"Dicke Luft und lachende Fluren" Überlegungen zur Umweltgeschichte der europäischen Stadt

Das Phänomen „Stadt“ erfährt im 1837 erschienenen 167. Band der Krünitzschen „Oekonomischen Encyklopädie“ gebührende Aufmerksamkeit. Der Artikel zum gleichnamigen Lemma umfasst rund 33 Seiten, in denen Urbanität nach rechtlichen, ökonomischen und historischen Kriterien typologisiert und anhand zahlreicher Beispiele diskutiert wird. Die Darstellung nimmt ihren Ausgang bei der als Idealstadt vorgestellten Residenzstadt Karlsruhe, wendet ihren Blick dann aber im Zuge einer generalisierenden Erörterung mehreren Dutzend anderen Städten und Regionen Europas zu und streift sogar Ägypten und Nordamerika. Was den Artikel in unserem Zusammenhang besonders interessant macht – und was ihn z. B. vom gleichnamigen Eintrag im rund 90 Jahre älteren 39. Band des Zedlerschen Universallexikons unterscheidet – ist der Umstand, dass eine Fülle von Aspekten angesprochen wird, die heute landläufig unter den Begriffen „Umweltproblem“ oder „Umweltfaktor“ subsumiert würden. [...]

„Dicke Luft und lachende Fluren“ – Überlegungen zur Umweltgeschichte der europäischen Stadt[1]

Von Martin Knoll

Das Phänomen „Stadt“ erfährt im 1837 erschienenen 167. Band der Krünitzschen „Oekonomischen Encyklopädie“ gebührende Aufmerksamkeit.[2] Der Artikel zum gleichnamigen Lemma umfasst rund 33 Seiten, in denen Urbanität nach rechtlichen, ökonomischen und historischen Kriterien typologisiert und anhand zahlreicher Beispiele diskutiert wird. Die Darstellung nimmt ihren Ausgang bei der als Idealstadt vorgestellten Residenzstadt Karlsruhe, wendet ihren Blick dann aber im Zuge einer generalisierenden Erörterung mehreren Dutzend anderen Städten und Regionen Europas zu und streift sogar Ägypten und Nordamerika. Was den Artikel in unserem Zusammenhang besonders interessant macht – und was ihn z. B. vom gleichnamigen Eintrag im rund 90 Jahre älteren 39. Band des Zedlerschen Universallexikons unterscheidet – ist der Umstand, dass eine Fülle von Aspekten angesprochen wird, die heute landläufig unter den Begriffen „Umweltproblem“ oder „Umweltfaktor“ subsumiert würden.

Städte sind zentrale umwelthistorische Schauplätze. Wer sich mit Umweltgeschichte beschäftigt, einer Disziplin, die die historische Entwicklung des Verhältnisses zwischen dem Menschen und dem Rest der Natur untersucht, der kommt an der Stadt nicht vorbei. Dort erzeugt die lokale Konzentration und verdichtete Lebensweise von Menschen spezifische strukturelle Rahmenbedingungen für die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Gesellschaft und physischer Umwelt; hier schaffen sich menschliche Gesellschaften neue, urbane Umwelten, die als Idee, als Problemschwerpunkte und in ihrem Problemlösungspotenzial anders dimensioniert sind als außerurbane Schauplätze. Dennoch entstehen keine isolierten Entitäten. Städte sind über Energie- und Stoffströme sowie Infrastruktur mit ihrem Hinterland und sogar mit weit entfernten Regionen verbunden. „Alles,“ so spitzt Louis Sébastien Mercier 1788 am Pariser Beispiel zu, „was im Umkreis von fünfzig Meilen geerntet und gekeltert wird, wandert in diese Ansammlung überfüllter, sechsstöckiger Häuser [...]“[3]. Merciers augenzwinkernd-karikierende Schilderung der französischen Hauptstadt als „Wasserkopf“, dessen „Heer von Lakaien, Possenreißern, Abbés und Müßiggängern“ auf Kosten der ganzen Nation lebe, vermittelt – was die Stoffströme betrifft – das Bild einer Einbahnstraße. Auch ökonomische Konzepte vom Verhältnis zwischen Stadt und Region, wie sie Adam Smith (1723-1790), Heinrich von Thünen (1783-1850) und Werner Sombart (1863-1941) entwickelt haben, unterstreichen diesen Aspekt. Ohne den Ressourcenhunger der Stadt in Abrede zu stellen, arbeitet die umwelthistorische Forschung mit Konzepten, die in die Lage versetzen, das Bild zu differenzieren. Das Modell des gesellschaftlichen bzw. städtischen Stoffwechsels geht etwa von der Beobachtung aus, dass nicht nur Organismen, sondern auch Gesellschaften einen stofflichen und energetischen Austausch mit ihrer Umwelt unterhalten. Die Bilanzierung dieses Stoffwechsels ermöglicht sowohl Aussagen über die Einwirkungen anthropogener Stoffströme auf biotische Systeme als auch über die Nachhaltigkeit des Wirtschaftens von Städten. Sabine Barles hat durch die Anwendung dieses „metabolic approach“ auf das Paris des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bemerkenswerte Ergebnisse zutage gefördert. Barles unterzog die Pariser Stoffströme einer genauen qualitativen Analyse, wobei sie sich vor allem für den Umgang mit den vermeintlichen Abfällen der Stadt (z. B. Fäkalien, Knochenabfälle, Lumpen) interessierte. Ihr Ergebnis mag überraschen, denn es zeigt, dass die Stadt auch als Ressourcenlieferant – je nach Sektor geradezu als „chief mine“ – der frühen Industrialisierung fungierte.[4] Die von Barles identifizierten Stoffkreisläufe waren in der Stadt der ‚Ersten Industrialisierung’ keine vormodernen Relikte, sondern Basis der ökonomischen Entwicklung. Erst ab dem späten 19. Jahrhundert markieren stoffliche Veränderungen das Aufbrechen der Stadt-Umland-Beziehungen.

Der folgende kurze Aufriss kann keinen vollständigen Überblick über Themen, Fragestellungen und methodische Zugänge der urbanen Umweltgeschichte geben. Die konventionelle Perspektive einer Geschichte städtischer Umweltprobleme („Verschmutzungsgeschichte“) dominiert die Darstellung. Dieses Übergewicht soll als Ergebnis einer pragmatischen Beschränkung, nicht als Missachtung anderer wichtiger Aspekte (Ressourcennutzung, urban induzierter Landschaftswandel, regionale Eigenlogiken von Stadtentwicklung, die Relation zwischen ökologischen und sozialen Ungleichheiten innerhalb von Städten, der Umgang von Städten mit Naturkatastrophen, die Entwicklung urbanen Grüns) verstanden werden. Vielmehr soll der thematisch und chronologisch konzentrierte Zugriff zur weitergehenden Beschäftigung mit der Umweltgeschichte der europäischen Stadt einladen. Diese Einladung zur weitergehenden Beschäftigung bezieht sich auch auf die bereits vorgestellte Quelle, den Artikel zum Lemma „Stadt“ in dem von Johann Wilhelm David Korth (1783-1861) vorgelegten 167. Band von Krünitz’ „Ökonomischer Encyklopädie“[5]. Diese Quelle kann in ihrem Facettenreichtum hier weder annähernd vollständig wiedergegeben noch in allen Aspekten diskutiert werden. Sie bildet Ausgangs- und Anknüpfungspunkte der nun folgenden Überlegungen, weil sie in vielerlei Hinsicht den umwelthistorischen Übergangscharakter des 19. Jahrhunderts reflektiert und weil sich an ihr auch diskutieren lässt, was die Spezifika des europäischen Weges in die urbane Moderne sind. Aus einer wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Perspektive heraus haben Paul M. Hohenberg und Lynn Hollen Lees darauf hingewiesen, dass die meisten europäischen Großstädte der Gegenwart bereits vor 1300 gegründet wurden, für ein Verständnis der europäischen Urbanisierung mithin eine Langzeitperspektive notwendig sei.[6] Diese Feststellung gilt auch für den umwelthistorischen Blick auf die europäische Stadtgeschichte. Bereits die Umweltprobleme der vormodernen Städte machten diese zu „offenen Gräbern der Menschheit“[7]. Das London des Jahres 1650 benötigte einen jährlichen Zuzug von 6000 Menschen, um seine Einwohnerzahl stabil zu halten.[8] Mit den Agrarreformen, dem massiven urbanen Bevölkerungswachstum und der Industrialisierung setzte dann eine umwelthistorische Transformationsphase von rund 150 Jahren (ca. 1750-1900) ein, für deren Charakterisierung man mit einiger Plausibilität die Kosellecksche Signatur einer „Sattelzeit“ aufgreifen kann. Diese zeichnet sich durch die Kontinuität überkommener Strukturen und Problemlagen bei gleichzeitigem Einbruch fundamental neuer Herausforderungen aus, die ihrerseits neue Problemlösungsstrategien anregten.

Welches Bild von der Stadt im Allgemeinen und Karlsruhes im Besonderen entwirft der „Krünitz“? Zwei Faktoren machen die Idealität Karlsruhes aus: Zum einen der Umstand, dass es sich um eine zur Zeit des Erscheinens des Artikels noch recht junge, planvolle Stadtgründung handelt, zum anderen die bevorzugte naturräumliche Lage, die mit einer augenfälligen Liebe zum landschaftsästhetischen Detail („Auf der anderen Seite umgeben Gärten, Aecker und Wiesen, an die sich ein kleiner lichter Eichenwald lehnt, Karlsruhes lachende Fluren.“) beschrieben wird.[9] Der Text entwirft ein „Innen“ und ein „Außen“, macht aber gleichzeitig deutlich, dass das Eine vom Anderen nicht zu trennen ist. Das überkommene Merkmal einer strikten Trennung von „Innen“ und „Außen“ durch die Stadtmauer war ein derart typisches Charakteristikum der europäischen Stadt, dass manch frühneuzeitlicher Topograf oder Künstler dazu neigte, in Stadtansichten und Beschreibungen Stadtmauern selbst da abzubilden, wo realiter keine bestanden.[10] Und dieses Bild blieb bis heute wirkmächtig. Gerade in der jüngsten Vergangenheit übt das Konzept „europäische Stadt“, das sich durch „baulich-räumliche Kompaktheit und Dichte“ und das „Neben- und Miteinander verschiedener historischer Zeitschichten im städtischen Raum“ auszeichnet, wieder wachsende Anziehungskraft auf Stadtplaner und Tourismus-Strategen aus.[11] Die urbane Realität ist derweil vielerorts von der Auflösung der Grenze zwischen „Innen“ und „Außen“ geprägt. Bereits der Rückbau der militärtechnisch überholten Befestigungsanlagen ab dem frühen 19. Jahrhundert hatte diesen Prozess gefördert. Niedrige Energiepreise und der Ausbau von Infrastruktur ermöglichten im 20. Jahrhundert eine Suburbanisierung nie gekannten Ausmaßes; ganze Regionen wurden in suburbane Zwischen-Räume transformiert.

Macht Stadtluft krank? – eine urbane Innensicht

Die radiale Anlage Karlsruhes im 18. Jahrhundert transzendiert bereits die strikte Abgrenzung von „Innen“ und „Außen“. Sternförmig angelegte Straßen und Alleen strahlen gleichsam vom Machtzentrum der Residenzstadt, dem Schloss, aus in das umgebende Land. Das streng geometrisch strukturierte Weichbild entspricht den ästhetischen wie funktionalen Ansprüchen der Zeit, anders als die im Artikel kritisierten engen, krummen und „winklichten“ alten Stadtzentren und das über die Jahrhunderte vermeintlich planlose Wachstum anderer Städte, selbst der Metropolen London, Paris und Berlin. Geometrisierende Stadtgrundrisse sind keine Erfindung des 18. Jahrhunderts; sie begegnen bereits in den Vitruvschen „De architectura libri decem“ und in den Idealstadtentwürfen der Renaissance. Die geometrische Anlage dient nicht nur der Implementierung und Abbildung der politischen und sozioökonomischen Ordnung; die planvolle Verbindung von Straßen und Plätzen sowie die Offenheit der Anlage trägt auch einem zentralen hygienischen Anliegen Rechnung, der Gewährleistung von Luftzirkulation. Die Luftqualität wird als zentrales Problem städtischen Zusammenlebens gesehen. Der Mediziner Christoph Wilhelm Hufeland widmet im zweiten Teil seiner 1796 erstmals erschienenen „Makrobiotik oder die Kunst das menschliche Leben zu verlängern“ ein Kapitel dem Zusammenhang von unreiner Luft und dem Zusammenwohnen der Menschen in großen Städten. Es sei letzteres „eines der größten Verkürzungsmittel des menschlichen Lebens“.[12] Hufeland greift den antiurbanen Affekt Jean Jacques Rousseaus auf und schließt sich dessen Meinung an, dass unter allen Tieren der Mensch wohl dasjenige sei, das sich am wenigsten für das Zusammenleben in großen Ansammlungen eigne. „Fürchterlich ist das Übergewicht, das die Mortalität derselben [i. e. großen Städte] in den Totenlisten hat. In Wien, Paris, London und Amsterdam stirbt jeder 20. bis 23. Mensch, während daß rund herum, auf dem Lande, nur der 30. oder 40. stirbt. [...] Bei der Übersicht der vornehmsten Städte Europens, und ihrer Sterblichkeit zeigt sich, daß auch hier ein Unterschied stattfindet, und daß (was den großen Einfluß der Luft beweist) die Sterblichkeit immer in dem Verhältnis größer ist, je kleiner die Fläche ist, auf welcher die nämliche Menschenmenge zusammen wohnt, je kleiner also auch der Luftraum ist, von welchem ein jeder zehren muß.“[13] Während Mercier für Paris konkret die Rauchgase aus den häuslichen Feuerungen problematisiert, macht Hufeland die Feuchtigkeit oder „Dickheit“ der Luft als Hauptproblem aus. Der Mensch vergifte die Luft schon durch seine Atmung. Überdies identifiziert er kontagiöse Gifte (Kontagien, Miasmen) als Ursachen von Infektionskrankheiten.

Ganz ähnlich argumentiert der Artikel im „Krünitz“ und leitet verschiedene Forderungen ab: genügend Raum bei der Anlage von Straßen und Plätzen, die Bepflanzung der Städte mit Bäumen, Alleen und Gärten, Begrenzung der Gebäudehöhe und Schutz der Gewässer vor Verunreinigung, um die Entstehung verderblicher Dünste zu vermeiden.[14] Die Einschätzung des städtischen Grüns fällt dabei überraschend ambivalent aus. Denn raumgreifende, stark schattenspendende Bäume sowie Obst- und Küchengärten befördern einmal mehr Feuchtigkeit und Fäulnis, während schlanke Bäume wie die Pappel und Ziergärten ein probates Mittel der Luftreinhaltung darstellen. Die Wirkmächtigkeit vormikrobieller Infektionskonzepte (Miasma, Phlogiston, Gestank) währte lange im urbanen Hygienediskurs und war nicht selten mit moralischen Wertvorstellungen und geodeterministischer Logik gekoppelt. Dessen ungeachtet wirkten sie als Motoren der urbanen Hygienisierung. Bereits im 16. Jahrhundert empfahl der Frankfurter Stadtphysikus Joachim Struppius (1530-1601) die regelmäßige Reinigung von Straßen und Beseitigung von Abfällen, Kadavern etc.[15] In London beschleunigte der „Great Stink“, ein von entsetzlichem Gestank begleitetes mikrobielles „Umkippen“ der Themse bei Niedrigwasser und sommerlicher Hitze 1858, die politische Durchsetzung des Baus einer Kanalisation, den man zuvor mehrmals wegen zu erwartender horrender Kosten verworfen hatte. Noch der Hygieniker Max Pettenkofer (1818-1901) lehnte die von Robert Koch (1843-1910) vertretene bakteriologische Erklärung der Cholera ab. Pettenkofers von der Miasma-Theorie bestimmte Konzentration auf den Boden und dessen Entfeuchtung führte dazu, dass er in der Diskussion um die Hygienisierung Münchens zunächst dem Bau der Kanalisation gegenüber dem von Trinkwasserleitungen größere Priorität beimaß.[16]

Die Entsorgung von Abwässern durch den Bau unterirdischer Kanäle steht für dreierlei: erstens für die umwelthistorisch bedeutsame Trennung der Entsorgung von Müll und Abwässern, zweitens für einen der Schritte auf dem Weg zur „networked city“, einer Stadt, in der die Ver- und Entsorgung über technische Netzwerke organisiert wird. Drittens steht die Kanalisation für eine Strategie, die, solange eine Klärung der Abwässer unterbleibt, innerurbane Umweltprobleme lediglich externalisiert. Letzteres findet bereits in David Korths Artikel in der Krünitzschen Enzyklopädie seinen Widerhall, der bemerkt, eine Entsorgung städtischer Abwässer in die Flussläufe führe den Unrat „gewissermaßen andern Wohnplätzen und Städten, die sich abwärts am Strome befinden,“ zu.[17] Ein Vergleich der europäischen Entwicklung mit der in Asien zeigt übrigens, dass der Umgang mit urbanen Hygieneproblemen durchaus im weiteren Kontext der gesellschaftlichen Landnutzungssysteme betrachtet werden muss. So legen die Forschungen Susan Hanleys nahe, dass die bereits in der Frühen Neuzeit besonders effizienten Einrichtungen japanischer Städte zur Erfassung und zum Abtransport von Fäkalien auch dem hohen Düngerbedarf der japanischen Landwirtschaft zu danken waren. Diese arbeitete traditionell mit einem wesentlich geringeren Bestand an Nutztieren als in Europa. Die Erfassung menschlicher Fäkalien als Dünger erhielt damit einen ungleich höheren Wert.[18] Ein Blick nach Asien zeigt auch die ökologischen Grenzen eines Exports europäischer Stadtkonzepte im kolonialen Kontext. So arbeiteten die Niederländer bei der Anlage Batavias, dem heutigen Jakarta, im 17. Jahrhundert mit zahlreichen Grachten und Kanälen und schufen damit unter tropischen Rahmenbedingungen verheerende Seuchenherde.[19]

Die Hygienisierung der Stadt auf ihrem Weg in die Moderne war auch mit der Zurückdrängung von Tieren aus dem urbanen Raum verbunden. Bekanntermaßen beherbergte die europäische Stadt des Mittelalters und der Frühen Neuzeit eine große Anzahl von Nutztieren. Das sprichwörtliche „Schwein im Hinterhof“[20] agierte als Resteverwerter und als Erweiterung des Nahrungsangebots. Zugtiere spielten eine wichtige Rolle für die Bereitstellung kinetischer Energie. Hygienisierung durch die Reduzierung der innerstädtischen Präsenz von Tieren konnte auf unterschiedliche Weisen erfolgen. Die Zentralisierung der Schlachtung in Schlachthöfen ist eine, der Ersatz von tierischer Muskelkraft durch Motoren in Transport und Verkehr eine andere Option. Letzteres geschah freilich mit einiger Verzögerung. Denn paradoxerweise führten gerade die industrielle Entwicklung und das Stadtwachstum des 19. Jahrhunderts zu einem Transportbedarf, der zunächst nicht durch motorbetriebene Verkehrsträger befriedigt werden konnte. Folgerichtig erlebte noch das frühe 20. Jahrhundert den historischen Peak von Pferdepopulationen in Städten – mit allen hygienischen Konsequenzen. Die darauf folgende Motorisierung ersetzte diese Problemlage bekanntermaßen durch eine neue, die Emission von Luftschadstoffen.

Was sich bereits im 17. Jahrhundert mit dem weitgehenden Umstieg Londons auf Kohle als Brennstoff andeutete, sollte im Gefolge der Industrialisierung europaweit zu einer der größten umweltpolitischen Herausforderungen für staatliche und kommunale Behörden erweisen: der Umgang mit der Luftverschmutzung in Städten. Stand am Anfang nur der oft hilflose Versuch, dem Problem durch Zonierung, d. h. die raumplanerische Entzerrung unterschiedlicher Nutzungen, Herr zu werden, brachten im Westeuropa des späten 20. Jahrhunderts Technologien der Abgasreinigung und partielle Deindustrialisierung Abhilfe. In einer der Kernregionen der europäischen Industrialisierung ist das einst visionäre Postulat vom „blauen Himmel über der Ruhr“[21] weitgehend umgesetzt; dagegen erforderte unlängst im sich wirtschaftlich rasant entwickelnden Peking die Smogprophylaxe für die Olympischen Spiele den zeitweisen Produktionsstillstand einer ganzen Industrieregion und Restriktionen im Straßenverkehr.



[1] Essay zur Quelle: Die Krünitzsche Konzeption der Stadt und ihrer Umwelt (1837)

[2] Art. „Stadt“, in: Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft 167 (1837), S. 643-676, in: Krünitz Online (12.09.2008).

[3] Mercier, Lous-Sébastien, Mein Bild von Paris, Leipzig 1976, S. 14–15.

[4] Barles, Sabine, A Metabolic Approach to the City. 19th and 20th Century Paris, in: Schott, Dieter; Luckin, Bill; Massard-Guilbaud, Geneviève (Hgg.), Resources of the City. Contributions to an Environmental History of Modern Europe, Aldershot 2005, S. 28–47, hier: S. 34.

[5] Zur Krünitzschen Enzyklopädie vgl. Fröhner, Annette, Technologie und Enzyklopädismus im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Johann Georg Krünitz (1728-1796) und seine Oeconomisch-technologische Encyclopädie (Mannheimer Historische Forschungen, 5), Mannheim 1994; zu Johann Wilhelm David Korth vgl. ebd., S. 55-57.

[6] Hohenberg, Paul M.; Lees, Lynn Hollen, The Making of Urban Europe 1000-1950, Cambridge MA 1985, S. 1.

[7] Hufeland, Christoph Wilhelm, Makrobiotik oder die Kunst das menschliche Leben zu verlängern, Leipzig 1905, S. 200.

[8] McNeill, John Robert, Blue planet. Die Geschichte der Umwelt im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2003, S. 298.

[9] Vgl. Art. „Stadt“ (wie Anm. 2), S. 645-647.

[10] Behringer, Wolfgang, Topographie und Topik. Das Bild der europäischen Stadt in ihrer Umwelt, in: Schott, Dieter; Toyka-Seid, Michael (Hgg.), Die europäische Stadt und ihre Umwelt, Darmstadt 2008, S. 123-144, hier: S. 126–128.

[11] Schott, Dieter, Die europäische Stadt und ihre Umwelt. Einleitende Bemerkungen, in: Ders., Stadt und Umwelt, S. 7-26, hier: S. 9.

[12] Hufeland, Makrobiotik, S. 198-200.

[13] Ebd., S. 198-199

[14] Art „Stadt“ (wie Anm. 2), S. 655-660.

[15] Struppius, Joachim, Von der Leiber gesundtheit/und zu erst von allerley sauberkeit und reinigung der Lufft und Stätte (1573), in: Bayerl, Günter; Troitzsch, Ulrich (Hgg.), Quellentexte zur Geschichte der Umwelt von der Antike bis heute (Quellensammlung zur Kulturgeschichte 23), Göttingen 1998, S. 158-162, hier: S. 158-162.

[16] Münch, Peter, Stadthygiene im 19. und 20. Jahrhundert. Die Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallbeseitigung unter besonderer Berücksichtigung Münchens (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 49), Göttingen 1993, S. 134-138.

[17] Art. „Stadt“ (wie Anm. 2), S. 662.

[18] Hanley, Susan B., Urban Sanitation in Preindustrial Japan, in: Journal of Interdisciplinary History 18 (1987), H. 1, S. 1–26.

[19] Toyka-Seid, Michael, Die europäische Stadt und ihre imperialen Peripherie. Export des europäischen Stadtmodells, In: Schott, Stadt und Umwelt, S. 145-168, hier: S. 161.

[20] Ernst, Christoph; Schmandt, Matthias, Das Schwein im Hinterhof. Städtische Ver- und Entsorgung in vorindustrieller Zeit, in: Politische Ökologie 44 (1996), H. Jan./Feb., S. 20–22.

[21] Wahlkampfslogan Willy Brandts und Titelstory des „Spiegel“ Nr. 33 (1961), vgl. dazu: Winiwarter, Verena; Knoll, Martin, Umweltgeschichte. Eine Einführung (UTB, 2521), Köln 2007, S. 280, 283.


Literaturhinweise:

  • Bernhardt, Christoph (Hg.), Environmental Problems in European Cities in the 19th and 20th Century / Umweltprobleme in europäischen Städten des 19. und 20. Jahrhunderts (Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt 14), Münster 2001.
  • Isenberg, Andrew C. (Hg.), The Nature of Cities (Studies in Comparative History), Rochester 2006.
  • McNeill, John Robert, Blue Planet. Die Geschichte der Umwelt im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2003.
  • Schott, Dieter; Luckin, Bill; Massard-Guilbaud, Geneviève (Hgg.), Resources of the City. Contributions to an Environmental History of Modern Europe (Historical Urban Studies), Aldershot 2005.
  • Schott, Dieter; Toyka-Seid, Michael (Hgg.), Die europäische Stadt und ihre Umwelt, Darmstadt 2008.
  • Winiwarter, Verena; Knoll, Martin: Umweltgeschichte. Eine Einführung, Köln 2007.

Die Krünitzsche Konzeption der Stadt und ihrer Umwelt (1837)[1]

[S. 644]

Was die Lage einer Stadt, einer großen oder Residenzstadt betrifft, so ist es sehr vortheilhaft, wenn sie auf einer, mit einem Flusse durchschnittenen Ebene liegt, und wenn sich Heide oder Wald in der Nähe befindet, oder sie doch so liegt, daß sie eine freie Lage gegen Morgen, Mittag und Abend hat, und der Wald oder die Heide, so auch ein Gebirge ihr nord=östlich liege, so, daß sie gegen den Andrang der kalten Nordwinde einigermaaßen geschützt ist. Es läßt sich freilich bei der Anlage neuer Städte nicht immer die Lage bestimmen, weil hier noch so vieles Andere berücksichtiget werden muß, was diesem vorzuziehen ist, wie z. B. ein schiffbarer Fluß, damit der Handel darauf mit andern Städten etc. getrieben werden kann, oder die Stadt ihre Hauptbedürfnisse aus den Provinzen des Reichs etc. etc. beziehen kann.[...]

[S. 645-647]

[...] Unter den neu angelegten Residenzstädten in den Deutschen Staaten, zeichnet sich besonders Karlsruhe, sowohl wegen seiner reizenden Lage, als auch wegen der Umgebungen aus. Die Stadt selbst bildet gleichsam einen Theil der Zirkelfläche, welche durch die vom Thurme des Residenzschlosses als Radien nach den zweiunddreißig Weltgegenden ausgehenden Alleen beschrieben wird, und es gehen vom Schloßplatze aus eilf Straßen gleich Sonnenstrahlen nach allen Richtungen hin, die von einer queer hin durchlaufenden langen Straße durchschnitten werden. Sämmtliche Straßen gehen entweder bis zu den Thoren fort, oder münden unten in der Kriegsstraße, eine drei Thore berührende Straße, ein, oder gehen auf das ferne Feld etc. Von der quer durchlaufenden langen Straßen an, werden die Hauptstraßen von mehreren Nebenstraßen durch schnitten, so daß sich die ganze Stadt in die nördliche und südliche Hälfte, und in vier Viertel theilt. Auf diese Weise haben alle Straßen Kommu- [//] nikationen mit einander, und können doch auch wieder nach den angeführten Vierteln betrachtet werden. Sieht man nun auf die nahen und fernen Umgebungen, so hat man von dem Thurme des Residenzschlosses, oder dem Thurme der neuen Kirche das Panorama vor sich, denn auf der einen Seite bietet sich dem Auge das bunte schöne Rheinthal dar, das sich von Basel gegen den Main hinabzieht, und hier bald mehr, bald weniger verflächt. Der Rhein strömt in einer Entfernung von ein bis anderthalb Stunden gegen Südwest, West und Nordwest vorüber. Jenseits desselben, vier bis sechs Stunden entfernt, erhebt sich die blaue dunkle Kette des Ueberrheinischen Gebirges von Südwest nach Nordost ziemlich parallel mit dem diesseitigen Gebirge ausgedehnt. Hinter jener meist felsigen Bergkette ragen die Vogesischen Gebirge hervor. Auf der andern Seite zeigt sich eine Kette sanft anlaufender Gebirge, in einer Entfernung von kaum einer Stunde, die sich nach Nordost wendet, und mit der Pfälzischen Gebirgskette in Verbindung steht. Die Bergrücken sind theils mit Sträuchern und Eichen, theils aber auch, besonders östlich, mit Reben und Feldfruchten bepflanzt. In dem Hintergrunde, südlich, südwestlich und südöstlich, schließen sich in einer Entfernung von fünf bis sieben Stunden, die zwei bis drei Tausend Fuß hohe, mit Tannen und Heiden bewachsene Schwarzwaldgebirge an. Zwei kleine Flüsse beleben das Gemälde. In der nächsten Umgebung Karlsruhs stellt sich auf der einen Seite der große Hartwald dar, mit Tausenden von hochgipflichten Eichen und Buchen, gegen Norden und Nordosten in einer Strecke von drei bis vier Stunden, gegen Westen und Nordwesten aber nur von einer halben bis anderthalb Stunden. Man erblickt den reizenden Schloßgarten von zwölf Aussichten durchschnitten, die vom Mittelpunkte des Schloßthurms an [//] fangen, und sich im Hartwalde oder den angrenzenden Feldern verlieren. Auf der andern Seite umgeben Gärten, Aecker und Wiesen, an die sich ein kleiner lichter Eichenwald lehnt, Karlsruhes lachende Fluren. Die Stadt selbst zeigt sich zum Theil noch in der zirkelförmigen Gestalt durch die Hauptstraße durchschnitten, deren Richtung gegen Basel, so wie gegen Frankfurt. Alleen von Obstbäumen, Pappeln und Plantanen bezeichnen. Diese erst seit 1715 regelmäßig angelegte Residenz bietet in Hinsicht der Anlagen ein Muster schöner Baukunst dar. Nur eins fehlt dieser Residenz, um sie zur reizendsten zu machen, Wasser. [...]

[S. 655-656]

[...] Von dem Einflusse der Witterung auf die großen Städte, oder wie man wohl große Städte am besten anlegt, daß sie den Witterungseinflüssen aller Art am besten trotzen können, und ihre Bewohner, so viel als möglich, gegen Wind und Wetter schützen. Dieser Punkt ist bei den großen Städten schon oft in Berührung gekommen. Besonders hat Hume in seinem Versuche über eine große Stadt, nach ihren physikalischen, moralischen und politischen Absichten, begreiflich zu machen gesucht, daß die physikalischen Absichten, in Beziehung auf die Bevölkerung, auch zu politischen werden, und dieserhalb sind sie auch mit der medizinischen Polizey genau verbunden. Daß dieses hauptsächlich an der Luft liegen müsse, geht daraus hervor, daß die in den großen Städten gebornen und erzogenen Leute nie die Kräfte besitzen, als die auf dem Lande gebornen und erzogenen, daß die Sterbelisten derselben, nach dem Verhältnisse derjenigen auf dem Lande verhältnißmäßig weit stärker sind. -- Die Luft einer großen und volkreichen Stadt wird durch die angehäufte Menge angesteckt, und unter der großen Anzahl von Menschen gelangen nur wenige zu dem gewöhnlichen Ziele des Lebens. Man wende nun dieses auf London, Paris, Wien, Berlin, und alle [//] Haupt= und Residenzstädte Europas an, so wird man das Gesagte bestätiget finden. Frank sagt daher in seinem Systeme der medizinischen Polizey: daß ein Land immer um so viel ungesunder sey, je größer das Verhältniß seiner Städte zu dem Lande ist, und je höher der Aufwand im Bauen da steigt, wo einem jeden Einwohner so viel daran gelegen ist, daß ihm sein Nachbar nicht das zum Schnaufen nöthige Bischen Luft verbaue oder vergifte. Unsere Alten hatten bei der Anlegung der Städte nicht die Gesundheit ihrer Bewohner im Auge; denn sie baueten die Straßen eng zusammen und die Häuser so hoch, daß die Sonnenstrahlen selten hineindringen, und die Pfützen auf den Straßen austrocknen konnten; sie halfen aber diesem Uebel dadurch ab, daß sie sich fleißige Bewegungen im Freien machten, was sie um so eher thun konnten, da die Städte nicht so groß waren, sie also leicht von einem Ende zum andern kommen konnten, um ins Freie zu gelangen; sie waren daher unbekümmert um ihre Wohnungen, ob sie gesund lagen, oder nicht, wenigstens geht dieses aus den so sehr winkligen und engen Gassen hervor, wo die Menschen ganz zusammengepfercht wohnten. Es ist daher nothwendig, auf die Anlagen der Straßen, der Haupt= und andern Plätze, der Stadtthore und der Stadtmauern etc. zu sehen dann auf die Bepflanzung der Städte mit Bäumen, Alleen und Gärten, und endlich auf die Gebäude selbst. [...]

[S. 661]

[...] In Ansehung des Unraths der Abtritte haben die an Flüssen gelegenen Städte die vortheilhafteste Lage, da er hier entweder durch allgemeine und mit diesen zusammenhängende besondere Kanäle, am besten in den Fluß geleitet wird. Indessen können nicht alle Städte an Flüssen angelegt werden, und viele, welche diese vortheilhafte Lage wirklich haben, sind nicht mit Kanälen versehen, woher denn die Nothwendigkeit entsteht, die Abtritte mit Kes<167, 662>seln zu versehen, und wenn diese voll werden, durch eigends dazu bestimmte Leute zu leeren, und den Unrath abzuführen. Der Unrath wird freilich durch das Ausleeren in die Flüsse gewissermaßen andern Wohnplätzen und Städten, die sich abwärts dem Strome befinden, zugeführt. Bäche und kleine Flüsse sollten daher niemals dazu gebraucht werden, weil die geringe Menge des Wassers in denselben nicht im Stande ist, den Unrath so zu vertheilen, damit die Luft um so weniger dadurch verdorben werde.


[1] Auszug aus dem Art. „Stadt“, in: Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft 167 (1837), S. 644-647, 655-656, 661, in: Krünitz Online, , (12.09.2008).


Für das Themenportal verfasst von

Martin Knoll

( 2008 )
Zitation
Martin Knoll, "Dicke Luft und lachende Fluren" Überlegungen zur Umweltgeschichte der europäischen Stadt, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2008, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1467>.
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