Südslawen und Habsburgermonarchie um 1900. Zur Europäizität des "Jugoslawismus".

Die derzeitige Debatte zu einer künftigen Südosterweiterung der EU bezieht sich vorrangig auf die Türkei, auf ihre EU-Kompatibilität, nur gelegentlich auch auf Rumänien und Bulgarien als nächste Beitrittskandidaten, viel zu wenig auf die südslawisch-albanische Region. Diese wird seit der Auflösung Tito-Jugoslawiens aus westeuropäischer Sicht fast nur in den Kategorien von Kriegsfolgenmanagement und Konfliktprävention wahrgenommen. Dies stellt eine unbegründete Reduzierung dar – ein Ausblenden der überfälligen Frage nach der besonderen, südslawisch-westbalkanischen Variante des Europäischen, der Europäizität des Südostens:[...]

Südslawen und Habsburgermonarchie um 1900. Zur Europäizität des „Jugoslawismus“[1]

Von Günter Schödl

Die derzeitige Debatte zu einer künftigen Südosterweiterung der EU bezieht sich vorrangig auf die Türkei, auf ihre EU-Kompatibilität, nur gelegentlich auch auf Rumänien und Bulgarien als nächste Beitrittskandidaten, viel zu wenig auf die südslawisch-albanische Region. Diese wird seit der Auflösung Tito-Jugoslawiens aus westeuropäischer Sicht fast nur in den Kategorien von Kriegsfolgenmanagement und Konfliktprävention wahrgenommen. Dies stellt eine unbegründete Reduzierung dar – ein Ausblenden der überfälligen Frage nach der besonderen, südslawisch-westbalkanischen Variante des Europäischen, der Europäizität des Südostens: Nach der Langzeitwirkung bestimmter geschichtlich gewachsener Strukturzusammenhänge und der künftigen Integrierbarkeit charakteristischer Entwicklungsdispositionen, somit Sachverhalten, die sich eben nicht aus der Krise und den Konflikten von 1989/91 und den Folgejahren ableiten lassen.

Eines der in diesem Sinne konstitutiven Phänomene, die ‚moderne’ Nations- und Staatsbildung, soll im Folgenden am Beispiel der „Resolution von Rijeka“ erörtert werden, die am 3. Oktober 1905 als Grundsatzerklärung kroatischer Nationalpolitik, vorbereitet durch A. Trumbics Entwurf vom 11./13. September 1905, von kroatischen Parlamentariern beschlossen wurde. Sie verband die Betonung kroatischer Individualität, der Existenz einer kroatischen Nation, mit jugoslawistischer Öffnung, mit der Anerkennung anderer südslawischer Nationen und Bejahung ihrer wenn nicht staatlichen, so doch wenigstens kulturellen Zusammengehörigkeit. Dies fand verhaltenen Ausdruck in dem Anspruch, „daß jede Nation das Recht hat, frei und unabhängig über ihr Wesen und über ihr Schicksal zu entscheiden.“[2]Die eigentliche, nationalpolitische Zielsetzung, nämlich die kroatische nationale Integration und Selbstbestimmung innerhalb der Habsburgermonarchie und eine kroatisch-serbische Solidarisierung, wird überhaupt nur indirekt angesprochen. Konkreter ist die entsprechende Passage einer ergänzenden kroatisch-serbischen Resolution vom 14. November 1905, die im dalmatinischen Landtag abgefasst wurde: „Die Klubs der kroatischen Partei und der serbischen nationalen Partei beharren auf dem Grundsatz, daß Kroaten und Serben eine Nation sind […].“[3]In der auf Rijeka folgenden Resolution von Zadar vom 17. Oktober 1905 hatten serbische Abgeordnete des dalmatinischen Landtags bereits ihre „kroatischen Brüder“ apostrophiert und vor allem auf die Gleichberechtigung „des serbischen und kroatischen Volkes“[4]abgehoben.

Diese kroatisch-serbische Annäherung war Voraussetzung dafür, dass das klassische Anliegen der kroatischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts, die Überwindung der staatlichen Teilung der kroatischen Nation, nunmehr zum gemeinsamen kroatisch-serbischen Ziel erklärt werden konnte: Durch die „Re?nkorporierung“ des österreichischen Kronlandes Dalmatien in die zu Ungarn gehörende „Banovina“ Kroatien-Slawonien sollte dem „Volke Kroatiens, Slawoniens und Dalmatiens“ letztlich „eine unabhängige politische, kulturelle, finanzielle und allgemeine wirtschaftliche Existenz und Entwicklung gesichert werden.“[5]Das übergeordnete nationalpolitische Ziel einer qualitativen Aufwertung eines solchen geeinten Kroatien neben Österreich und Ungarn als den bisherigen Teilkörpern der Habsburgermonarchie wurde nur indirekt formuliert, und zwar durch Solidarisierung mit der gleichzeitig gegen Wien opponierenden ungarischen Opposition: „Die kroatischen Abgeordneten sind der Ansicht, daß die heutigen Zustände im öffentlichen Leben Ungarns ihren Ursprung in dem Kampfe haben, der daraufhin zielt, daß das Königreich Ungarn allmählich seine vollkommene staatliche Unabhängigkeit erreiche. Die kroatischen Abgeordneten erachten dieses Bestreben für völlig gerechtfertigt […].“[6]Diese Kombination von kroatisch-serbischer und südslawisch-magyarischer Koalitionsbildung gegen ‚Wien’ und die Weiterexistenz der Habsburgermonarchie in ihrer dualistischen Gestalt von 1867 war der nationalpolitische Kern der Resolution von Rijeka, damit jener „resolutionistischen“ Politik, die fortan im österreichischen Kronland Dalmatien wie in der ungarischen Banovina ihren parlamentarischen Durchbruch erleben sollte. Alle weiteren Forderungen stellen lediglich eine Folge der übergeordneten nationalpolitischen Programmatik dar: So diejenigen nach Beendigung der „unerträglichen parlamentarischen und verwaltungspolitischen Zustände“, nach einer qualitativen Ausdehnung des Wahlrechts, nach einer unabhängigen Justiz, Versammlungs- und Pressefreiheit usw.

Trotz ihrer grundsätzlichen Bereitschaft zu einem pragmatischen Arrangement mit den Serben und trotz ihres Bekenntnisses zur südslawischen kulturellen Gemeinsamkeit beharren die kroatischen Resolutionisten doch auf der gesamtkroatischen und der Ablehnung einer „jugoslawischen“ nationalen Identität. Die inhaltliche Genesis der Resolution von Rijeka lässt Rücksichtnahmen auf kroatische Kritiker, auf den umworbenen ungarischen Partner und sogar auf ‚Wien’ bzw. österreichische Landesverwaltung erkennen. So war die programmatische Unterordnung des Zieles einer „exklusiven“ kroatischen Nationalpolitik bzw. Nationalstaatsbildung unter dasjenige einer kroatisch-serbischen Zusammenarbeit und damit einer gesamtslawischen bzw. „jugoslawischen“ Neuorientierung konstitutiv für die resolutionistische Politik, jedoch vermied man aus Rücksicht auf antiserbische Vorbehalte im katholischem Klerus und in der Bauernschaft eine ausdrückliche Nennung der kroatisch-serbischen Koalitionsbildung. Die Initiatoren wollten kein Risiko eingehen: Die künftige Massenbasis durfte nicht an die „Reine Rechtspartei“ des J. Frank verloren gehen, dessen proösterreichische und antiserbische Variante eines extremen kroatischen Nationalismus ebenso wie die – nach 1918 dann dominierende – kroatisch-nationalistische und sozialreformerische Bauernpartei St. Radics als Rivalen galten. Und wenn im Programm der am 26./27. April 1905 in Split gegründeten „Kroatischen Partei“ der resolutionistische Grundsatz der einen, kroatisch-serbischen Nation enthalten war, so scheute man sich doch, dies rückhaltlos kundzutun. So begnügte man sich, wie später in der Resolution, die konsequente Forderung nach voller politischer Einheitsbildung nur vage anzudeuten. Die neue dalmatinische Führungsgruppe der kroatischen Politik um Cingrija, Supilo und Trumbic tolerierte sogar die diskret hinter den Kulissen unternommene Einflussnahme des Statthalters N. Nardelli, der wiederum im Auftrag des österreichischen Ministeriums des Innern agierte.[7]Nachdem „einflußreiche Abgeordnete, die ich […] sondierte, versicherten […], daß sie nicht die Absicht hätten, die Frage der Fiumaner Resolution ins Plenum des Landtags zu bringen […]“[8], machte er die Parlamentarier mit der ‚Schmerzgrenze’ der österreichischen Regierung bekannt: Politisch korrekt sei es – so lautete die vereinbarte Sprachregelung –, die Vereinigung der Kroaten beider Reichshälften zu fordern; dagegen beschaffte sich der Statthalter den „Allerhöchsten Auftrag“, den Landtag sofort zu schließen, wenn diese Grenze überschritten und ein „die Frage der Vereinigung Dalmatiens mit der Stefanskrone [somit Ungarn; GS] betreffender Antrag“ im Landtag bis in die zweite Lesung gelangen würde.[9]

Im Einzelnen schwankte die zeitgenössische Einschätzung des „neuen Kurses“: Während Statthalter und Cingrija als ‚Vater’ der Resolution sich hinter den Kulissen weitgehend auf die abwertende Einschätzung einigten, es sei nicht klar, ob das resolu­tionistische „Vabanquespiel […] gut oder schlecht“, mehr als eine bloße Demonstration sei[10], und der Statthalter noch im Frühjahr 1906 die resolutionistische Bewegung für „vollständig begraben“ hielt, sah er sich bereits im Juni dazu veranlasst, der österreichischen Regierung eine dramatisch veränderte Einschätzung mitzuteilen: Die kroatisch-serbische Strömung habe, unterstützt von der ungarischen Regierung, eine Dynamik entwickelt, die die Prophezeiung seiner Amtsvorgänger bestätige, „dass eine Zeit kommen werde, in welcher es nahezu unmöglich sein wird, hier zu regieren.“[11]

Die Politik der Resolutionisten wies wenig Bezüge zu den Interessen des kroatischen Handelsbürgertums in den größeren dalmatinischen Städten auf, ebenso wenig zu den eklatanten Unterschieden der Lebensbedingungen in Dalmatien und Kroatien. Auf der oberen und unteren Ebene kroatischer Nationalpolitik waren weder das existenzielle Interesse der schmalen südslawischen Unternehmerschicht an einer Kombination von gesamthabsburgischem Zollgebiet und zollpolitischer Bevorzugung noch grundlegende Probleme präsent, ebenso wenig gesellschaftliche Phänomene wie der Status der dalmatinischen Kolonen (Pachtbauern), die periodischen lokalen Hungersnöte, die völlig unzureichende medizinische Versorgung[12]oder die eklatanten Ausbildungsdefizite.

In Dalmatien ergab sich geradezu eine Aufspaltung des Politisierungsprozesses. Jener „jugoslawische“ Solidarisierungsimpuls, dem kroatische und serbische Angehörige ‚junger’ Elitegruppen und Klientelverbände folgten, war zumindest teilweise interessenpolitisch bedingt. Obwohl diese Art der Motivierung auch bei der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit maßgeblich für den Abbau kroatisch-serbischer Distanz gewesen ist, wies sie einen anderen sozialen Inhalt auf und bildete sich auf einer ganz anderen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe. Es kam zu einer regelrecht bipolaren Prägung des – äußerlich scheinbar uniform jugoslawistisch ausgerichteten – Politisierungsprozesses: Die bäuerliche Bevölkerung identifizierte sich mit der südslawischen Solidarisierung und dem Emanzipationsstreben primär als komplementäre Begleiterscheinung kollektiver Unzufriedenheit, vor allem mit dem Kolonat als bäuerlicher Existenzform. Bei der Formierung einer resolutionistisch-jugoslawistischen Resonanzbasis in Kroatien-Slawonien kam es deshalb nicht zu einer homogenen Motivationslage. Auch hier wirkte sich – neben kulturell-konfessionellen und administrativ-politischen Impulsen – soziale Uneinheitlichkeit als Hindernis für schichtenübergreifende und inhaltlich homogene Hinwendung zum Jugoslawismus aus. Während auf einer oberen, bürgerlichen Ebene des Politisierungsprozesses die konkurrierenden Programmangebote, kroatisch-nationalistischer und kroatisch-jugoslawistischer Art, nicht mehr mobilisierend wirkten, waren sie auf einer unteren, vor allem bäuerlichen Ebene in der sozialen Kommunika­tion noch kaum zur Geltung gekommen. Bevor die resolutionistisch-jugoslawische Variante des Nationalismus eine breite Politisierungsdynamik entfalten konnte, war sie bereits eine ‚säkularisierte’, weitgehend abhängige Funktion struktureller und mentaler Entwicklungsunterschiede geworden.

Dieses Defizit an sozialer Relevanz und eigenständigem Praxisbezug, an gestaltender und disziplinierender Wechselbeziehung zu soziostrukturell ’logischen’ Phänomenen von Wandel und Wahrnehmung ist an der inhaltlichen Genesis und der Wirkungsgeschichte der Resolution von Rijeka als Grundprogramm der resolutionistisch-jugoslawistischen Bewegung ablesbar. Es gehört in die Traditionslinie jenes selbstreferenziell-inhaltsleeren, zur zerstörerischen Verselbständigung disponierten doktrinären Nationalismus, der in der multipel-kleinteiligen Entfaltung südslawischer Nationalismen des 19. Jahrhunderts nicht anders zu Tage tritt als am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert.

Ob ein früher Entwurf kroatisch-jugoslawistischer ’Selbsterfindung’ wie Fr. Rackis „Jugoslovjenstvo“ um 1860 oder eine späte Erscheinungsform wie der antimodernistische Funktionswandel des titoistischen Jugoslawismus zur Debatte steht, die Belege für eine charakteristische, gewissermaßen umgekehrt proportionale Ausprägung von defizitärem Wirklichkeitsbezug und dysfunktionaler Vielfalt lassen sich als ’genetische’ Grammatik des Nationalen lesen – nicht nur des Nationalen im südslawischen Europa, und nicht nur in demjenigen der Vergangenheit.

Die in vielem widersprüchlich-uneinheitliche kroatische, serbische, südslawische Realität am Vorabend des Ersten Weltkriegs und deren konfliktträchtige Folgen erscheinen vielen als Ausdruck eines krisenhaft-hybriden Variantenreichtums und einer grundlos-intensiven Fehlentwicklung: Aus westlicher Perspektive ein ‚überflüssiger’ entwicklungsgeschichtlicher Zweifel am eigenen, historisch erfolgreichen westeuropäischen Entwicklungsmodell. Die südslawische Geschichte repräsentiert demnach eine unerklärt variantenreiche Ambivalenz von Rationalität und Aggressivität, von Massenmobilisierung und –politisierung, Aufbau und Zerstörung. Ihre Gesellschaften sind unzugänglich für die objektivierende Unterscheidung von ‚eigener’ Entwicklung, von Entwicklungsrückstand und Fehlentwicklung. Dennoch kommt ihnen durch ihre historische wie gegenwärtige Existenz eine meist unterschätzte Relevanz für das Erweiterungs- und Integrationskalkül EU-Europas zu. Ob vertraut oder fremd, ob Konformität oder Abweichung, ob Imitation oder Selbsterfindung, die Verbreiterung der ‚genetischen’ Basis von Selbstvergewisserung und osteuropäischer Entwicklungsstrategie EU-Europas erfordert ihre Berücksichtigung.

Die Resolution von Rijeka vermittelt einen historischen Eindruck vom Selbstverständnis, wie sich im Südosten des Kontinents Gesellschaften in den Kategorien der europäischen Moderne, insbesondere von Entwicklung und Nation, definierten und entfalteten – geprägt von Impulsen und Defiziten, von Erwartung und Frustration, und auch von der Selbstverständlichkeit, als ein Stück Europa wahrgenommen zu werden. Europäizität oder Europa hat im Südosten viele Anfänge: Einer davon lässt sich auf 1905 datieren, auch wenn das ‚europäische’ Gedächtnis der EU dieses Wissen nicht zu erkennen gibt.


[1] Essay zur Quelle Nr. 6.7, Die Resolution von Rijeka (Fiume) vom 3. Oktober 1905.

[2] Zit. n. Südland, L.v. (Pseudonym zu Pilar, Ivo), Die südslawische Frage und der Weltkrieg, 2. Aufl., Zagreb 1944, S. 673.

[3] Zitiert nach Südland (wie Anm. 2), S. 678.

[4] Ebd.

[5] Zitiert nach Südland (wie Anm. 2), S. 675.

[6] Zitiert nach Südland (wie Anm. 2), S. 673.

[7] Österreichisches Staatsarchiv, Abt. Allgemeines Verwaltungsarchiv (=AVA Wien), MI, 22 Dl, Z. 2875 v. 06.05.1905: Bericht des Statthalters an den Minister des Innern, Z. 5 geheim v. 01.05.1905.

[8] AVA Wien, MI, 22 Dl, Z. 7544 v. 10.11.1905: Bericht des Statthalters an den Minister des Innern, Nro. 17 geheim v. 06.11.1905.

[9] AVA Wien (wie Anm. 7).

[10] AVA Wien, MI, 22 Dl, Z. 5690 v. 28.06.1906: Bericht des Statthalters an den Minister des Innern, Nro. 16 geheim v. 23.06.1906.

[11] AVA Wien (wie Anm. 10).

[12] AVA Wien (wie Anm. 10). So war im Jahre der Resolution von Rijeka 1905 ein Zehntel der dalmatinischen Bevölkerung an Malaria erkrankt, ohne dass die notwendigen und geplanten Gegenmaßnahmen ergriffen wurden.


Literaturhinweise:

  • Rumpler, Helmut, Österreichische Geschichte. 1804 – 1914: Eine Chance für Mitteleuropa, Wien 1997
  • Steindorff, Ludwig, Kroatien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 2001
  • Behschnitt, Wolf D., Nationalismus bei Serben und Kroaten 1830 – 1914, München 1980
  • Suppan, Arnold, Die Kroaten, in: Wandruszka, Adam; Urbanitsch, Peter (Hg.), Die Habsburgermonarchie von 1848 – 1918, Bd. III/1, Wien 1980, S. 626-733

Die Resolution von Rijeka [Fiume] (3. Oktober 1905)[1]

Angesichts der politischen Lage, in welche die Monarchie zufolge der ungarischen Krise geraten ist, sind die kroatischen Abgeordneten zusammengetreten, um Stellung zu dieser neuen Lage zu nehmen und die Richtungslinien für die politische Tätigkeit des kroatischen Volkes zu bestimmen, in Fragen, die unbestritten und allen gemeinsam sind, ohne hierbei den prinzipiellen Standpunkt, an dem sie in ihrer parlamentarischen Tätigkeit, sei es nun als Klubmitglieder, sei es als Individuen, festhalten, zu präjudizieren.

Die kroatischen Abgeordneten sind der Ansicht, daß die heutigen Zustände im öffentlichen Leben Ungarns ihren Ursprung in dem Kampfe haben, der darauf hinzielt, daß das Königreich Ungarn allmählich seine vollkommene staatliche Unabhängigkeit erreiche.

Die kroatischen Abgeordneten erachten dieses Bestreben für völlig gerechtfertigt, schon aus dem Grunde, als jedes Volk das Recht besitzt, frei und unabhängig über sein Wesen und sein Schicksal zu entscheiden.

Die kroatischen Abgeordneten sind überzeugt, daß die beiden Nationen, die kroatische und die ungarische, nicht nur mit Rücksicht auf ihre historischen Beziehungen, sondern mehr noch mit Rücksicht auf ihre unmittelbare Nachbarschaft und ihre tatsächlichen Lebensbedürfnisse auf gegenseitigen Beistand angewiesen sind, und daß sie deshalb jeden Anlaß oder jeden Grund gegenseitiger Reibungen vermeiden sollen.

Von diesen Voraussetzungen ausgehend, erachten es die kroatischen Abgeordneten für ihre Pflicht, Seite an Seite mit der ungarischen Nation für die Erreichung aller konstitutionellen Rechte und Freiheiten zu kämpfen, in der Überzeugung, daß diese Rechte und Freiheiten sowohl der ungarischen als auch der kroatischen Nation zu gute kommen werden; auf diese Weise wird die Grundlage zu einer dauernden Verständigung beider Nationen gelegt werden.

Die Erreichung dieses Zieles, das den beiderseitigen Vorteilen dienen soll, ist bedingt in erster Reihe durch die möglichst baldige Re?nkorporierung Dalmatiens den Königreichen Kroatien, Slawonien, denen es bereits virtuell und rechtlich angehört.

Damit an die Verwirklichung der Re?nkorporierung Dalmatiens herangetreten werden könne, ist es vorerst notwendig, daß den gegenwärtig bestehenden, unerträglichen parlamentarischen und verwaltungspolitischen Zuständen in Kroatien und Slawonien so bald als möglich ein Ende bereitet und daß solche Zustände geschaffen werden, welche den Bedürfnissen eines zivilisierten Landes, sowie den Freiheits- und den Verfassungsansprüchen, welche durch liberale Verfassungseinrichtungen verbürgt erscheinen, entsprechen würden, und zwar:

Ein Wahlgesetz, welches die Wahl solcher Volksvertreter ermöglichen und sicherstellen würde, welche den ungehinderten freien Willen der Nation zum wahren Ausdruck bringen; vollkommene Preßfreiheit unter Abschaffung des objektiven Verfahrens und Einführung von Geschworenengerichten für politische und Preßvergehen; Versammlungs- und Vereinsfreiheit, mit dem Rechte freier Meinungsäußerung; Verwirklichung der richterlichen Unabhängigkeit, mit ausreichenden Bürgschaften, daß kein Richter abgesetzt oder für seine Amtshandlungen als Richter verantwortlich gemacht werden kann; besondere Einrichtung eines Verwaltungsgerichtshofes zum Schutze der Interessen und politischen Rechte der Bürger gegen die Willkür der Behörden; Bildung eines besonderen Gerichtshofes für Beurteilung strafrechtlicher Verantwortlichkeit aller Staatsbeamten wegen Gesetzesverletzungen.

Die kroatischen Abgeordneten sind der Überzeugung, daß eine dauernde Verständigung der kroatischen und der ungarischen Nation durch genaue und strenge Beobachtung der Rechte der kroatischen Nation, wie sie im bestehenden kroatisch-ungarischen Ausgleich enthalten sind, am raschesten erreicht werden könne, ferner durch die Abänderung der Verhältnisse, welche sich auf jene Angelegenheiten beziehen, welche Kroatien und Ungarn ebenso wie der westlichen Hälfte der Monarchie gemeinsam sind, und zwar solcher Art, daß der kroatischen Nation eine unabhängige politische, kulturelle, finanzielle und allgemein wirtschaftliche Existenz und Entwicklung gesichert werde.

Als eine natürliche Folge der Ereignisse wird jeder vom Volke Kroatiens, Slawoniens und Dalmatiens gemachte Fortschritt einen günstigen Einfluß auf die Lage derjenigen unserer Rassenangehörigen ausüben, die in anderen Ländern leben, besonders am exponiertesten Punkte, nämlich im Schwesterlande Istrien.

Um die hier angeführten Grundsätze, Ziele und Forderungen durchzuführen, und sie ihrer Verwirklichung näher zu bringen, wird ein Ausschuß von fünf Abgeordneten gewählt, dem noch die weitere Aufgabe zukommt, an der Förderung und der Entscheidung aller jener Fragen mitzuwirken, welche unseren Ländern gemeinsam sind oder der allgemeinen nationalen Wohlfahrt dienen.

Gegeben in der Versammlung der kroatischen Volksvertreter in Rijeka (Fiume) am 3. Oktober 1905.



[1] Südland, L. v. (Pseudonym zu Pilar, Ivo), Die südslawische Frage und der Weltkrieg, 2. Aufl., Zagreb 1944, S. 673-675.

 


Zugehöriger Essay:
Günter Schödl: Südslawen und Habsburgermonarchie um 1900. Zur Europäizität des "Jugoslawismus"
Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.

Für das Themenportal verfasst von

Günter Schödl

( 2006 )
Zitation
Günter Schödl, Südslawen und Habsburgermonarchie um 1900. Zur Europäizität des "Jugoslawismus", in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1354>.
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