Editorial zum Themenschwerpunkt „Zur Europäizität des östlichen Europa“.

„Die Europäizität Ostmitteleuropas“ war ein Aufsatz von Wolfgang Schmale betitelt, der 2003 im vierten Band des „Jahrbuchs für Europäische Geschichte“ mit dem Schwerpunktthema „Diktaturbewältigung, Erinnerungspolitik und Geschichtskultur in Polen und Spanien“ erschien. In terminologischer wie systematischer Anknüpfung an Schmales Aufsatz behandeln die Essays des Clio-online-Themenschwerpunkts „Zur Europäizität des östlichen Europa“ zentrale Fragestellungen einer in statu nascendi begriffenen Europäischen Geschichte, wie sie das gleichnamige neue Themenportal befördern möchte: Macht „Europa“ als transnationale, ja globalgeschichtliche Analysekategorie Sinn? Wenn ja: weshalb? Was sind – mit Oskar Halecki – Europas „Grenzen und Gliederungen“? Ist die Konstruktion historischer Teilregionen Europas berechtigt, sinnvoll, gar erkenntnisträchtig? Und falls erneut ja: Hat die – ursprünglich politisch wie sprachlich begründete – historische Teildisziplin Osteuropäische Geschichte mit dem von ihr entwickelten Analyseins

Editorial zum Themenschwerpunkt „Zur Europäizität des östlichen Europa“

Von Stefan Troebst

„Seinerzeit – noch vor meinen angeblich frivolen Büchern – hatte meine Mutter das Blödengeld eingeführt, das heißt, wenn wir Brüder einander das Wort blöd an den Kopf warfen, mußten wir Strafgeld zahlen. [...] Jetzt – ich weiß nicht vor welchem Ereignis – möchte ich ein Europakonto eröffnen. Das heißt, wer sich auf Europa bezieht, muß eine Strafe zahlen. Es würde genaue Tarife geben, die Wendungen Europäer oder europäische Traditionen könnten noch mit Forint beglichen werden, die europäische Identität wäre bereits ein Devisendelikt. Sich an Europa anzuschließen, sich zu vereinigen sind erschwerende Wortverbindungen, ganz zu schweigen von zurück nach Europa. Als Bußgeld für Der Weg nach Europa führt durch Ungarn würde ich Immobilien und Autos westlicher Herkunft konfiszieren. Und für den Gebrauch der Wendung Europäisches Haus muß ich die Beschlagnahmung des gesamten Kapitals vorschlagen, dieses Strafmaß sollte auch für diejenigen gelten, die der Ansicht sind, daß man die Demokratie erst erlernen müsse. Jetzt ist ohnehin jeder vom Kummer geschlagen, daher könnten wir die eingetriebenen Gelder gemeinsam verprassen (Champagner, Diskotheken, Saxophone, Frauen, Männer).“[1]

„Die Europäizität Ostmitteleuropas“ war ein Aufsatz von Wolfgang Schmale betitelt, der 2003 im vierten Band des „Jahrbuchs für Europäische Geschichte“ mit dem Schwerpunktthema „Diktaturbewältigung, Erinnerungspolitik und Geschichtskultur in Polen und Spanien“ erschien. In terminologischer wie systematischer Anknüpfung an Schmales Aufsatz behandeln die Essays des Clio-online-Themenschwerpunkts „Zur Europäizität des östlichen Europa“ zentrale Fragestellungen einer in statu nascendi begriffenen Europäischen Geschichte, wie sie das gleichnamige neue Themenportal befördern möchte: Macht „Europa“ als transnationale, ja globalgeschichtliche Analysekategorie Sinn? Wenn ja: weshalb? Was sind – mit Oskar Halecki – Europas „Grenzen und Gliederungen“? Ist die Konstruktion historischer Teilregionen Europas berechtigt, sinnvoll, gar erkenntnisträchtig? Und falls erneut ja: Hat die – ursprünglich politisch wie sprachlich begründete – historische Teildisziplin Osteuropäische Geschichte mit dem von ihr entwickelten Analyseinstrument geschichtsregionaler Konzeptionen vom Typus „Ostmitteleuropa“, „Südosteuropa“, „Nordosteuropa“ und „Russland/ostslawischer Raum“ Substantielles zu einer Europageschichte beizutragen? Die Grundthese der meisten Beiträge des Themenschwerpunkts ist, dass dem so ist.

Idee und Konzeption gehen dabei zurück auf eine Tagung zum Thema „Ostmitteleuropa als geschichtsregionale Konzeption“, die im Oktober 2005 aus Anlass des zehnjährigen Bestehens des am Themenportal „Europäische Geschichte“ maßgeblich beteiligten Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO) stattfand. Der Schwerpunkt knüpft überdies an die auf die genannte Teildisziplin Osteuropäische Geschichte bezogenen Debattenbeiträge an, die seit einem Jahr im Leipziger Clio-online-Themenportal „geschichte.transnational“ erscheinen (www.geschichte.transnational.clio-online.net). Und mittelbar setzt er die teilweise heftige Diskussionen innerhalb eben dieser Teildisziplin fort, mit denen der Wendeschock von 1989/91 in der Monatszeitschrift „Osteuropa“ mit (fachtypischer?) Zeitverzögerung 1998/99 resorbiert wurde und die in dem 2000 erschienenen Band „Wohin steuert die Osteuropaforschung?“ dokumentiert sind.

Begleitet werden die Essays durch Besprechungen solcher Neuerscheinungen, die entweder explizit die Frage der Europäizität des östlichen Europas aufgreifen oder aber Europäische Geschichte in einem Sinne schreiben, der diesem Anspruch in großregionaler Hinsicht gerecht wird, also neben der Westhälfte die Osthälfte gleichwertig einbeziehen. Der Rezensionsschwerpunkt soll darüber hinaus im Herbst 2006 durch ein review symposium zu einer neuen Gesamtdarstellung ergänzt werden, welche diesen Anspruch ungewöhnlich weitgehend eingelöst hat, nämlich Tony Judts 2005 erschienenes ebenso balanciertes wie fesselndes Buch Postwar. A History of Europe since 1945.

Die Essays stellen Quintessenzen, Updates oder Vorgriffe auf größere Untersuchungen der Autor/innen dar. Allein Manfred Hildermeiers Beitrag „Wo liegt Osteuropa und wie gehen wir mit ihm um“ ist die adaptierte Fassung seines Schlussvortrags auf dem Kieler Historikertag 2004, die bereits im offiziellen Berichtsband „Kommunikation und Raum. 45. Deutscher Historikertag in Kiel vom 14. bis 17. September 2004“, herausgegeben im Auftrag des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands von Arnd Reitemeier und Gerhard Fouquet (Neumünster 2005, S. 334-352), erschienen ist. Mit Blick auf den eher entlegenen Publikationsort, vor allem aber unter Berücksichtigung des Grundsatz- und Synthesecharakters des Vortrags wird er hier reproduziert.

Die in den Essays vorgestellten und stark unterschiedlichen, ja divergierenden Argumentationen von Historiker/innen (und je einem Soziologen wie Ethnologen), die mit dem östlichen Europa befasst sind, machen mindestens vier Dinge deutlich: Erstens, historisch begründete Europaentwürfe stoßen ohne Einbeziehung der Geschichte der Osthälfte ins Leere bzw. führen in die Irre. Eine Europäische Geschichte, in der – wie etwa bei Hagen Schulze – mit Vorsatz „wenig von Osteuropa die Rede ist“, ist eine contradictio in adiecto, überdies ein handwerklich-methodisches Armutszeugnis. Dabei kann der Verweis auf fehlende Sprachkenntnisse nicht (mehr) überzeugen, hat doch – zweitens – gerade die seit den 1970er-Jahren verwissenschaftlichte und universitär breit institutionalisierte Teildisziplin Osteuropäische Geschichte in Gestalt des universalen Konzepts der „Geschichtsregion“ einen zentralen Beitrag zur Europageschichtsschreibung insgesamt geleistet – neben zahlreichen anderen. Zugleich hat drittens der sich abzeichnende Paradigmenwechsel vom dominierenden nationalen zu transnationalen, europäischen und globalen Bezugsrahmen von Geschichtsschreibung bei neuerlich gesteigertem Interesse an Raumkonzeptionen im Zuge eines spatial turn die Nachfrage nach reflektierten nicht-territorialisierten Analyserahmen für inner- wie interregionale Vergleiche deutlich erhöht. Und viertens schließlich, dies zeigt die Debatte, ist der Dreisprung national-europäisch-global an beiden Nahtstellen durch zusätzliche Kategorien zu erweitern: Zwischen dem jeweils nationalen Bezugsrahmen und „Europa“ sind transnationale historische Mesoregionen vom Typus des Klassikers „Ostmitteleuropa“ einzufügen, zwischen „Europa“ und der „Welt“ transkontinentale Referenzebenen der Kategorie „Atlantische Welt“ oder „Eurasien“. Denn die Tatsache, dass Europa nicht nur in der Perspektive von Geografen und Ethnologen, sondern gerade auch historisch gesehen das „zerklüftete Nordwestkap Asiens“ ist (Arno Schmidt), ist für das Fach Osteuropäische Geschichte mit seiner (hier ausnahmsweise erkenntnisträchtigen) Russlandfixiertheit eine Selbstverständlichkeit, wohingegen sie für die „allgemeine“ Geschichte noch partiell Überraschungscharakter aufweist.

Eine Fortsetzung des Themenschwerpunkts über den ersten Teil von einem guten Dutzend Essays und etlichen z.T. sehr ausführlichen Rezensionen hinaus ist geplant. Daher seien an einer Mitwirkung Interessierte – sowohl enthusiasmierte als auch frustrierte – dazu herzlich eingeladen.



[1] Esterházy, Péter, Ungarisches Tagebuch, in: Ders., Thomas Mann mampft Kebab am Fuße des Holstentors. Geschichten und Aufsätze, Salzburg 1999, S. 87-100, hier S. 92-93.

 

Für das Themenportal verfasst von

Stefan Troebst

( 2006 )
Zitation
Stefan Troebst, Editorial zum Themenschwerpunkt „Zur Europäizität des östlichen Europa“, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1381>.
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