiegend männlichen (Sport-)Journalisten in den kapitalistischen Staaten schürten das Feindbild des Sozialismus, indem sie den Ostblockstaaten unterstellten, die Virilisierung (Vermännlichung der äußeren Erscheinung) von Frauen für den sportlichen Erfolg zu riskieren und so deren Menschenwürde leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Dem politischen Gegner wurde zugetraut und bisweilen offen unterstellt, auf widernatürliche Weise das Geschlecht von Athletinnen bzw. Athleten zu manipulieren, um sich im sportlichen Systemwettstreit illegitime Vorteile zu verschaffen:

„Dr. Nahum Sternberg, a medical advisor to the Soviet Ministry of Sports from 1956 to 1965, told Leo Heiman of Copley News Services some time ago that the Russians have used hormones to change boys into girls and to make women athletes more masculine.“ [11]

In der Art, wie die Los Angeles Times dieses Zitat argumentativ einsetzte, kam ein häufiges Missverständnis zum Ausdruck. Hormondoping, wie es im übrigen nicht nur im Ostblock praktiziert wurde, kann bei Frauen zur Virilisierung und im Extremfall zur Änderung der psychischen Geschlechtsidentität führen. Zur Identifizierung von Dopingsünderinnen und -sündern tragen die Geschlechtertests, die das Reglement von 1972 vorsieht, aber nicht das Geringste bei. Denn Doping hat keinen Einfluss auf die mit diesen Methoden analysierten Geschlechtschromosomen. Der Sexchromatintest, der auf das chromosomale Geschlecht abzielt, schlägt bei einem Individuum das ganze Leben lang gleich aus, auch wenn dieses systematisch dopt oder gar eine operative Geschlechtsumwandlung vollziehen lässt. Zum Nachweis von Hormon- und anderem Doping sind Dopingkontrollen mit ganz anderen Methoden notwendig. Dazu kommt, dass die zeitgenössische Presse nicht zwischen Personen, die ihrem Körper (verbotenerweise) bewusst leistungsfördernde Substanzen von außen zuführten, und intersexuellen Individuen unterschied, die aufgrund angeborener Eigenschaften außerhalb des binären Geschlechtersystems standen.

Ungeachtet solcher analytischer Differenzierungen aus heutiger Perspektive wurden in der frühen Nachkriegszeit Sportlerinnen aus dem Ostblock wegen ihres „männlichen Aussehens“ zur Zielscheibe westlicher Journalisten. Dies gilt insbesondere für die in den frühen 1960er Jahren erfolgreichen sowjetischen Athletinnen Tamara und Irina Press. Ihre Physis galt als „boyish“[12]; sie wurden als „too mannish“[13] charakterisiert oder schlicht als „Press brothers“[14] bezeichnet. Der amerikanische Trainer Dick Bank führte 1970 die von ihm konstatierte Unterentwicklung der Frauenleichtathletik in den USA direkt auf die abschreckende Wirkung der körperlichen Erscheinung von Tamara Press zurück:

„One thing that held back women’s track [...] was the image given the sport by such athletes as Tamara Press of the Soviet Union. In some ways [...] she obviously had more male characteristics than female. Parents in this country would see pictures of her and decide that if that was the kind of people they had in women’s track they would get their daughters to go swimming or something else.“ [15]

Nicht nur die US-amerikanischen, sondern auch die westeuropäischen Sportjournalisten entwickelten in den 1960er Jahren eine eigentliche Obsession für das Thema von „Frauen, die keine Frauen sind“[16] und verlangten „echte Frauen gegen die Schmutzkonkurrenz von falschen“[17] zu schützen. Wie eng dies mit traditionellen Vorstellungen von weiblicher Schönheit zusammenhing, belegt das folgende Zitat aus dem Munde von IOC-Präsident Avery Brundage. Dieser zog vier Jahre nach der Einführung der Geschlechtertests bei Olympischen Spielen gegenüber der Los Angeles Times eine positive Bilanz: „They are more feminine now“, lautete sein Urteil und die Journalistin fügte hinzu: „And he’s right. This year’s Olympic roster will bulge with beauties.“[18]

In der historischen Konstellation des Kalten Krieges stellte der Erfolg einer Athletin aus einem sozialistischen Staat eine doppelte Provokation dar, die von den Medien dankbar aufgenommen und verstärkt wurde:[19] Erstens drang sie als Frau in die kulturell männlich codierte Sphäre des Leistungssports ein und stellte auf diese Weise die traditionelle Geschlechterordnung in Frage. Zweitens bedrohte der Sieg einer Repräsentantin des Ostblocks das Selbstwertgefühl der westlich-kapitalistischen Welt.

In dieser Situation einer doppelten Herausforderung führten die aus Männern bestehenden Gremien der westlich dominierten internationalen Sportverbände in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre Geschlechtertests im Spitzensport ein. Die ersten derartigen Tests, die bei den British Empire and Commonwealth Games 1966 in Kingston (Jamaika) und bei den Leichtathletik-Europameisterschaften desselben Jahres in Budapest unter der Ägide des Internationalen Leichtathletikverbandes IAAF stattfanden, beruhten auf der äußerlichen Untersuchung der Athletinnen durch eine medizinische Kommission.

Die negativen Erfahrungen mit diesem Verfahren, an dem sowohl Athletinnen als auch Ärzte den tiefen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte kritisierten, flossen in die olympische Regelung der Geschlechtertests ein. Der bereits bei den Spielen von 1968 angewandte sogenannte Sexchromatintest und die im Reglement für 1972 erwähnten zusätzlichen Methoden waren zwar nicht unproblematisch, worauf noch einzugehen ist, aber für die Athletinnen doch weit weniger entwürdigend als die Entblößung vor einem Ärztegremium. Denn sie beruhten darauf, dass ein Mundschleimhautabstrich bzw. Haarwurzeln der Testperson im Labor analysiert wurden.

Eine zweite Lehre aus der Vergangenheit, die das Reglement von 1972 direkt widerspiegelte, war die an prominenter Stelle festgehaltene strikte Geheimhaltung der Resultate der Geschlechtertests unter ausdrücklicher Berufung auf die Menschenrechte der betroffenen Individuen. Dieser Passus ist eine offensichtliche Reaktion auf das mediale Fiasko im Zusammenhang mit dem ersten negativen Geschlechtertest der Sportgeschichte, dem die polnische Weltklassesprinterin Ewa Klobukowska im September 1967 beim Leichtathletik-Europacup in Kiew zum Opfer gefallen war.[20] Klobukowska war nicht ein in Betrugsabsicht verkleideter Mann, sondern ein Intersex. Bei intersexuellen Individuen (Hermaphroditen, Zwittern), denen Jeffrey Eugenides in seinem Roman „Middlesex“ jüngst ein literarisches Denkmal gesetzt hat, stimmen genotypisches und phänotypisches Geschlecht nicht überein und/oder ihre mehrdeutigen äußeren Genitalien lassen keine eindeutige Zuordnung zu einem Geschlecht zu.[21] Bei den Leichtathetik-Europameisterschaften in Budapest 1966 hatte Klobukowska die physische Inspektion als Frau passiert. Nach ihrem Rücktritt vom Spitzensport, zu dem das Testresultat von 1967 sie zwang, lebte sie als Frau weiter. Auch die Tatsache, dass Klobukowska mehrfach und zunächst ohne Feststellung einer Anomalie getestet worden war, reflektierte das Reglement von 1972 unmittelbar: Mit der Ausgabe eines Zertifikats durch autorisierte sportmedizinische Gremien sollten Mehrfachtests ein und derselben Person für die Zukunft ausgeschlossen werden.

In krasser Verzerrung des komplexen medizinischen Befundes und ohne Rücksicht auf die individuelle Tragödie der ahnungslosen Sportlerin stellten die westlichen Zeitungen 1967 Klobukowska an den Pranger und berichteten in großen Lettern und mit billigen Wortspielen über ihren Ausschluss. So hieß es etwa im bereits zitierten Blick „Die blonde Polin Eva Klobukowska (21) wurde zum ‚Adam‘“[22] und die Washington Post titelte „Klobukowska Misses Test For Misses“[23]. Die Frankfurter Allgemeine konstatierte „Die Polin Ewa Klobukowska [...] ist keine Frau“ und räsonierte in einem langen Kommentar über Betrug und die „große Lüge [...], die der Frauen-Leichtathletik [...] Schaden zugefügt hat.“[24]

Im Schweizer Fachblatt Sport, das in seinem Textteil vergleichsweise differenziert über die Gründe für Klobukowskas Disqualifikation berichtete, erschien kurz nach dem Kiewer Wettkampf in der beliebten Serie „Tschutti“ eine Karikatur des Künstlers Franco Barberis[25], die die Geschlechterstereotype im Sport und die mediale Verzerrung der Geschlechtertests in kaum übertrefflicher Weise verdichtet (siehe Abbildung unten). Weiblichkeit wird in dieser Karikatur mit traditionell verstandener Schönheit und Ästhetik gleichgesetzt, während der muskulöse Körperbau einer Athletin, auf dem etwa im Falle einer Kugelstoßerin die sportliche Leistungsfähigkeit basiert, einen Zweifel an deren Geschlecht begründet. Bezeichnend ist auch die Darstellung der Angst vor Mäusen als typisch weiblich, während mit der Rekrutenschule auf das Militär als männlich codierte Domäne rekurriert wird. Als unmännlich charakterisiert wird schließlich Homosexualität, auf die mit den beiden sich küssenden Fußballern angespielt werden dürfte. Dies alles läuft unter dem Titel „Biologie“, obwohl bei einer genaueren Betrachtung – bereits auf dem damaligen Stande von Biologie und Medizin – gerade das Beispiel Klobukowska deutlich machen würde, dass sich einzelne Individuen der bipolaren Geschlechterordnung auf der Ebene des biologischen Geschlechts Sex (verstanden im Gegensatz zum sozial konstruierten Gender) entziehen. Mit anderen Worten: Es ist nicht nötig, eine radikal konstruktivistische Position zu vertreten und ein biologisches Geschlecht generell in Frage zu stellen, um das disjunktive System der Zweigeschlechtlichkeit ins Wanken zu bringen. Vielmehr war es spätestens zu Beginn der 1960er Jahre ein medizinischer Gemeinplatz, dass Intersexualität existiert.[26]

Diese Problematik bringt das Reglement von 1972 ungewollt zum Ausdruck: Während gemäß der französischen Version „Weiblichkeit“ kontrolliert („contrôle de féminité“) und zertifiziert („certificat de féminité“) wird, ist im englischen Text nur die Rede vom (biologischen) Geschlecht – heißt es doch an den entsprechenden Stellen „sex control“ und „sex control certificate“. Die Zertifikate der Olympischen Sommerspiele 1968 in Mexiko, die vier Jahre später anerkannt werden sollten, bescheinigten im übrigen nicht mehr, als dass ein Sexchromatintest durchgeführt worden sei und keine Anomalie gezeigt habe.[27] Diese und weitere terminologischen Varianten in Quellen und Forschung (Dt.: Sex-Kontrolle, Geschlechtsbestimmung, Frz.: détermination de sexe, Engl.: sex determination, gender verification) spiegeln die Unsicherheit der Schreiber darüber wider, was genau mit Hilfe dieser Tests getan wird und wie ihre Resultate zu interpretieren sind: Geht es um Geschlecht im Allgemeinen oder um Weiblichkeit im Speziellen? Wie werden Intersexe zugeordnet, solange das disjunktive System der Zweigeschlechtlichkeit verbindlich bleibt: Ist jede Nicht-Frau ein Mann oder jeder Nicht-Mann eine Frau? Geht es um Sex oder Gender?

Der kanadische Sportsoziologe Ian Ritchie legte 2003 dar, wie die internationalen Sportverbände entgegen ihrem Anspruch, das biologische Geschlecht zu testen, Geschlecht im Sinne von Gender sozial konstruieren und brachte dies auf die griffige Formel „Sex Tested, Gender Verified“.[28] Damit widersprach er der biologistischen Auffassung von Geschlechterdifferenzen, die im Sport besonders naheliegend zu sein scheint. Das gängige Argument lautet ja, die Trennung von Frauen und Männern im Sport beruhe auf naturbedingten Unterschieden der körperlichen Leistungsfähigkeit und diene dem fairen Wettkampf, weil so gleiche Ausgangsbedingungen für die Startenden entstünden. Dieses Argument wurde von der sportwissenschaftlichen Genderforschung der letzten Jahre jedoch dekonstruiert.[29] Es mag nicht einleuchten, weshalb die Trennung nach Geschlecht fairere Ausgangsbedingungen schaffen soll als beispielsweise diejenige nach Gewichtsklassen, wie sie in den meisten Kampfsportarten üblich sind. In zahlreichen Disziplinen wird zudem die Ungleichheit der Geschlechter inszeniert, indem nicht nur Frauen und Männer getrennt voneinander antreten, sondern auch unterschiedliche Regelwerke für die beiden Geschlechter gelten. So wird etwa der Body-Check, der im Männereishockey ein zuschauerwirksames Spielelement ist, im Fraueneishockey mit einer Zeitstrafe belegt. Ebenso wenig mit fairem Wettkampf, sondern allein mit der sozialen Konstruktion von Geschlecht zu tun hat die Tatsache, dass in bestimmten Sportarten olympische Wettkämpfe für das eine Geschlecht reserviert sind. Beispiele sind Synchronschwimmen und der Stufenbarren für die Frauen oder das Ringturnen für die Männer.

Damit sind einige der wesentlichen Probleme und Widersprüchlichkeiten benannt, die sich mit der Praxis der Geschlechtertests verbinden. Obwohl diese von Anfang an aus unterschiedlicher Perspektive auf Kritik stießen, wurden sie erst 1999 vom IOC versuchsweise ausgesetzt, nachdem bei den Olympischen Winterspielen von Nagano ein Jahr zuvor nochmals 679 Tests durchgeführt worden waren. Neben der bereits ausführlich dargestellten kulturwissenschaftlich fundierten Kritik gab es von medizinischer Seite Einwände gegen die konkrete Testmethode und deren Fehleranfälligkeit.[30] Einige Sportmediziner wiesen darauf hin, dass einerseits bestimmte Formen von Intersexualität keinen Vorteil im Frauensport bieten, während andererseits chromosomal weibliche Individuen aufgrund von Besonderheiten ihres Hormonhaushalts tatsächlich einen Vorteil gegenüber anderen Frauen besitzen können, den Sexchromatintest aber problemlos bestehen. Auf diese Weise führten sie das Fairnessargument zur Begründung der Testpraxis ad absurdum.[31] Die Geschlechtertests im Sport wurden außerdem mit juristischen und philosophischen Argumenten als diskriminierend und unethisch angegriffen: Männer mussten sich dem Test, der tief in die Persönlichkeitsrechte des Individuums eingreift, nicht unterziehen, sondern ausschließlich Frauen. Außerdem war die Unschuldsvermutung aufgehoben, weil jede für einen Frauenwettbewerb angemeldete Person bis zum Beweis des Gegenteils als Betrüger(in) galt.

Weshalb wurden trotz all dieser Gegenargumente dreißig Jahre lang Sportlerinnen systematisch auf ihr chromosomales Geschlecht hin untersucht? Es waren, so lässt sich zusammenfassen, männliche Funktionäre in den westlich dominierten Sportverbänden, die im von der Presse zusätzlich aufgeheizten Klima des Kalten Krieges Athletinnen laborgestützten Geschlechtertests unterwarfen, um dem Feindbild der sozialistischen Siegerin entgegenzutreten. Je länger desto deutlicher trat dabei zu Tage, dass die Evidenz der Kategorie Geschlecht nur eine vermeintliche war. Denn der Versuch des IOC, Weiblichkeit für sportliche Zwecke in ein Reglement zu fassen, führte zu immer komplexeren Diskussionen und tieferen Widersprüchen. IAAF und IOC diskutierten jahrelang über die gegenseitige Anerkennung der von der anderen Seite ausgestellten Weiblichkeitszertifikate. Noch 15 Jahre nach dem ersten Geschlechtertest bei Olympischen Spielen bestanden Differenzen zwischen den beiden Organisationen, so dass der Vorsitzende der Medizinischen Kommission des IOC, de Merode, bei einer Zusammenkunft während der Leichtathletik-Weltmeisterschaften 1983 entschuldigend einräumte, „according to scientific papers, the IOC was not strict enough in its definition of feminity [sic]“.[32] Ein eindrücklicherer Beleg dafür, dass Geschlecht im Sport sozial konstruiert wird, ist kaum zu haben.

Barberis, Franco, Tschutti: Wenn die Biologie ..., in: Sport, Zürich, 22.9.1967, S. 21.



[1] Die englischsprachige Version bildet die Quelle zum vorliegenden Essay: International Olympic Committee. Medical Commission (Hg.): Sex Control (1972).

[2] Dirix, Albert; Sturbois, Xavier, The first thirty years of the International Olympic Committee Medical Commission, 1967-1997, 3. Aufl., Lausanne 1998; Wrynn, Alison, The Human Factor. Science, Medicine and the International Olympic Committee, 1900-70, in: Sport in Society 7 (2004), S. 211-231.

[3] Diese Formulierung legte das Schweizer Boulevard-Blatt Blick in einem Bericht über die Olympischen Sommerspiele 1968 dem amerikanischen Sportarzt Bill McCarty in den Mund (Blick, 18.10.1968, S. 16).

[4] Balbier, Uta A., Kalter Krieg auf der Aschenbahn. Der deutsch-deutsche Sport 1950-1972, Paderborn 2007; Malz, Arié; Rohdewald, Stefan; Wiederkehr, Stefan (Hgg.), Sport zwischen Ost und West. Beiträge zur Sportgeschichte Osteuropas im 19. und 20. Jahrhundert, Osnabrück 2007; Wagg, Stephen; Andrews, David L. (Hgg.), East plays West. Sport and the Cold War, London 2007. Speziell zum Doping: Latzel, Klaus; Niethammer, Lutz (Hgg.), Hormone und Hochleistung. Doping in Ost und West, Köln 2008.

[5] Archiwum Akt Nowych (Warschau), Glówny Komitet Kultury Fizycznej i Turystyki, 18/41 (Übers. S. W.).

[6] Blick, 26.10.1968, S. 11.

[7] Pfetsch, Frank R. u.a., Leistungssport und Gesellschaftssystem. Soziopolitische Faktoren im Leistungssport. Die Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich, Schorndorf 1975, S. 1.

[8] Guttmann, Allen, Women’s Sport. A History, New York 1991; Terret, Thierry u.a. (Hgg.), Sport et genre, 4 Bde., Paris 2005; Hartmann-Tews, Ilse; Rulofs, Bettina (Hgg.), Handbuch Sport und Geschlecht, Schorndorf 2006.

[9] Kraft, Claudia, Geschlecht als Kategorie zur Erforschung der Geschichte des Staatssozialismus in Mittel- und Osteuropa. Zur Einführung, in: Dies. (Hg.), Geschlechterbeziehungen in Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg, München 2008, S. 1-21. Für einen Vergleich zwischen den beiden deutschen Staaten: Budde, Gunilla-Friedericke (Hg.), Frauen arbeiten. Weibliche Erwerbstätigkeiten in Ost- und Westdeutschland nach 1945, Göttingen 1997.

[10] Turrini, Joseph M., „It Was Communism Versus the Free World“. The USA-USSR Dual Track Meet Series and the Development of Track and Field in the United States, in: Journal of Sport History 28 (2001), S. 427-471, hier S. 432-435; Riordan, James, Sport in Soviet Society. Development of Sport and Physical Education in Russia and the USSR, Cambridge 1977, S. 315-324; Ders., The Rise, Fall and Rebirth of Sporting Women in Russia and the USSR, in: Journal of Sport History 18 (1991), S. 183-199; Pfister, Gertrud, Frauen und Sport in der DDR, Köln 2002, S. 88-103.

[11] Los Angeles Times, 2.3.1968, S. A1.

[12] New York Times, 29.5.1977, S. 155 [über Irina Press].

[13] Los Angeles Times, 2.7.1970, S. E2 [über Tamara Press].

[14] Are Girl Athletes Really Girls?, in: Life, 7.10.1966, S. 63-66, hier S. 64.

[15] Los Angeles Times, 2.7.1970, S. E2.

[16] Sportillustrierte, 29.1.1968, S. 15.

[17] Blick, 18.10.1968, S. 16.

[18] Los Angeles Times, 13.8.1972, S. W21.

[19] Zur Rolle der Sportmedien vgl. Hartmann-Tews, Ilse; Rulofs, Bettina, Zur Geschlechterordnung in den Sportmedien. Traditionelle Stereotypisierungen und Ansätze ihrer Auflösung, in: Schierl, Thomas (Hg.), Handbuch Medien, Kommunikation und Sport, Schorndorf 2007, S. 137-154.

[20] Zu Klobukowska vgl. Cole, Cheryl L., One Chromosome Too Many?, in: Schaffer, Kay; Smith, Sidonie (Hgg.), The Olympics at the Millennium. Power, Politics, and the Games, New Brunswick 2000, S. 128-146; Wiederkehr, Stefan, „Unsere Mädchen sind alle einwandfrei“. Die Klobukowska-Affäre von 1967 in der zeitgenössischen Presse (Polen, BRD, Schweiz), in: Malz; Rohdewald; Wiederkehr (wie Anm. 4), S. 269-286.

[21] Lang, Claudia, Intersexualität. Menschen zwischen den Geschlechtern, Frankfurt am Main 2006; Groß, Dominik; Neuschaefer-Rube, Christiane; Steinmetzer, Jan (Hgg.), Transsexualität und Intersexualität. Medizinische, ethische, soziale und juristische Aspekte, Berlin 2008.

[22] Blick, 16.9.1967, S. 1.

[23] Washington Post, 15.9.1967, S. D1.

[24] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.9.1967, S. 11.

[25] Spahr, Jürg, Barberis, Franco, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 11.02.2005, (04.11.2009). Der Name der Sportlerfigur „Tschutti“ leitet sich von Schweizerdeutsch „tschutte“ für „Fußball spielen“ ab.

[26] Overzier, Claus (Hg.), Die Intersexualität, Stuttgart 1961.

[27] „On the Occasion of the XIX Olympic Games on the athlete [...] the sexual chromatine investigation vas [sic] made, the result proved no abnormality.“ (Bundesarchiv (Berlin), DR 510/862).

[28] Ritchie, Ian, Sex Tested, Gender Verified. Controlling Female Sexuality in the Age of Containment, in: Sport History Review 34 (2003), S. 80-98.

[29] Hartmann-Tews, Ilse u.a., Soziale Konstruktion von Geschlecht im Sport, Opladen 2003.

[30] Simpson, Joe Leigh u.a., Gender Verification at the Olympics, in: JAMA 284 (2000), S. 1568f., hier S. 1569; Ljungqvist, Arne, Gender Verification, in: Christensen, Karen; Guttmann, Allen; Pfister, Gertrud (Hgg.), International Encyclopedia of Women and Sports, 3 Bde., New York 2001, Bd. 1, S. 447-451, hier S. 447f.; Reeser, J[onathan] C., Gender identity and sport. Is the playing field level?, in: British Journal of Sports Medicine 39 (2005), S. 695-699, hier S. 696.

[31] Genel, Myron, Gender Verification No More?, in: Medscape Women’s Health 5/3 (2000), S. E2; früh bereits Bausenwein, Ingeborg, Intersexualität und Frauenleistungssport, in: Sportarzt und Sportmedizin 19 (1968), S. 269-273, hier S. 272.

[32] Meeting between Representatives of the IOC Executive Board and of the IAAF Council, Helsinki 7.8.1983 (IOC Archives / International Association of Athletics Federations – meetings with the IOC 1976-1983).



Literaturhinweise:

  • Guttmann, Allen, Women’s Sport. A History, New York 1991.
  • Lang, Claudia, Intersexualität. Menschen zwischen den Geschlechtern, Frankfurt am Main 2006.
  • Malz, Arié; Rohdewald, Stefan; Wiederkehr, Stefan (Hgg.), Sport zwischen Ost und West. Beiträge zur Sportgeschichte Osteuropas im 19. und 20. Jahrhundert, Osnabrück 2007.
  • Ritchie, Ian, Sex Tested, Gender Verified. Controlling Female Sexuality in the Age of Containment, in: Sport History Review 34 (2003), S. 80-98.
  • Wagg, Stephen; Andrews, David L. (Hgg.), East plays West. Sport and the Cold War, London 2007.

Quelle zum Essay
Frauensport und Männerwelt im Kalten Krieg Beitrag zum Themenschwerpunkt „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“
( 2009 )
Zitation
Sex Control (1972) Veröffentlicht im Rahmen des Themenschwerpunkts „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2009, <www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28388>.
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