Region und Epoche statt Raum und Zeit - „Ostmitteleuropa“ als prototypische geschichtsregionale Konzeption.

Das Interesse an der Kategorie „Raum“ ist in der Geschichtswissenschaft den letzten zwanzig Jahren merklich gewachsen. Der vorliegende Beitrag zeichnet die Entwicklung des Konzepts „Geschichtsregion“ seit der Zwischenkriegszeit nach und thematisiert die transnationalen und vergleichenden Aspekte dieses Konzepts. Einen Ausgangspunkt dafür bilden die Arbeiten von O. Halecki, der anhand der Trennung zwischen westlicher und orthodoxer Kirche Ostmittel- von Osteuropa abgrenzt und dessen Ostmitteleuropa-Begriff in der Folgezeit sowohl die westdeutsche als auch die osteuropäische Forschung geprägt hat. Geschichtsregionale Konzeptionen werden häufig implizit und damit unreflektiert in der Forschung verwendet – so in der Nationalgeschichte oder bei der Beschäftigung mit „Europa“ – und weisen oft eine hohe Affinität zu Wahrnehmungs- und Handlungsräumen der jeweiligen Gegenwart auf. Der Autor kommt zu dem Befund, dass das am ostmitteleuropäischen Entwicklungspfad entwickelte Untersuchungsdesign der „Geschichtsregion“ [.

Region und Epoche statt Raum und Zeit. "Ostmitteleuropa" als prototypische geschichtsregionale Konzeption

Von Stefan Troebst


Abstract:

Das Interesse an der Kategorie „Raum“ ist in der Geschichtswissenschaft in den letzten zwanzig Jahren merklich gewachsen. Der vorliegende Beitrag zeichnet die Entwicklung des Konzepts „Geschichtsregion“ seit der Zwischenkriegszeit nach und thematisiert die transnationalen und vergleichenden Aspekte dieses Konzepts. Einen Ausgangspunkt dafür bilden die Arbeiten von O. Halecki, der anhand der Trennung zwischen westlicher und orthodoxer Kirche Ostmittel- von Osteuropa abgrenzt und dessen Ostmitteleuropa-Begriff in der Folgezeit sowohl die westdeutsche als auch die osteuropäische Forschung geprägt hat. Geschichtsregionale Konzeptionen werden häufig implizit und damit unreflektiert in der Forschung verwendet – so in der Nationalgeschichte oder bei der Beschäftigung mit „Europa“ – und weisen oft eine hohe Affinität zu Wahrnehmungs- und Handlungsräumen der jeweiligen Gegenwart auf. Der Autor kommt zu dem Befund, dass das am ostmitteleuropäischen Entwicklungspfad entwickelte Untersuchungsdesign der „Geschichtsregion“ inzwischen als zentrale Kategorie von der „allgemeinen“ Geschichtswissenschaft übernommen wurde.


Die Debatte über eine vorgebliche „Wiederkehr des Raumes“, wie sie in der deutschen Geschichtswissenschaft im Zuge des spatial (re)turn geführt wird, weist zwei Besonderheiten auf: Zum einen belegt sie, dass die Schwerpunktsetzung des Trierer Historikertags von 1986 auf „Räume der Geschichte – Geschichte des Raumes“ lange Zeit nahezu folgenlos blieb; selbst Reinhart Kosellecks fulminanter Schlussvortrag „Raum und Geschichte“ erschien erst mit vierzehnjähriger (!) Verspätung im Druck. Noch eklatanter ist die Lücke, die das Fehlen eines Artikels „Raum“ in dem von Koselleck mitkonzipierten und -herausgegebenen Nachschlagewerk „Geschichtliche Grundbegriffe“ darstellt. Im Vorwort zum siebten und letzten Band dieses Historischen Lexikons zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland wird diese Fehlanzeige mit delikater Dialektik mit „Zeitmangel“ begründet. Und wiederum Koselleck schreibt 2002 in dem von Stefan Jordan herausgegebenen Lexikon Geschichtswissenschaft im Artikel „Zeit“, dass diese „wie Raum ein Universalbegriff ist, ohne den keine menschliche Erfahrung und keine Wissenschaft denkbar ist“. Umso erstaunlicher ist dann allerdings, dass dieses Lexikon der Hundert Grundbegriffe weder einen Artikel „Raum“ enthält noch sich im Register ein Verweis auf dieses Stichwort findet. Mit anderen Worten: Wir haben es bei der geschichtswissenschaftlichen Bezugnahme von Raum und Geschichte, zumindest was die Theorie betrifft, mit einem ungedeckten Scheck zu tun.

Das ist nun, könnte man einwenden, insofern kein allzu überraschender Befund, als Historiker/innen die „Zeit“ der Logik ihres Berufes und ihrer Methode näher liegt als der „Raum“, für den sich primär andere Disziplinen zuständig fühlen. Doch stellt sich dennoch die Frage, woher dann dieser deklamatorische Drang zum Raum rührt, wie er erneut auf dem Kieler Historikertag 2004 unter dem Motto „Kommunikation und Raum“ – mit zum Teil an den Haaren herbeigezogenen Raumbezügen – zu besichtigen war. Und es stellt sich weiter die Frage, warum der „geschichtliche Grundbegriff ‚Raum‘“ (Alfred Heit) jetzt wiederum gleichsam im „Rohzustand“ diskutiert bzw. als imaginierter Container verwendet wird, in dem sich „Geschichte“ angeblich abspielt, und dabei essentialistische, gar primordiale Prämissen gesetzt werden.

Als zweite Besonderheit fällt auf, dass die beiden Fachvertreter, welche die Debatte um die als „Wiederkehr“ drapierte generationelle Neuentdeckung des Raumes mit identisch betitelten Beiträgen hierzulande angestoßen haben, also Jürgen Osterhammel in der Neuen Politischen Literatur 1998 und Karl Schlögel in der Frankfurter Allgemeine Zeitung 1999, in ihren eigenen substantiellen Debattenbeiträgen über „Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich“ beziehungsweise „Zivilisationsgeschichte und Geopolitik“ das Rad zumindest partiell neu erfinden. Denn beide lassen die Forschungsrichtung geschichtsregionaler Konzeptionen, wie sie sich vor allem in der deutschsprachigen, zunehmend aber auch in anderen europäischen Geschichtswissenschaften findet, außer Acht – sieht man von der in der Regel lediglich rituellen Erwähnung von Fernand Braudel und seiner „mittelmeerischen Welt“ einmal ab. Dies ist nur zum Teil damit zu erklären, dass Konzeptionen der genannten Art vor allem die historische Teildisziplin Osteuropäische Geschichte hervorgebracht hat – dazu unten mehr – und somit eine kommunikative Kluft zwischen einer geschichtstheoretischen Metaebene und einer damit unverbundenen regionalhistorischen Mikroebene zu vermuten ist. Zumindest Karl Schlögel als Osteuropahistoriker hätte es aber eigentlich besser wissen müssen.

Soviel zu den Präliminarien und damit zur Schlüsselfrage: Was ist eine geschichtsregionale Konzeption? Mein Definitionsvorschlag lautet, dass es sich dabei um eine geschichtswissenschaftliche Methode transnational-vergleichender Art mit dem Potential zu einer Theorie mittlerer Reichweite handelt, um einen wissenschaftlichen Analyserahmen, in den Kontrollmechanismen mittels Quellenbiss gleichsam eingebaut sind. Das Untersuchungsdesign „Geschichtsregion“ ist dabei ein heuristischer Kunstgriff, mittels dessen nicht-territorialisierte und zeitlich eingegrenzte historische Mesoregionen, -staaten, -gesellschaften, -nationen, gar zivilisationenübergreifender Art zur Arbeitshypothese komparativer Forschung genommen werden, um dergestalt spezifische geschichtsregionale Cluster von Strukturmerkmalen langer Dauer zu ermitteln und voneinander abzugrenzen. Nicht die einzelnen Merkmale sind dabei einzigartig und somit clusterspezifisch, sondern ihre jeweilige Kombination. Großflächige, indes epochengebundene Cluster dieser Art können als Geschichtsregionen bezeichnet werden. Diese sind dabei fluktuierende Zonen mit fließenden Übergängen, die in sich entsprechend in Zentren und Peripherien gegliedert werden können. Und auch hier ist das Spezifische nicht ohne ein Umfeld denkbar, ist die eine Geschichtsregion nur im Kontext anderer zu fassen. Entsprechend ist die Relationalität das Gegenstück zur Struktur.

Obwohl von universalem Zuschnitt ist das Konzept der Geschichtsregion in einer internationalen Historikerdiskussion zunächst über „Slawentum“, dann über „Osteuropa“ in der Zwischenkriegszeit entwickelt worden. Maßgeblich beteiligt hieran waren polnischerseits Oskar Halecki und Marceli Handelsman sowie tschechoslowakischerseits Jaroslav Bidlo und Josef Pfitzner. Im US-amerikanischen Nachkriegsexil baute Halecki seine Überlegungen dann zu einem ganz Europa einschließenden Modell aus. In seinem Buch „The Limits and Divisions of European History“ aus dem Jahr 1950 identifizierte er zusätzlich zur Unterscheidung, zwischen einem auf antiken Grundlagen basierenden Alteuropa einerseits und einem außerhalb der historischen Grenzen des Imperium Romanum liegenden Neueuropa andererseits, vier neuzeitliche europäische Geschichtsregionen mit mittelalterlichen Wurzeln, nämlich Westeuropa, Westmitteleuropa – das meint Deutschland und Österreich –, Ostmitteleuropa und Osteuropa, letzteres identisch mit Russland beziehungsweise der Sowjetunion. Sein Hauptanliegen, nämlich die Markierung einer kulturellen Grenze zwischen dem westkirchlichen Ostmitteleuropa auf der einen und dem ostkirchlichen Osteuropa auf der anderen Seite – bei gleichzeitiger Relativierung der Trennlinien zwischen Ostmittel-, Westmittel- und Westeuropa –, akzentuierte Halecki weiter in seiner Gesamtdarstellung „Borderlands of Western Civilization. A History of East Central Europe“ von 1952. Dabei ist sein Ostmitteleuropabegriff ein breiter, schließt er doch den byzantinisch geprägten Balkan samt Griechenland mit ein. Zugleich ähnelt das Haleckische Ostmitteleuropa einem Palimpsest, auf dem nicht nur der polnisch-litauische Commonwealth, jener von der Ostsee bis ans Schwarze Meer reichende zeitweilig größte Staat des vormodernen Europa, sondern auch die als „Intermarium“ bzw. „Drittes Europa“ firmierenden polnischen Hegemonialkonzeptionen der Zwischenkriegszeit, durchschimmern. Halecki war eben nicht nur Historiker und Katholik, sondern auch Pole und Diplomat der Zweiten Polnischen Republik. Und in gewisser Weise war er überdies ein Prophet, der im tiefsten Kalten Krieg eine „neue Zeit“ imaginierte, welche die Ostmitteleuropäer „zum erstenmal in ihrer Geschichte in einer einzigen großen Gemeinschaft nicht nur mit Westeuropa, sondern auch mit Amerika zusammenführt“. So der letzte Satz in „Grenzraum des Abendlandes. Eine Geschichte Ostmitteleuropas“, der 1956 erschienenen deutschen Übersetzung von „Borderlands of Western Civilization“. Entsprechend wäre für Halecki die im Umfeld des zweiten Irak-Krieges im politischen Raum geprägte Bezeichnung „new Europe“ für die neuen NATO-Mitglieder lediglich eine Bestätigung seiner eigenen Neueuropa-Konzeption gewesen. Und folglich ist die Haleckische Vier- bzw. de-facto-Zweiteilung Europas mit Blick auf die aktuellen Erinnerungskonflikte innerhalb des engeren Europa der Europäischen Union einerseits und des Weiteren von Europarat und OSZE andererseits überaus erhellend.

In der bundesrepublikanischen historischen Teildisziplin der Osteuropäischen Geschichte ist das Ostmitteleuropa-Konzept unter dem Einfluss Haleckis sowie unter partiellem Rückgriff auf Vorläuferkonzepte wie dasjenige der „Geschichtslandschaft“ und indirekt das des „geschichtlichen Kulturraums“ in Form der geschichtsregionalen Kategorien „Ostmitteleuropa“ und „Südosteuropa“ bzw. „Balkan“, später überdies „Nordosteuropa“, vor allem von Klaus Zernack, aber auch von Werner Conze, Gottfried Schramm, Mathias Bernath, Holm Sundhaussen und anderen weiterentwickelt worden. Das Konzept „Geschichtsregion“ als Rahmen vergleichender Analyse wurzelt also in einem doppelten Sinne im östlichen Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit: Zum einen in den damaligen Selbstvergewisserungsversuchen der HistorikerInnen der 1918 neu- bzw. wiederentstandenen Staaten der „entimperialisierten“ und jetzt explizit als Ostmitteleuropa bezeichneten Region, zum anderen in der im Zuge der Versailler Nachkriegsregelung aufkommenden Kulturbodenforschung germanozentrischer Prägung. Mit Blick auf die Wissenschaftsgeschichte im deutschsprachigen Raum kann daher festgestellt werden, dass sowohl geschichtsregionale Konzeptionen im Allgemeinen als auch gerade diejenige „Ostmitteleuropa“ im Besonderen vom bekannten Dualismus zwischen historischer Osteuropaforschung einerseits und deutschtumszentrierter Ostforschung andererseits gekennzeichnet sind.

Parallel zur Wirkung Haleckischen Denkens in der neuen Bundesrepublik entwickelten seine Ideen auch im sowjetischen Machtbereich subkutane Wirkung: In Ungarn griffen Jeno Szucs, Domokos Kosáry und Emil Niederhauser, in Polen Jerzy Kloczowski und Henryk Samsonowicz Haleckis „Ostmitteleuropa“-Konzeption auf. Im Kern geht es dabei um das Herauspräparieren von strukturellen Faktoren, die über längere Zeiträume, in der Regel mehrere Jahrhunderte hinweg prägend sind. Mit Blick auf das Mittelalter werden dabei Christianisierung, Bildung von Nationes-Staaten, das Magdeburger Recht, weiter jüdisch-askenasische Besiedlung und deutscher Landesausbau – Stichwort Germania Slavica – genannt (auch die häufig übersehenen Armenier wären hier anzuführen); für die Frühe Neuzeit ein hoher Adelsanteil, das Metropolenpotential der Trias Bistum-Universität-Residenz, libertäre Ständegesellschaften und „zweite Leibeigenschaft“; für das 19. Jahrhundert Großmachtdominanz und Sprachnationalismus; und für das 20. „Kleinstaatenwelt“, nationalsozialistische Überformung, sowjetische Hegemonie, Flucht, Vertreibung, ethnische Säuberung, Holodomor, Holocaust, Porrajmos, Sowjetisierung, aber auch kirchlich-proletarische Opposition, politisch-intellektuelle Dissidenz und ultimativ das Epochen- und Wendejahr 1989 mit so genuin ostmitteleuropäischen Innovationen wie dem Rundem Tisch, der „samtenen Scheidung“ und der Visegrád-Kooperation. Bis heute ist vor allem die Halecki-Modifizierung eines dreigeteilten Europa durch Szucs prägend, die Westmittel- und Ostmitteleuropa nicht zu Zentral- oder Mitteleuropa, sondern (terminologisch nicht ganz folgerichtig) zu Ostmitteleuropa zusammenfasst und entsprechend von den „drei historischen Regionen Europas“ spricht. Während das Szucssche Ostmitteleuropa gleich dem Haleckischen von Osteuropa bzw. Russland durch die Trennlinie zwischen Orthodoxie und Katholizismus geschieden ist, sieht der ungarische Historiker gegenüber Westeuropa eine „scharfe wirtschafts- und gesellschaftskulturelle Demarkationslinie“, die vom Aufkommen der „zweiten Leibeigenschaft“ in der Frühen Neuzeit bis in den Kalten Krieg hinein wirkungsmächtig war.

Strukturgeschichtliche Mesoregionalisierungen der Gattung „Ostmitteleuropa“, wie sie Halecki und Szucs konzipiert und in Synthesenform appliziert haben, sind gleichsam explizite geschichtsregionale Konzeptionen, da sie entweder diese Bezeichnung, also „Geschichtsregion“ im genannten spezifischen Sinne, im Titel führen oder aber reflektiert mit geschichtsregionalen Kategorien operieren. Überdies gehen sie sämtlich intraregional wie interregional vergleichend vor, abstrahieren vom „eigenen“ geschichtsregionalen Rahmen und öffnen den Blick auf benachbarte bzw. weiter entfernte. Und schließlich zwingen sie zu interdisziplinärer Perspektive.

Implizite geschichtsregionale Konzeptionen sind dann entsprechend diejenigen, die strukturell ähnlich argumentieren und gleichfalls historisch-mesoregionale Bezugsrahmen verwenden, dies aber häufig unreflektiert oder unter essentialistischen Annahmen oder bei Gleichsetzung von explanans und explanandum tun. Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschah dies in aller Regel in (groß-)nationaler Rahmung. Das erste transnationale Referenzmodell, das internationale Wirkung entfaltete, war dabei Fernand Braudels „Mittelmeer und die mittelmeerische Welt“. Seinen gesamtmediterranen Bezugsrahmen begründete Braudel dabei nicht eigens, hinterfragte ihn auch im Verlauf seiner Darstellung nicht, sondern nahm ihn als im Wortsinne „natürlichen“ Ausgangspunkt, wie etwa seine „ewige“ Trias von Olive, Weizen und Wein belegt. Sein Mittelmeer ist dort, wo diese drei Feldfrüchte gleichsam zeitlos kultiviert werden, und da sie hier zugleich die tragenden Bestandteile der Diät darstellen, so Braudels Argumentation stark verkürzt, konstituieren sie die mittelmeerische Welt – von der Antike bis zur Neuzeit. Diese naturräumlich begründete Verwendung eines longue-durée-Raumcontainers „Mittelmeer“ kommt einer Präjudzierung des Untersuchungsergebnisses, eben dem Vorhandensein einer transzedentalen „Mittelmeerwelt“, gleich. Bedauerlicherweise sind weder die Querverbindungen zwischen Braudel und der deutschen geografischen Kulturraumraumforschung der 1920er bis 1940er-Jahre, auf die bereits Heinrich Lutz hingewiesen hat, noch diejenigen zur geschichtsregional arbeitenden polnischen Wirtschaftsgeschichtsschreibung derselben Zeit bislang aufgehellt.

Ebenfalls in die Falle maritim verräumtlichter Selbstreferentialität tappen Traian Stoianovich mit seiner Braudel-Erweiterung „The Balkan and Mediterranean Worlds“, Charles King mit der „Black Sea World“, David Kirby mit einer „Baltic World“ und andere. Mit der Begründung einer wie auch immer gearteten Singularität wird hier ein bestimmter „Kartenausschnitt“ für eine historische Langzeituntersuchung bzw. Metaerzählung gewählt, deren Ergebnis dann – was Wunder – eine als einzigartig gesetzte regionale Spezifik ist. Deutlich differenzierter indes gehen etwa die Autoren zweier Sammelbände über „The North Sea and Culture“ und „Space on the Move. Transformations of the Indian Ocean Seascape“ vor, desgleichen Peregrine Horden und Nicholas Purcell in ihrer kritischen Weiterentwicklung des Braudelschen geschichtsregionalen Zugriffs in „The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History“.

Angesichts dieser Verflechtung, ja Wechselwirkung von Vorgestelltem und Vorgefundenem ist es nur mäßig erstaunlich, dass selbst diejenigen nach „realen“ Mesoregionen benannten geschichtsregionalen Konzeptionen, welche bewusst als Rahmen inter- wie innerregional historisch-vergleichender Untersuchung genommen werden, durchgängig der Gefahr gravierender Missverständnisse ausgesetzt sind: Die Interferenz von gleichnamigen mental maps oder politisch motivierten Regionalisierungen – etwa geostrategischer, sicherheitspolitischer oder makroökonomischer Art – ist beständig spürbar. Dies sei an einem Beispiel erläutert: Klaus Zernack hat Mitte der 1970er-Jahre für seine Innovation einer „zusätzlichen“, vierten osteuropäischen Geschichtsregion, die von der Frühen Neuzeit bis in die Zwischenkriegszeit hinein von einer nordwestrussisch-skandinavisch-finnisch-baltisch-polnisch-deutschen Konflikt-, Transfer- und Beziehungsgeschichte samt britischen und niederländischen Komponenten im Metropolendekagon Stockholm-St. Petersburg-Novgorod-Riga-Danzig-Lübeck-Kopenhagen-Hamburg-Amsterdam-London geprägt ist, bewusst nicht den geläufigen Begriff „Ostseeraum“, sondern den zuvor kaum gebräuchlichen Terminus „Nordosteuropa“ verwendet: „Wenn ich für ‚Nordosteuropa‘ anstelle des älteren ‚Ostseeraums‘ plädierte, so ging es mir um einen möglichst hohen Grad von historischer Artifizialität – also nicht um einen Quellenbegriff, sondern um die rezenten Begriffsprägung, in der Absicht ihrer historischen Anwendbarkeit.“

Der Zernacksche historisch-strukturregionale Neologismus „Nordosteuropa“ hat sich mittlerweile – ohne Zutun seines Urhebers – in Form einer regionalen kognitiven Karte verselbständigt, ist also zur Bezeichnung eines Wahrnehmungsraumes geworden, ja, ist in den 1990er-Jahren in das sicherheitspolitische Denken hinein diffundiert – also zum Handlungsraum geworden. Dies belegt etwa die Definition des Regionalbegriffes „Nordosteuropa“ durch eine Expertengruppe des Council on Foreign Relations, also des einflussreichsten US-amerikanischen außen- und sicherheitspolitischen think tank, aus dem Jahr 1999: „Northeastern Europe is defined as including the Baltic littoral states, especially the Baltic states and the Nordics, but also Poland and Germany as well as northwestern Russia (i. e., St. Petersburg, Murmansk, Novgorod and Kaliningrad).“

Noch frappierender als die Namensgleichheit ist dabei die geografische wie im weiteren Sinne kulturell begründete und damit inhaltliche Deckungsgleichheit. Der missing link zwischen der Zernackschen Geschichtsregion „Nordosteuropa“ und dem „Northeastern Europe“ der atlantischen Sicherheitspolitiker ist übrigens nicht zufällig ein Osteuropahistoriker aus Ostmitteleuropa, nämlich der aus Warschau gebürtige Halecki-Schüler und Ko-Vorsitzender des Council on Foreign Relations, Zbigniew Brzezinski, der die US-amerikanische Ostpolitik von Kennedy bis Carter maßgeblich prägte. Bezeichnenderweise war Brzezinski entschiedener Gegner einer rollback-Strategie und energischer Verfechter der Entspannungspolitik. Nur so, das sein Argument, könne der den Warschauer Pakt potentiell destabilisierende Haarriss zwischen Ostmitteleuropa und Osteuropa, d.h. zwischen den Satelliten und der Führungsmacht Sowjetunion, seitens des Westen zu einem veritablen politischen Graben vertieft und der „Ostblock“ aufgebrochen werden – Halecki lässt grüßen.

Die Diffusion des Nordosteuropa-Begriffes von der Historiografie in Bereiche wie Sicherheitspolitik und Kapitalmärkte hinein belegt, dass die geschichtsregionale Perspektive periodisch hohe Affinität zu Wahrnehmungs- und Handlungsräumen der jeweiligen Gegenwart aufweisen kann – was ganz besonders für die Nach-Wende-Zeit gilt –, und somit die genannte Gefahr verständnisverzerrender Interferenz groß ist. Entsprechend hat Michael G. Müller versucht, die Parallelprägung „Ostmitteleuropa“ als „eine artifizielle Wortschöpfung – ein[en] Kunstbegriff, und zwar vor allem eine[n] der Wissenschaft“, zu definieren und dergestalt als historische Methode vor politischer Profanisierung zu „retten“. Genützt hat es nichts. Um diesem Dilemma multipler Begriffskonnotation zu entgehen, hat daher die polnisch-britische Kunsthistorikerin Katarzyna Murawska-Muthesius zu einer radikalen Maßnahme gegriffen: Sie bezeichnet die kunstgeschichtsregionale Konzeption „Ostmitteleuropa“ bzw. „East Central Europe“ nicht mit diesem ob seiner Bedeutungspluralität samt Politisierungsgrad gleichsam verbrannten Terminus, sondern mit einem aus der Gegenwartsliteratur entlehnten. Es handelt sich um das in Michael Bradburys „Roman Rates of Exchange“ aus dem Jahr 1983 verwendete Label „Slaka“, unter dem der Autor Charakteristika dreier kommunistischer Gesellschaften, nämlich Polens, Bulgariens und Chinas, amalgamiert. Das Vorbild für dieses Vorgehen ist dabei die metaphorische Begriffsprägung eines anderen aus Ostmitteleuropa gebürtigen Geistes- und Sozialwissenschaftlers, nämlich Ernest Gellners. Gemeint sind die Gellnerschen „Ruritanier“, die zu ihrem Leidwesen nicht im eigenen Nationalstaat, sondern im Reich „Megalomanien“ lebten – ein Ethnonym, das Gellner seinerseits Anthony Hopes Erfolgsroman „The Prisoner of Zenda“ von 1894 entlehnt hatte und das von beiden, Hope wie Gellner, ja ebenfalls auf Ostmitteleuropa bezogen wurde (Lediglich am Rande sei bemerkt, dass bei Hope die „Ruritanier“ die Staatlichkeitsschwelle bereits überschritten hatten und überdies deutsch sprachen.).

Murawska-Muthesius‘ „Slaka“ und Gellners „Ruritanier“ sind zugleich Belege dafür, dass die Dichte geschichtsregionaler Konzeptionen höchst unterschiedlich ist. Wie das Beispiel Nordosteuropa zeigt, gibt es zum einen in der Tat maritim-küstengesellschaftliche Affinitäten – hier wären überdies die „Atlantische Welt“, der „Adriaraum“, die „Nordseewelt“, das „Rote Meer“, die „karibische Welt“ und andere anzuführen. Zum anderen aber ist das kontinentale Konzept „Ostmitteleuropa“ bislang das eindeutig elaborierteste, vor „Südosteuropa“ und „Nordosteuropa“ und weit vor „Nordwesteuropa“, „Norden“, „Karpatenraum“ oder „Kaukasus“ – von non-starter vom Typus „Keltischer Rand“, „Iberien“, „Nordkalotte“, „Südmitteleuropa“ oder „Westmitteleuropa“ gar nicht erst zu reden. Die Spitzenreiterposition von „Ostmitteleuropa“ zeigt sich auch darin, dass diese geschichtsregionale Konzeption als wohl einzige von einer benachbarten Disziplin übernommen wurde. Die Rede ist von der bereits genannten Kunstgeschichte und ihrer Subdisziplin Kunstgeografie.

Denn ebenso wie in der historischen Forschung die gesonderte Geschichtsregion „Ostmitteleuropa“ den Ausgangspunkt für das Nachdenken über geschichtsregionale Konzeptionen im Allgemeinen bildet, ist auch in der neueren kunsthistorischen Forschung über das, was der polnische Kunsthistoriker Jan Bialostocki „Kunstregionen“ (artistic regions) genannt hat, ein mit dem „Ostmitteleuropa“-Begriff der Geschichtswissenschaft weitgehend deckungsgleicher „Ostmitteleuropa“- bzw. „East Central Europe“-Terminus samt gleichnamiger kunstregionaler Konzeption in den Fokus gerückt, und dies in kritischer Anknüpfung an das in der Zwischenkriegszeit in Deutschland entwickelte (und stark deutschtumszentrierte) Konzept von „Kunstgeografie“. So exemplifizierte 1993 der slowakische Kunsthistoriker Jan Bakoš „die Vorstellung von Ostmitteleuropa als einer Kunstregion“ am Beispiel mittelalterlicher Malerei und Bildhauerei, eine 1998 in Großbritannien stattfindende Tagung über „Grenzen in der Kunst“ überprüfte den Ansatz der „Kunstgeografie“ an ostmitteleuropäischen Fallbeispielen und Marina Dmitrieva beantwortete unlängst die Frage „Gibt es eine Kunstlandschaft Ostmitteleuropa?“ überwiegend positiv. Schließlich hat der Kunsthistoriker Thomas DaCosta Kaufmann in seiner 2004 vorgelegten Studie Toward a Geography of Art den am ostmitteleuropäischen Beispiel entwickelten kunstgeschichtsregionalen Approach auf Mittelamerika und Japan angewendet.

Die geschichtsregionale Konzeption „Ostmitteleuropa“, die terminologisch das Produkt der Veränderungen der politischen Landkarte der Jahre 1918/19 ist, ist begrifflich insofern eine Ausnahme, als sie im politischen Sprachgebrauch der Gegenwart kaum mehr eine Rolle spielt, da sie zunehmend von Prägungen wie „Zentraleuropa“, „Mitteleuropa“, „Mittel- und Osteuropa“, zusammengezogen zu „MOE-Staaten“, gar – horribile dictu – von „Mittelosteuropa“ (was geografisch dem Großraum Moskau entspräche) überlagert wird. Paradigmatisch ablesbar ist dies etwa an der Benennung der beiden Auflagen von Paul Magocsis ebenso profundem wie autoritativem historischen Atlas der Region, deren erste, 1993 erschienene, „Historical Atlas of East Central Europe“ hieß, wohingegen die zweite von 2002 mit „Historical Atlas of Central Europe“ benannt ist – bei Beibehaltung desselben Kartenausschnitts von Kaliningrad nach Kreta bzw. von Odessa nach Triest. Magocsi erläutert das wie folgt: „It has [...] become clear since 1989 that the articulate elements in many countries of the region consider eastern or even east-central to carry a negative connotation and prefer to be considered part of Central Europe. [...] If Central Europe responds to the preference of the populations of the countries in question, this would seem to lend even greater credence to the terminological choice.“ Ein eindeutig politisches, mitnichten wissenschaftliches Argument also: „Osten sind immer die anderen“.

Ganz ähnlich argumentieren Maria Todorova und Karl Kaser in der in Anlehnung an Edward Saids Begriffsprägung Orientalism mit „Balkanismus“ bezeichneten Debatte um eine okzidentalisierend-exkludierende „westlich“-abendländische Perspektive auf den Balkan als den „inneren Orient Europas“. Die geschichtsregionale Konzeption „Südosteuropa“, die den Balkanbegriff eben dieser pejorativen Konnotation wegen bewusst vermeidet, ist aus ihrer Sicht terminologisch nicht minder schief gewickelt, weil diese Wortprägung im Kontext der Expansions- und Großwirtschaftsraumpolitik des Dritten Reiches stünde und entsprechend politisch nicht korrekt sei. Zum einen ist dies natürlich historisch nicht korrekt, denn „Südosteuropa“ ist ein Wissenschaftsneologismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wohingegen die Nationalsozialisten lakonisch vom „Südosten“ gesprochen haben. Zum anderen ziehen Todorova und Kaser unterschiedliche, indes gleichermaßen abwegige Konsequenzen aus dem von ihnen konstatierten „Südosteuropa“-Dilemma: Maria Todorova optiert für eine Rückkehr zum Balkanbegriff – und dies trotz seiner nicht zuletzt von ihr selbst herauspräparierten massiven politischen wie umgangssprachlichen Belastungen. Und Karl Kaser plädiert für ein begriffliches Auseinanderziehen von „Südosteuropa“ zu „südöstliches Europa“, was zum einen semantisch nicht recht überzeugen kann, zum anderen zwar im Deutschen funktioniert, nicht hingegen im Englischen, Französischen, Russischen und anderen Sprachen.

Ganz anders, wie gezeigt, der Fall des Zernackschen „Nordosteuropas“ in der politischen Lexik wie Semantik, bezüglich dessen eine regelrechte Proliferation in umgekehrter Richtung, also aus der Wissenschaft in die Politik hinein feststellbar ist. Und eine Kombination aus beiden Varianten trifft wohl auf die von dem rumänischen Wirtschaftshistoriker Gheorghe Ion Bratianu in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts unternommenen Ansätze zu einer geschichtsregionalen Konzeption namens „Schwarzes Meer“ zu. Während der zweite, „osmanisch“-neuzeitliche Teil seiner zweibändigen Gesamtdarstellung „La Mer Noire et la Question d’Orient“ verschollen ist – der Autor war im stalinistischen Rumänien politischer Gefangener und starb in Haft 1956 –, wurde immerhin der erste, „byzantinisch-genuesisch“-mittelalterliche Teil posthum veröffentlicht. Im Kalten Krieg geriet dieser geschichtsregionale Ansatz aus nahe liegenden politischen Gründen fast völlig in Vergessenheit, doch als das 1989/91 neu entstandene geostrategische und energiepolitische Interesse an der Schwarzmeerregion zur Gründung der Black Sea Economic Cooperation Initiative führte – einer auf türkische Initiative hin gegründeten, die Anrainerstaaten vereinigenden multilateralen Organisation, deren Amtssprache zweckmässigerweise die großregionale lingua franca Russisch ist –, wurde prompt auch Bratianu neu entdeckt. Die weiterhin stark nationalgeschichtlich ausgerichtete rumänische Forschung und ihr internationales Umfeld verwenden seitdem die implizite geschichtsregionale Konzeption „Schwarzmeerwelt“ und exportieren diese erfolgreich. Belege sind etwa die seit 1994 in Italien erscheinende historisch-mediävistische Zeitschrift „Il mar nero. Annali di archeologia e storia“, der Bestseller „Black Sea“ des britischen Historikerjournalisten Neal Ascherson oder die genannte Gesamtdarstellung des US-amerikanischen Rumänienhistorikers King.

Explizit geschichtsregional – und zwar explizit im doppelten Sinne von Benennung und kritischer Reflektion – argumentiert hingegen der türkische Wirtschaftshistoriker Eyüp Özveren in seinem Plädoyer für „einen Untersuchungsrahmen zur Erforschung der Schwarzmeerwelt“ bzw. für „die Schwarzmeerwelt als Analyseeinheit“ mit dem zeitlichen Fokus auf Mittelalter und Neuzeit. Sein Hauptargument für die strukturgeschichtliche Einheit seiner Untersuchungsregion leitet er dabei von der Dauer und Reißfestigkeit küstenumspannender ökonomischer Netzwerke samt kulturellem Überbau ab: In Folge des osmanisch-russischen Vertrages von Küçük Kaynarca im Jahre 1774, welcher das drei Jahrhunderte lang für den internationalen Schiffsverkehr gesperrte Schwarzes Meer wieder öffnete, habe sich auch und gerade der Warenverkehr von Küste zu Gegenküste, also von Odessa nach Trabzon, von Istanbul auf die Krim, von Galati nach Batumi rasch entwickelt sowie kontinuierlich zugenommen. Nicht zuletzt deswegen wendet sich Özveren vehement gegen Braudels und Stoianovichs Klassifizierung des Schwarzmeerraumes als bloßem Annex, gar Hinterhof eines „eigentlichen“ Mittelmeeres. Seine kommerzielle Schwarzmeerwelt ist ein kultureller Mesokosmos, eine Geschichtsregion sui generis.

In dieselbe Richtung zielt eine andere „wiederentdeckte“ geschichtsregionale Konzeption: die Levante. Was William V. Harris und vor allem Desanka Schwara 2003 in groben Umrissen vorgezeichnet haben, nämlich „eine heterogene Struktur als homogene Geschichtsregion“ – so der Untertitel von Schwaras konzeptioneller Skizze –, das haben bereits 2004 Oliver Jens Schmitt und Ulrike Tischler für das „lange“ 19. Jahrhundert und partiell für das 20. umgesetzt. Beide haben die zentrale Rolle, welche die ubiquitäre ethnokonfessionelle bzw. -professionelle Gruppe der Levantiner im wirtschaftlichen wie intellektuellen Leben des östlichen Mittelmeerraums spielte, als geschichtsregionales Strukturmerkmal langer Dauer identifiziert und erforscht. Ist dieses transnationale Untersuchungsdesign an sich schon erkenntnisträchtig, so überschreitet es überdies die diziplinären Grenzen stark separierter historischer Teildisziplinen, auch diejenige „Europas“.

Wie steht es nun um das Verhältnis von Vorteilen und Risiken der Anwendung geschichtsregionaler Konzeptionen? Die Risiken sind in der genannten begrifflichen Ausbreitung im politischen Raum und den dadurch zwangsläufig entstehenden Missverständnissen zu sehen, in der „Vermengung von mental map und historischer Region“, wie Holm Sundhaussen unlängst in einer Skizze „Über Nutzen und Nachteil von Geschichtsregionen“ formuliert hat. Hinzu kommt die zwar wissenschaftshistorisch gegebene, heute aber biografisch, politisch wie forschungspraktisch unbedenkliche begriffliche Nähe zur Kulturboden- und Ostforschung Weimarer Prägung samt Bonner Ostkunde-Appendix.

Was indes den potentiellen Nutzen betrifft, hat der Münchner Russlandhistoriker Frithjof Benjamin Schenk unlängst fünf gute Gründe aufgezählt, welche die Anwendungs- und Erkenntnismöglichkeiten geschichtsregionaler Konzeptionen im Forschungsalltag de HistorikerInnen demonstrieren und deren Potentiale aufzeigen. Diese sind ihm zufolge (1) die Überwindung nationalgeschichtlicher Engführung mittels transnationaler Vergleiche; (2) die Dynamisierung und Flexibilität solcher Konzeptionen entlang der Zeitachse; (3) der gleichsam klinisch reine Charakter als von der historischen „Realität“ nicht kontaminierter wissenschaftlicher Vergleichs- und Analyserahmen; (4) ihr immanenter selbstkritischer Verweis auf die self-fulfilling prophecy-Wirkung von Regionalbegriffen; und (5) ihre Anwendbarkeit auf Europa als Ganzes, jene implizite Geschichtsregion, die so häufig als gesetzt aufgefasst wird.

Näherer Erläuterung, ja Erweiterung, bedarf dabei der Schenksche Punkt 2, nämlich der Faktor „Zeit“, da hier die Gefahr besteht, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Denn trotz aller Konzentration auf die konkreten wie strukturellen Raumbezüge der unterschiedlichen geschichtsregionalen Konzeptionen ist deren Prozesshaftigkeit und damit eben die Zeitdimension nicht zu übersehen. Wolfgang Schmale hat daher diesbezüglich zur Inkorporation von Kosellecks Zeitschichtenmodell geraten und dafür den von Norman Davies geprägten Begriff eines „Gezeiten-Europa“ (tidal Europe) adaptiert – ein Europa, dessen Gestalt wie Gehalt von der Antike bis zur Gegenwart gleichsam pulsiert, mal größer, mal kleiner wird. Und Maria Todorova hat am Beispiel der Nationsbildungsprozesse in Ostmitteleuropa demonstriert, dass die Anwendung eines longue-durée-Zeitrahmens die differentia specifica der von ihr gewählten Geschichtsregion gegenüber dem „eigentlichen“ Europa, also „Westeuropa“, wenn nicht aufhebt, so doch deutlich relativiert. Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen ist eben dann nicht zwingend ungleichzeitig, wenn sie statt auf einen Zeitpunkt auf einen Zeitraum im Sinne eines historischen Prozesses bzw. einer Epoche bezogen wird. Das scheint eine besonders vielversprechende Dimension künftigen Umgangs mit geschichtsregionalen Konzeptionen zu sein – den intra- wie vor allem den interregionalen Vergleich nicht wie bisher primär synchron, sondern vermehrt diachron zu unternehmen, entlang an bekannten Parametern wie Modernisierung sowie Staats- und Nationsbildung, aber auch mit Blick auf wenig ausprobierte wie Rechtskultur und politische Kultur, Industrialisierung und Urbanisierung.

Das ist auch der Anknüpfungspunkt an das neue, jedoch seltsam ungerichtete Interesse am Raum „an sich“, das seit einiger Zeit die bislang ganz auf die zeitliche Dimension von Geschichte fixierten „Allgemeinhistoriker“ erfasst hat. Wenn Koselleck urteilt, „der Allgemeinheitsanspruch beider Kategorien“, nämlich von Raum und Geschichte, „ist so hoch, daß sie entweder verblassen oder emotional überfordert werden“, dann ist ihm mit Blick auf die geschichtswissenschaftliche Adaption dieser beiden Kategorien in Form von „Region“ und „Epoche“ zu widersprechen. Zumal die Anwendung des Analyseinstruments geschichtsregionaler Konzeptionen, dies demonstriert die „Ahnenreihe“ von Braudel und Halecki zu Szucs und Zernack, überwindet die von Koselleck kritisierte Blässe und Überforderung. Zu hoffen steht, dass diese Divergenz der Sichtweisen in absehbarer Zeit zur Diskussion nicht nur unter mit Ostmitteleuropa befassten Historiker/innen (und Kunsthistoriker/innen), sondern unter Historiker/innen im Allgemeinen führt. Eine Folge, und zwar eine positive, wäre die Erkenntnis, dass implizite geschichtsregionale Konzeptionen zu den Standardansätzen historischer Forschung gehören – auch wenn sie als solche in der Regel nicht wahrgenommen werden. Denn im Endeffekt ist jeder nationalgeschichtliche Ansatz ein implizit – und das heißt in der Regel: unreflektiert – geschichtsregionaler. Allein die Frage, ob die Geschichte Frankreichs oder Deutschlands, die noch immer primär als Geschichte von Reichs- und Staatsbildungen samt „zugehöriger“ Titularnation geschrieben wird, nicht auch als Geschichte von historischen Mesoregionen Europas – „Pentagon“, „Mitteleuropa“ u. a. – geschrieben werden könnte, wäre ein beträchtlicher Erkenntnisfortschritt.

Dass auch „Europa“ an sich eine implizite Geschichtsregion darstellt, die gleichfalls des kritischen Hinterfragens bedarf, versteht sich dabei, wie gesagt, von selbst. Manfred Hildermeier hat darauf hingewiesen, dass „europäisch“ kein Wertmaßstab ist, sondern eine Relation bezeichnet, dass der Gegensatz zu „europäisch“ nicht „un-europäisch“, sondern „außer-europäisch“ ist. Auch dabei kann die Beschäftigung mit den Zernackschen Teilregionen der Geschichtsregion Osteuropa, also Ostmitteleuropa, Nordosteuropa, Südosteuropa und Russland bzw. dem ostslawischen Raum, gute Dienste leisten, grenzt diese gestufte Geschichtsregion doch an andere an, die über „Europa“ hinausreichen, an „Eurasien“ und die „Arktis“ etwa, aber auch an die „Schwarzmeerwelt“ oder an die „Levante“. Insofern ist dem „Allgemeinhistoriker“ Jürgen Kocka gleich in doppeltem Sinne zuzustimmen, wenn er „das östliche Mitteleuropa als Herausforderung für eine vergleichende Geschichte Europas“ begreift, gilt dies doch sowohl für die historische Mesoregion Ostmitteleuropa wie für die geschichtsregionale Konzeption gleichen Namens. Generell ist zu konstatieren, dass die teildisziplinäre Gebundenheit des Analyserahmens „geschichtsregionale Konzeption“ in letzter Zeit eine Lockerung erfahren hat und seine Attraktivität auch für Nicht-Osteuropahistoriker/innen zunimmt. So hat der genannte Jügern Osterhammel in einer aktuellen Forschungsübersicht zu sieben historiografischen „Europamodellen“ ein „Modell der Kulturräume“ aufgeführt und darin unter explizitem Verweis auf Halecki und Szucs auch das „Modell der Geschichtsregion“ subsumiert. Desgleichen spricht Hannes Siegrist in einem ähnlichen Überblicksartikel über „Vergleich und Transfer“ von „Geschichtsräumen“ als zentralen Untersuchungsobjekten vergleichender historischer Forschung – neben „Kulturen“, „Gesellschaften“ und „Entwicklungspfaden“. Und der Ethnologe Christian Giordano hat den Analyserahmen „Geschichtsregion“ in historisch-sozialanthropologischer Perspektie auf ganz Europa – also auch auf Nord-, West- und Südeuropa – ausgeweitet. Vor allem aber Kockas zitiertes Postulat – das die Überschrift zu einem Aufsatz bildet, der diese Herausforderung tatsächlich annimmt –, belegt, dass sich ein Kreis geschlossen hat: Das in der Zwischenkriegszeit am konkreten ostmitteleuropäischen Entwicklungspfad entwickelte universalhistorische Untersuchungsdesign der „Geschichtsregion“ ist ein Dreivierteljahrhundert später durch Vermittlung der historischen Osteuropaforschung in der „allgemeinen“ Geschichtswissenschaft angekommen. Der Dialog kann beginnen.

Für das Themenportal verfasst von

Stefan Troebst

( 2006 )
Zitation
Stefan Troebst, Region und Epoche statt Raum und Zeit - „Ostmitteleuropa“ als prototypische geschichtsregionale Konzeption, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1368>.
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