Vom Zeitgeist in der DDR.

Zu Beginn der 90er Jahre stieß ich bei Recherchen im Deutschen Rundfunkarchiv auf den ungewöhnlichen Aktentitel: „Zeitgeist-Sammlung“. Dahinter verbargen sich mehrere Ordner mit Zuschauerbriefen. Die Mitarbeiter des Büros für Zuschauerpost beim Fernsehen der DDR hatten in Eigeninitiative jeweils 150 exemplarische Zuschriften eines Jahres, das waren etwa 5 Prozent aller Posteingänge, aufgehoben, anstatt sie nach 5 Jahren zu kassieren, wie es die Vorschriften vorsahen.[...]

Vom Zeitgeist in der DDR[1]

Von Ina Merkel

Zu Beginn der 90er Jahre stieß ich bei Recherchen im Deutschen Rundfunkarchiv auf den ungewöhnlichen Aktentitel: „Zeitgeist-Sammlung“. Dahinter verbargen sich mehrere Ordner mit Zuschauerbriefen. Die Mitarbeiter des Büros für Zuschauerpost beim Fernsehen der DDR hatten in Eigeninitiative jeweils 150 exemplarische Zuschriften eines Jahres, das waren etwa 5 Prozent aller Posteingänge, aufgehoben, anstatt sie nach 5 Jahren zu kassieren, wie es die Vorschriften vorsahen. Im Briefbüro war man der Meinung, dass es sich um Schilderungen des Alltagslebens handele, die „den Zeitgeist repräsentiere[n], der in der historischen Forschung über den Entwicklungsstand der Probleme und den Bewusstseinsstand der Bevölkerung Aufschluss geben kann.“[2]Aus dieser Sammlung stammen die im vorliegenden Beitrag analysierte und abgedruckte Eingabe einer Dresdner Bürgerin und Konsumentin über die „Ursachen für das Wegwerfen von Brot“ aus dem Jahr 1982 sowie das Antwortschreiben des Leiters der Abteilung Kaufhallen.[3]

Die „Zeitgeist-Sammlung“ ist ein Glücksumstand für Sozial- und Kulturhistoriker/innen, finden sich hier doch zeitgenössische Beschreibungen des Alltagslebens, die man so weder in archivarisch überlieferten Texten finden noch durch heutige Befragungen rekonstruieren kann. Je länger das Ende der DDR zurückliegt, desto stärker sind die Erinnerungen durch die Ereignisse der Wendezeit, die nachfolgenden Erfahrungen mit dem Transformationsprozess, die öffentlichen Diskurse und medialen Repräsentationen überformt.[4]

Obwohl wir es mit einer ausgesprochen authentischen Quelle zu tun haben, spricht sie nicht an sich, sondern antwortet immer nur auf die Fragen, die in der historischen Analyse gestellt werden. Dazu soll auf einer ersten Ebene die Quelle kontextualisiert werden: Worin besteht die Eigenart solcher Briefe und wer ist der Adressat? Zweitens werden die Inhalte untersucht: Worum geht es der Briefschreiberin eigentlich und welche realhistorischen Verhältnisse verbergen sich dahinter? Drittens sollen rhetorische Strategien untersucht werden: Was bedeuten bestimmte Floskeln und worauf zielen sie? Viertens wird die Kommunikationssituation beleuchtet: Wer antwortet hier und welche Machtverhältnisse drücken sich darin aus? Das alles zusammengenommen wird am Ende auf den Punkt gebracht: Was ist das für ein Zeitgeist, der sich aus den Alltagsschilderungen ablesen lässt?

Eingabenschreiben als kulturelle Praxis: Die hier ausgewählten Briefe stehen exemplarisch für eine massenhafte kulturelle Praxis in der DDR – das Eingabenschreiben. Der informelle Charakter der Eingabe – sie konnte im Unterschied zu formellen Rechtsmitteln einfach als handgeschriebener Brief an jede beliebige Instanz geschickt werden, im Falle einer unbefriedigenden Antwort wieder und wieder an die nächst höhere oder gleich ganz nach oben (wo immer man das verortete) – machte sie zu einem niedrigschwelligen Instrument der Konfliktaustragung. Eingabenschreiben war populär. Man tauschte sich aus über erfolgreiche rhetorische Strategien und effektive Eingabenadressaten. Eine sehr beliebte Adresse war das Fernsehen der DDR, insbesondere die Redaktion der Sendereihe Prisma, an die der überwiegende Teil der Zuschauerbriefe direkt gerichtet war. So auch der vorliegende Brief.

Diese Briefe an Prisma wurden, wie es das Gesetz vorschrieb, wie Eingaben behandelt, das heißt innerhalb bestimmter Fristen registriert und beantwortet. Es waren auch Eingaben im klassischen Sinne, aber es ging noch um etwas anderes: Die Briefschreiber erwarteten, dass über die von ihnen beschriebenen Zustände und Probleme öffentlich, das heißt im Fernsehen berichtet und verhandelt wird. Oder dass die Redaktion sich als Vermittler zwischen Bürger und Verwaltung einschaltet und in diesem Sinne „öffentliche Gewalt“ ausübt. Das seit März 1963 monatlich, später vierzehntägig gesendete innenpolitische Magazin schien deshalb dafür geeignet, weil es ausgewählte Missstände in der Wirtschaft, der Kommunalpolitik und der Versorgung untersuchte (nach dem Muster von „Report“).

Prisma gehörte zu den beliebtesten Sendungen und hatte vergleichsweise hohe Einschaltquoten. Ein Beweis für die Popularität der Sendung waren die enormen Mengen an Zuschauerpost, die die Redaktion erhielt (über 11.000 Briefe allein in den ersten drei Jahren, auch in den Folgejahren erhielt die Redaktion rund 300, in den 80er Jahren sogar 600 Briefe im Monat[5]). Vielen Briefen ist die Identifikation der kritisch gestimmten Zuschauer mit den Bemühungen des Redaktionsteams anzumerken. In der Kritik weiß man sich mit der Redaktion eins.

Skandalisierung als Grundmuster: Angenommene grundsätzliche Übereinstimmung ist auch die Voraussetzung des vorliegenden Briefes: „Wir diskutieren... „. Es geht um ein Ärgernis von gesamtgesellschaftlichen Interesse: Brot wird in großen Mengen weggeworfen, man könnte den Diskurs ergänzen: und an Schweine und Hühner verfüttert, weil es so billig ist. Ein Kilo Mischbrot kostete in der DDR 1,10 Mark, ein Pfund Kasten-Vollkornbrot 55 Pfennige, ein Brötchen 5 Pfennige.

Frau Erdmann möchte die Ursachen für das Wegwerfen von Brot erforschen, aber sie geht mit keiner Silbe auf das Preisproblem ein. Die Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, Mieten, Energie, Kinderbekleidung usw. – die Preise wurden ursprünglich zur Abmilderung der Aufhebung der Rationierung teilweise auf dem Niveau von 1936 eingefroren – hat längst zu zweckentfremdeter Nutzung und permanenter Verschwendung geführt. Ein ökonomisches Problem, das allerdings aus ideologischen Gründen nicht öffentlich diskutiert werden konnte. Das Thema ist also tabu, jedenfalls von der Preisseite her. Das weiß auch die Briefschreiberin.

Worum geht es ihr dann? Es geht darum, dass an diesem Tag in der Kaufhalle zwar haufenweise Brot herumlag, aber kein frisches Brot. Erst durch den Mangel an frischem Brot wird das Wegwerfen von Brot zum Skandal. Ein Mangel, der zwar absurd ist und auch nicht lebensbedrohlich, aber dennoch alle typischen mentalen Muster aufruft. Und die werden nun in aller Ausführlichkeit geschildert: Es stehen lange Schlangen am Käsestand, weil die Käseverkäuferin mit dem Brot beschäftigt ist. Die für das Brot zuständige Verkäuferin sortiert in Seelenruhe Postkarten. Die Kunden diskutieren lautstark und werden handgreiflich. Von der Verkaufsstellenleitung lässt sich niemand blicken, auf Nachfragen bekommt man pampige Antworten. Und dazwischen stehen aufgetürmt die harten Brote, die niemand kaufen will.

Die Anklage erfährt eine Wendung: Es geht nicht mehr um das Verschwenden von Brot und auch nicht mehr um den Mangel an frischem Brot, sondern um die Verkaufskultur in dieser Kaufhalle, das Desinteresse der Verkäuferinnen an der Ware, an Hygiene und Ästhetik. Es geht um Schlangestehen, um den Frust beim Einkaufen, um die Aggressivität der Kunden.

In kleinen Details – die Schreiberin schlägt beispielsweise vor, das Brot in Foliebeutel zu packen, die an der Kasse wieder abzugeben sind – wird deutlich, wie sehr die DDR-Bürger in diese Art der Versorgung, wo täglich andere unberechenbare Engpässe auftreten können, eingeübt sind. Und die wiedergegebenen sarkastischen Bemerkungen über den Verlust der letzten Zähne zeigen an, dass die meisten Kunden es längst aufgegeben haben, dagegen anzukämpfen. Dann wird eben kein Brot gegessen, auch gut. Warum nun macht sich diese Frau dennoch zur Anklägerin?

Rhetorische Strategien: Durch die Wendung im Brief wird das ursprünglich auf Systemebene angelegte Problem: Wegwerfen von Brot, weil es zu billig ist, auf die
Ebene der persönlichen Verantwortung von Verkäuferinnen und Kaufhallenleitern herunter transformiert. Möchte Frau Erdmann wirklich die Ursachen für das Verschwenden von Brot erforschen oder ist das nur ein rhetorischer Trick?

Sicher hat sie sich mal wieder in der Kaufhalle geärgert, aber schreibt man deswegen gleich einen Brief an das Fernsehen? Im letzten Absatz erinnert die Schreiberin an eine länger zurückliegende Eingabe, die immer noch nicht befriedigend beantwortet worden sei. Wir haben es offenbar mit einer geübten Eingabenschreiberin zu tun. Das Ereignis in der Kaufhalle ist nur der Anlass, um sich mit einem alten Anliegen in Erinnerung zu bringen. Worum es dabei ging, erfahren wir nicht, wohl aber, dass sich bereits verschiedene Behörden damit befassen. Sie wird nun langsam ungehalten und schlägt einen drohenden Ton an: „Ich glaube nicht, dass das im Sinne des Genossen Erich Honecker ist...“. „Wenn sich nicht bald etwas tut“, so könnte man den Subtext ergänzen, „dann schreibe ich nach ganz oben, und dann wollen wir doch mal sehen, was passiert.“ Die Mitglieder der Redaktion werden indirekt als Parteimitglieder angesprochen, die für das Wort des Parteichefs einzustehen haben. Das anfänglich gebrauchte „Wir“ wird am Schluss aufgegeben.

Der ganze Brief über das Brot kann deshalb auch als strategische Einleitung für den Schluss gelesen werden. Sie will damit eine ganz andere Angelegenheit befördern. Um nicht schon wieder in eigener Sache zu mahnen und damit als egoistische Meckerin zu erscheinen, braucht sie einen Anlass von gesamtgesellschaftlichem Interesse. Anstelle der Anrede gibt es eine Überschrift. „Ursachen“, das verspricht eine objektive Analyse, unterstützt durch das im nächsten Satz gebrauchte „erforschen“. Sie leistet dafür einen (kleinen) Beitrag, aber eigentlich sollte sich die Redaktion damit befassen.

Das anfangs verwendete „Wir“ ist allgemeiner gemeint und umfasst mehr als die Redaktion. In seiner Allgemeinheit ist es aber auch unspezifisch: Wer diskutiert da? Die Partei? Die Bevölkerung? Auf alle Fälle signalisiert es Loyalität und Zugehörigkeit zu einer imaginären Gemeinschaft. Das „Wir“ ist eine Absicherungsformel, die sie am Schluss des Briefes aufgibt, wo es um ein ganz persönliches Anliegen geht. Zur Legitimation wird jetzt Erich Honecker zitiert: „... dem Arbeiterwort Geltung verschaffen...“. Sie verortet sich mit diesem Zitat in der Arbeiterschaft, die durch die herrschende Ideologie geradezu heroisiert worden ist, und baut einen Gegensatz zu Funktionären und Verwaltungsangestellten auf, die gefälligst Lösungen herbeiführen sollen. Die Briefschreiberin stimmt damit in einen allgemeinen Tenor der Schuldzuweisung an die mittleren Funktionärsebenen ein und enthält sich jeder grundsätzlichen Kritik an gesellschaftlichen Strukturen. Das gesamte Schlusszitat hat eine einzige Funktion: Loyalität zum Staat zu bekunden und ihn damit zur Fürsorge sich selbst gegenüber zu verpflichten.

Kommunikationsverhältnisse: Zusammen mit dem Brief ist das Antwortschreiben überliefert, das 6 Wochen später vom Referatsleiter der Stadt geschrieben worden ist. Es ist der Zuständige für die Verkaufskultur und nicht das Backwarenkombinat, der hier antwortet. Allein dass überhaupt geantwortet wird, mutet bereits seltsam an. Es gab keine konkrete Beschwerde, sondern der Brief war im Ton allgemeiner kritischer Hinweise gehalten. Aber die Behörden standen per Gesetz unter Antwortzwang.

Dieser Brief ist auf eine fast unfassbare Weise formell formuliert. Mit keinem Wort wird auf das Wegwerfen von Brot bzw. die Abwesenheit von frischem Brot eingegangen. Der Verfasser hält sich vielmehr an den Buchstaben des Gesetzes. Es ist ein „Brief nach Vorschrift“. Als solcher enthält er den höflichen Dank für die Kritik und den Bericht über eine Aussprache. Dann aber kippt auch dieser Brief. Erst wird die Beschwerde über altes Brot zurückgewiesen und dann werden die Kunden beschimpft.

In fast juristischem Tonfall wird festgestellt, dass das Brot laut TGL[6]drei Tage frisch ist. Ein Satz, der so absurd ist, dass er ins Kabarett gehört. Das muss doch auch dem Schreiber klar gewesen sein. Will er sich über die Frau lustig machen? Oder auf die Absurdität von Normen hinweisen? Auf jeden Fall schiebt er damit die Verantwortung ab an diejenigen Leute, die solche Vorschriften erlassen.

Und dann geht es gegen die Kunden, die so unvernünftig sind, das Brot auf Frische zu testen, bevor sie es kaufen. Alle vorgeschlagenen „Maßnahmen“ haben disziplinierenden Charakter: Beaufsichtigung, Hinweisschilder und zu guter Letzt wird sogar die Briefschreiberin gebeten, mit darauf zu achten, „dass die getroffenen Festlegungen auch durchgesetzt werden.“

Wie ist dieser Brief zu deuten? Ein klassischer Fall von Misskommunikation? Der Handel bildete eine Pufferzone zwischen der Bevölkerung mit ihren unbefriedigten Bedürfnissen und dem Staat mit seiner paternalistischen Versorgungshoheit. Am Handel reagierten sich die Kunden ab. Da er fast gar keinen Einfluss auf die Produktion und nur geringen auf das Angebot und die Liefermengen hatte, beschränkte sich seine Funktion auf die Präsentation der Waren. Hier allerdings konnte manipuliert werden, das heißt, begehrte Waren wurden zurückgehalten und „unter dem Ladentisch“ verkauft. In der Ohnmacht gegenüber dem System steckte auch ein Moment von Verteilungsmacht gegenüber der Bevölkerung. In genau dieser Ambivalenz bewegt sich der Brief. Er macht auf die Ohnmacht aufmerksam, in dem er die Gütevorschriften zitiert. Und er zeigt deutlich seine Macht, indem er die Kunden reglementiert. Am Ende ist der Status quo wieder hergestellt. Bestand die eigentliche Funktion der Eingabe vielleicht darin, Blitzableiter zu sein?

Permanente Unzufriedenheit: Die Unzufriedenheit der DDR-Bürger ist geradezu sprichwörtlich und gehörte in der DDR zu den habituell verfestigten Grundmustern der alltäglichen Kommunikation. Abendbrotgespräche, Familienfeiern, kollektives Beisammensein, solidarische Spontanzusammenschlüsse in den Schlangen – überall wurde ihr lauthals Ausdruck verliehen. Sich beschweren, aufregen über etwas, sich empören, meckern und kritisieren sind auch die den überlieferten Briefwechsel dominierenden Stile.

Eine Eingabe zu schreiben, stellte zweifellos eine Form psychischer Kompensation dar, es entlastete vom Druck des alltäglichen Ärgers und diente der Bewältigung eines schwierigen Alltags. Darin drückte sich nicht nur persönliches Unbehagen oder Frustration aus, hier wurden gesellschaftliche Zustände kritisch reflektiert. Die Briefe zeugen auch von Verantwortungsgefühl gegenüber der Gesellschaft. In der Unzufriedenheit konstituierte sich so etwas wie ein innerer Konsens der DDR-Bürger, im Ärger waren sie sich einig. Es war auch eine Form der gemeinsamen Verweigerung von Zustimmung zu den von Partei und Regierung, oder auch nur von der Ortsobrigkeit oder dem betrieblichen Vorgesetzten, verkündeten Phrasen und Anforderungen.

Die Eingabe war zweifellos systemstabilisierend, weil sie anzeigte, dass man es noch aushalten konnte und vor allem deshalb, weil sie oftmals einen Vorschlag zur Veränderung enthielt, was wiederum die Reformfähigkeit des Systems unterstellte. Erst wenn die Kritik in Wut, Resignation oder Verzweiflung umschlug, konnte sie systemgefährdend werden. Briefe dieser Art waren fast ausnahmslos anonym.

Das Eingabenschreiben bedeutete kulturell sicher noch viel mehr – es war konstruktiv, es war subversiv. Vorstellungen von Normalität und erfahrene Realität sind die Pole der individuellen Auseinandersetzung mit der Lebenswelt. Wenn die Diskrepanz zwischen beiden das erträgliche Maß überstieg, löste das die Beschwerde oder den Zuschauerbrief aus. Dass es in der Kaufhalle keine Cornflakes zu kaufen gab oder keine H-Milch, war normal, aber dass es 1982 kein frisches Brot geben sollte, war ein Skandal.

 



[1] Essay zur Quelle Nr. 1.13, Briefwechsel über die Ursachen für das Wegwerfen von Brot in der DDR. Eine Eingabe und ihre Antwort (1982).

[2] Deutsches Rundfunk Archiv, Außenstelle Berlin, Zeitgeist-Sammlung, Einleitung der Mitarbeiter des Büros für Zuschauerpost, unsigniert, unpaginiert.

[3] Vgl. Quelle Nr. 1.13 in diesem Band.

[4] Zeitzeugen deuten ihre Biographien stets in solchen Kontexten und beziehen sich damit auf den öffentlichen Diskurs, der von Schlagworten wie „friedliche Revolution“, „SED-Unrechtsstaat“, „blühende Landschaften“, „Ostalgie“, „Abwanderung“, „Schrumpfung“ usw. getragen wird.

[5] Deutsches Rundfunk Archiv, Monatsbericht und Halbjahresbericht 1967 vom 17.7.1967, unpaginiert.

[6] Das DDR-Kürzel für DIN. Die Abkürzung bedeutet: Technische Normen, Gütevorschriften und Lieferbedingungen.

 


Literaturhinweise:
  • Kaelble, Hartmut; Kocka, Jürgen; Zwahr, Hartmut, Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994
  • Merkel, Ina, Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln 1999
  • Dies. (Hg.), Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! Briefe an das Fernsehen der DDR, erw. Neuausgabe, Berlin 2000
  • Mühlberg, Felix, Bürger, Bitten und Behörden. Geschichte der Eingabe in der DDR, Berlin 2004
  • Wunderwirtschaft. DDR-Konsumkultur in den 60er Jahren, hg. von der NGBK, Köln 1996

Briefwechsel über die Ursachen für das Wegwerfen von Brot in der DDR. Eine Eingabe und ihre Antwort (1982) [1]

Brief von Karola Erdmann (anonymisiert) aus Dresden vom 16. Mai 1982 an das Fernsehen der DDR, Sendereihe Prisma

Wir diskutieren das Problem des Wegwerfens von Brot schon seit einiger Zeit und wollen die Ursachen erforschen. Ich möchte deshalb Ihnen folgende Begebenheit erzählen.

Als ich Freitag nachmittags 11.00 Uhr in der Kaufhalle 8036 Dresden Senftenberger Straße meine Einkäufe tätigte, stand eine lange Schlange Kunden vor dem Käseverkaufsstand. Erregt wurde diskutiert, denn es war keine Verkäuferin am Stand anwesend. Die Verkäuferin befand sich an den Regalen, wo das Brot zur Selbstbedienung angeboten wird. Einige Kunden hatte die Verkäuferin dorthin geholt, um darauf hinzuweisen, daß das gesamte angebotene Brot hart und alt wäre. Verschiedene Kunden beschimpften sich gegenseitig, daß sie das Brot ständig anfassen würden. Sie verlangten das Beschwerdebuch. Immer mehr Kunden kamen, denn am Freitag ist ja zu dieser Zeit Hochbetrieb in den Kaufhallen, und prüften das Brot, d.h. jeder nahm mehrere Brote nacheinander in die Hand und befühlte sie. Ich stand ungefähr 20 Minuten und beobachtete wie die Brote nun laufend von Hand zu Hand gingen. Was nutzt da ein Stückchen Papier, das in jedem Regal liegt. Auch andere Kunden gesellten sich zu mir und schimpften über einen derartigen Mißstand. Sie äußerten sich darüber, was wohl mancher von den Kunden in den Händen gehabt hätte – ich möchte hierzu nicht deutlicher werden. Während dieser ganzen Zeit – die Verkäuferin vom Käsestand hatte sich schon wieder an ihren Arbeitsplatz begeben – ließ sich niemand von der Leitung der Kaufhalle blicken. So verlangte ich den Leiter der Kaufhalle zu sprechen. Eine Verkäuferin gab mir eine ungenügende unfreundliche Auskunft, so daß ich selber auf die Suche ging, und mich auch einige Kunden dabei begleiteten. Aber die Suche blieb ohne Erfolg. Nach wiederholter Befragung der verschiedenen Verkäuferinnen verwies man mich an die Verantwortliche für Brot- und Backwaren. Diese sortierte in aller Ruhe Ansichtskarten. Sie erteilte mir die Auskunft, daß diese Brote heute vom Backkombinat Dresden in diesem Zustand geliefert worden wären. Wenn ich mich darüber beschweren wolle, dann sollte ich dieses dort tun. Die Frage von mir, warum sie das Brot vom Backwarenkombinat so annehmen würde, wurde empört von Frau Bär zurückgewiesen. Sie war der Meinung, daß das Brot, das geliefert würde, auch verkauft werden müßte. In der Zwischenzeit konnte ich feststellen, daß ständig die Kunden das Brot abtasteten und keines mitnahmen und sich äußerten, dann lieber kein Brot essen zu wollen. Ältere Kunden bemerkten, daß sie dann ihre letzten Zähne einbüßen würden. Auch hörte ich, daß man von solchen Broten nur ein paar Schnitten gebrauchen könne und den Rest wegwerfen müsse.

Ist das nun nur in unserer Kaufhalle in Dresden so, oder trifft das für viele Verkaufsstellen zu? Denkt man daran, daß in fernbeheizten Wohnungen ein schon hart gekauftes Brot schon in einem Tag zu einem „Ziegelstein“ wird? Wie steht man zur Hygiene, ist es nicht zu verhindern, daß eine Menge Menschen jedes Brot anfassen, ehe es auf den Tisch kommt? Kann man vielleicht die Brote einpacken, um das zu verhindern? Kann man das Brot in Foliebeutel tun, die an der Kasse wieder abgenommen werden? Mir ist nach diesem Vorfall das Brotessen verleidet worden. Sollte man sich nicht überhaupt mehr Gedanken darüber machen, wie man die sozialistische Verkaufskultur überall verbessert!! Ich bitte darum dieses Problem einmal zu untersuchen.

Im Nachgang zu dieser Anfrage möchte ich Ihnen mitteilen, daß mein Anliegen mit Schreiben vom 10.1.82 Ihre Antwort vom 22.1. unter Ihrem Zeichen Pr/45/8 bis zum heutigen Tage von einer Stelle zur anderen weitergegeben worden ist und noch keiner Lösung zugeführt wurde. Es liegen inzwischen fünf Benachrichtigungen vor. Ich glaube nicht, daß dieses im Sinne unseres Genossen Erich Honeckers ist, der im Bericht an den X. Parteitag forderte: „..dem Arbeiterwort Geltung verschaffen, hellhörig auf alle Signale achten, rasch und sorgfältig auf die Vorschläge und Kritiken der Werktätigen reagieren und Lösungen herbeiführen, wo sie notwendig und möglich sind.“

Mit freundlichen Grüßen!

Karola Erdmann

Antwortschreiben Gustav Ackermann (anonymisiert), Leiter der Fachabteilung Kaufhallen beim Rat der Stadt Dresden, vom 30. Juni 1982

Werte Frau Erdmann!

Von der Redaktion PRISMA wurde mir Ihre Eingabe zu den „Ursachen für das Wegwerfen von Brot“ zwecks Beantwortung übermittelt. Ihre berechtigten Fragen und Kritiken zum Verkauf von Brot in Selbstbedienungseinrichtungen waren für mich Anlaß, eine persönliche Aussprache durch meine Fachabteilung mit der stellvertretenden Kaufhallenleiterin der KG Kaufhalle Senftenberger Straße und dem Konsum-Bezirksverband zu führen.

Zum Frischegrad des Brotes möchte ich Sie davon informieren, daß lt. TGL Brot bis zu 3 Tagen als TGL-gerecht anzusehen ist. Der Produktionstag ist aus der Prägung bzw. dem Etikett ersichtlich. Demzufolge ist Brot vom Vortag kein „altes Brot“ und weder hart noch ungenießbar.

Zu Ihren Feststellungen in Bezug auf die Hygiene muß bedauerlicherweise eingeschätzt werden, daß sich ein Teil der Kunden unvernünftig verhält.

Dazu wurde folgendes veranlaßt:

Alle Fachdirektoren des volkseigenen Einzelhandels und die Vorstandsmitglieder der Konsumgenossenschaften wurden verpflichtet, in ihrem Verantwortungsbereich die Gesamtproblematik auszuwerten und im Rahmen von Schulungen des Verkaufspersonals auf die strikte Einhaltung der erforderlichen hygienischen Bestimmungen hinzuweisen.

Dabei ist von den Einzelhandelsobjekten zu beachten, daß

unmittelbar neben den Brotregalen ständig entsprechend geschnittenes Papier bereitliegt

die Verkaufsaufsichten bzw. beratenden Verkäuferinnen in den Objekten noch besser darauf Einfluß nehmen, daß Kunden nicht Brot anfassen, ohne es zu kaufen

die Brotregale, -wagen oder -fächer möglichst in der Nähe des Backwarenstandes stehen, um eine zusätzliche Aufsicht zu garantieren

die Brote so gelagert werden, daß sie mit der Kante der Brotregale bzw. -fächer abschließen und nicht darüber hinaus ragen.

Den wirtschaftsleitenden Organen des Einzelhandels wurde weiterhin empfohlen, durch ihre Werbeabteilung Hinweisschilder anzufertigen, die auch die Kunden beim Einkauf von Brot in Selbstbedienung an ihre Verpflichtung hinsichtlich der Hygiene erinnern.

Ich möchte mich für Ihre Hinweise bedanken und hoffe, daß Sie in den Verkaufsstellen weiterhin mit darauf achten, daß die getroffenen Festlegungen auch durchgesetzt werden.

Mit sozialistischem Gruß,

Gustav Ackermann

Abteilungsleiter



[1] Brief und Antwort stammen aus dem Deutschen Rundfunkarchiv, Außenstelle Berlin, Historisches Archiv, Zeitgeistsammlung (beide zum Zeitpunkt der Sichtung noch ohne Signatur).

 


Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
Für das Themenportal verfasst von

Ina Merkel

( 2006 )
Zitation
Ina Merkel, Vom Zeitgeist in der DDR, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1341>.
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