Siegfried Kracauer – Zur Entwicklung der professionellen Filmkritik in der Weimarer Republik

Siegfried Kracauer (1889–1966) zählt neben Rudolf Arnheim, Béla Balász und Lotte Eisner zu den bedeutendsten Klassikern der deutschen Filmkritik und Filmtheorie der 1920er-Jahre. Seine berufliche Ausprägung als Filmkritiker, namentlich der Frankfurter Zeitung seit Anfang der 1920er-Jahre, kann als ein herausragendes Beispiel dienen, wie sich im Gegensatz zu einer rein ästhetisch geprägten Filmkritik eine soziologische Filmkritik und die Profession des Filmkritikers nach ersten Anfängen vor und im Ersten Weltkrieg insbesondere in den 1920er-Jahren entwickelte. Da weder die Geschichte der Filmkritik noch die Entwicklung der Profession des Filmkritikers unter kultur- und sozialhistorischen Perspektiven im internationalen Kontext hinreichend erforscht sind[3], kann hier nur eine auf einen Exponenten bezogene knappe Skizze geliefert werden. [...]

Siegfried Kracauer – Zur Entwicklung der professionellen Filmkritik in der Weimarer Republik[1]

Von Irmtraud und Albrecht Götz von Olenhusen

Siegfried Kracauer (1889–1966) zählt neben Rudolf Arnheim, Béla Balász und Lotte Eisner zu den bedeutendsten Klassikern der deutschen Filmkritik und Filmtheorie der 1920er-Jahre. Seine berufliche Ausprägung als Filmkritiker, namentlich der Frankfurter Zeitung seit Anfang der 1920er-Jahre, kann als ein herausragendes Beispiel dienen, wie sich im Gegensatz zu einer rein ästhetisch geprägten Filmkritik eine soziologische Filmkritik und die Profession des Filmkritikers nach ersten Anfängen vor und im Ersten Weltkrieg insbesondere in den 1920er-Jahren entwickelte.[2] Da weder die Geschichte der Filmkritik noch die Entwicklung der Profession des Filmkritikers unter kultur- und sozialhistorischen Perspektiven im internationalen Kontext hinreichend erforscht sind[3], kann hier nur eine auf einen Exponenten bezogene knappe Skizze geliefert werden. Kracauers philosophisch, filmästhetisch und kulturkritisch geprägte Anfänge erweiterten sich zu einer ideologie- und gesellschaftskritischen Perspektive, in der Filme als Spiegel der bestehenden Gesellschaft gesehen wurden. Der Filmkritiker von Rang sei nur als Gesellschaftskritiker denkbar. „Seine Mission ist: die in den Durchschnittsfilmen versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und durch diese Enthüllungen den Einfluss der Filme selber überall dort, wo es nottut, zu brechen.“[4]

Kracauer als ein wesentlicher Protagonist der soziologischen, das heißt auch der mehr oder weniger exponierten linken Filmkritik, konfrontierte in Filmanalysen über die filmästhetische Beurteilung hinaus die „Scheinwelt […] [dieser] Filme mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ und ihrer Funktion als Ware und Wirtschaftsprodukt.

Die Entstehung der Profession des Filmkritikers ist von der Entwicklung der deutschen und internationalen Filmindustrie, hier vor allem der US-amerikanischen, sowie von der Entstehung und der zunehmenden Bedeutung von Filmzeitschriften mit Beiträgen zur Filmkritik in Zeitungen und Zeitschriften[5] nicht zu trennen.

Nach einer knappen Darstellung von Person und Biografie Siegfried Kracauers wird seine Entwicklung als Filmkritiker vor allem bei der Frankfurter Zeitung, die Grundlage und Fortentwicklung der Profession bis zu seiner Emigration vorgestellt. Anhand der beiden ausgewählten Quellen wird sein wesentliches Anliegen analysiert, sein Konzept in Bezug auf den deutschen, den US-amerikanischen, vor allem aber auf den internationalen Film betrachtet[6] und schließlich die sich aus diesen Fundamenten ergebenden Wirkungen auf die Filmkritik als Profession in den Blick genommen.[7]

Siegfried Kracauer, am 8. Februar 1889 in Frankfurt am Main als Sohn eines Kaufmanns geboren, hatte zunächst nach einem Architekturstudium und Arbeit in diesem Beruf, nach seiner Promotion (1914) und nach dem Ersten Weltkrieg den Beruf des Journalisten und Publizisten bei der Frankfurter Zeitung begonnen (1921). Seine frühen, seit dem Studium durch Georg Simmel und Max Scheler geprägten Arbeiten wie etwa Soziologie als Wissenschaft (1922) zeigen ihn früh in einem Bekannten- und Freundeskreis, aus dem der junge Theodor W. Adorno, Leo Löwenthal und Walter Benjamin herausragen.[8] Mit der festen Anstellung bei der Frankfurter Zeitung 1924 und der Sicherung des Filmressorts konnte er, der sich auch mit der Fotografie befasst hatte, über die Vielzahl der durchschnittlichen deutschen und amerikanischen Filme hinaus seine geschichtsphilosophischen Ansprüche auf antizipatorische und utopische Entwürfe in kultur- und völkerübergreifenden Werken von Eisenstein, Pudowkin, Vertov und Chaplin erfüllt sehen. Deren Filmsprache stand für ihn auf höchstem Niveau. Der weitere Lebensweg war durch die Versetzung nach Berlin (1930) und die Emigration nach Frankreich charakterisiert. Erst nach der Flucht in die USA (1941) und als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Museum of Modern Art in New York sowie als Stipendiat von Forschungsinstitutionen (Guggenheim und Rockefeller-Stiftung) wurden die Grundlagen für die klassischen Arbeiten From Caligari to Hitler (1947) sowie zur Filmästhetik und Filmtheorie gelegt, bevor er sich, Jahre vor seiner eingeschränkten Rezeption im Nachkriegsdeutschland, dem unvollendeten geschichtstheoretischen Werk History. The Last Things Before the Last widmete, das erst nach seinem Tode (New York 1966) aus dem Nachlass publiziert wurde (1969). Darin knüpfte er in gewisser Weise auch an filmhistorische Sichtweisen und Analysen der 1920er-Jahre an. Nachdem eine zunächst auf fünf, dann auf neun Bände angelegte Edition seiner Werke ab 1971 ins Stocken geraten war, liegen jetzt Kracauers Werke in einer großangelegten Edition vor. Sie ermöglicht durch die dreibändige Ausgabe der Kleinen Schriften zum Film 1921–1961 die „plastische Erkenntnis, dass er in der Frankfurter Zeitung die Filmkritik zu einem eigenständigen Genre entwickelte und die Filmanalyse auf ein theoretisches Niveau brachte“.[9]

Die Profession als Filmkritiker konnte Kracauer erst wieder in den USA in der Zeitschrift New Movies auf Dauer fortsetzen. Denn trotz seines Rufs und guter Kontakte hatten die Bedingungen der acht Jahre im französischen Exil dort keine Existenz und nur bedingt eine Mitarbeit an Schweizer Zeitungen (Neue Züricher Zeitung und Baseler Nationalzeitung) ermöglicht. Kracauers Weg führte ihn von der soziologisch grundierten, auch der Kritischen Theorie der 1920er- und 1930er-Jahre verpflichteten Filmkritik, zur eigenständig entwickelten Filmästhetik und Filmgeschichte sowie über eine sozialpsychologisch und ikonologisch geprägte Filmtheorie schließlich hin zu einer teleologischen Geschichtstheorie eigener Art, die durch die Erfahrung des Holocaust geprägt war.

890 Filmproduktionen aus Deutschland, den USA, Frankreich, der Sowjetunion, Österreich, Schweden und Dänemark und anderen Ländern bildeten für den „maßgeblichen Filmkritiker der Weimarer Republik“[10] Basis und Vorgeschichte des späteren Caligari-Buches. Die Bewertung der Filme zum Zeitpunkt ihres Erscheinens bzw. ihre Besprechung durch Kracauer unterschied sich im Einzelnen deutlich von seiner Betrachtung ex post im amerikanischen Exil.[11]


Eine Auszählung der zwischen 1921 und 1933 publizierten Filmrezensionen nach Ländern, die wir angestellt haben, zeigt, dass Kracauer ungefähr zur Hälfte (48,5 Prozent) deutsche, zu etwas mehr als einem Drittel amerikanische Filme (35,5 Prozent) berücksichtigt hat und zu 16,5 Prozent Koproduktionen oder Produktionen anderer Länder. Dies ist insofern bemerkenswert, als es fast genau dem jeweiligen Marktanteil der Produktionen im Deutschen Reich (47,8 Prozent), den USA (34,7 Prozent) und in anderen (meist europäischen) Ländern (17,5 Prozent) entspricht.[12] In absoluten Zahlen hat Kracauer in Einzel- oder Sammelrezensionen 427 deutsche, 316 US-amerikanische und 147 andere ausländische Filme besprochen.[13]

Die Bedeutung Europas für und seine Avantgardefunktion in der Filmproduktion war schon während des Ersten Weltkrieges zusammengebrochen. Bis dahin hatten französische, dänische und skandinavische sowie italienische Filmproduktionen den Markt in Europa beherrscht und die amerikanische Filmindustrie konnte mit ihren Exporten noch keine Schlüsselposition einnehmen. Nach dem Ersten Weltkrieg konnte sich die Filmproduktion vieler europäischer Länder nicht mehr konsolidieren, wobei in Deutschland die UFA-Gründung der Filmproduktion deutlichen Auftrieb gab. Im europäischen Ausland oder in der Sowjetunion produzierte Filme fanden beim deutschen Publikum nur dann Beachtung, wenn sie zu den ausgesprochenen Avantgardefilmen zu rechnen waren, die auch international Aufsehen erregten.

Die filmästhetische und ökonomische Entwicklung der deutschen Filmindustrie der Weimarer Republik ist nicht nur durch herausragende Produktionen – von Robert Wiene, Paul Wegener, F.W. Murnau und Fritz Lang – sondern auch durch zunehmende Kapitalinvestitionen charakterisiert, die sich alsbald einen harten Konkurrenzkampf mit der US-amerikanischen Filmwirtschaft lieferten. Die Konzentrationstendenzen in der deutschen Filmindustrie, die sich dann entwickelnde Wirtschaftskrise der Branche und die dadurch mitbedingten amerikanischen Beteiligungen und Übernahmen verwandelten den Filmmarkt. Der Film als eine der Schlüsselindustrien der USA expandierte in die profitablen ausländischen Märkte mit den Folgen einer auch in Deutschland wirksamen, wirtschaftlichen und kulturellen „Amerikanisierung“.[14] Die Entwicklung einer professionalisierten Filmkritik ist ohne die von Kracauer kritisch kommentierte deutsche Filmproduktion im Vergleich zur ausländischen und ohne den „Siegeszug“ des „Hollywoodfilms“ und die dadurch ausgelösten Diskussionen über den mentalen und sozialen Wandel zwischen sogenannter Neuer und sogenannter Alter Welt nicht zu denken. In einer nicht in der Frankfurter Zeitung, sondern 1931 in der Europäischen Revue publizierten Analyse Internationaler Tonfilm geht es Kracauer um die Internationalisierung des Stummfilms bzw. um Globalisierungsprozesse als Folge des methodisch durchgeführten Bildertransports, um den Lernprozess in Bezug auf die national differierenden Sichtweisen der Amerikaner, der Deutschen und der Franzosen und um die Internationalisierung und Angleichung global verwertbarer Montagetechniken und Stoffe. Zugleich entwickelte Kracauer aber für den jetzt den Stummfilm ablösenden Tonfilm ein Konzept: „Das heißt, er muss entweder bedeutende nationale Eigentümlichkeiten der Welt vorstellen oder Dinge zur Sprache bringen, mit denen sich die ganze Welt beschäftigt.“[15]

Der Filmkritiker wird hier zu einem Technik, Ästhetik und Produktionsbedingungen kritisch und zugleich konstruktiv begleitenden Analytiker.

Als sich Kracauer 1932 über die Aufgabe des Filmkritikers im Sinne einer „unabhängigen Filmkritik […] die wir seit Jahren in der Frankfurter Zeitung zu pflegen suchen“ äußerte, ging er von der Tatsache aus, dass der Film in der kapitalistischen Wirtschaft eine Ware wie andere sei, nicht im Interesse der Kunst oder der Aufklärung, sondern ihres erwarteten Nutzens wegen produziert. Der Filmkritiker dürfe die entsprechenden gesellschaftlichen Wirkungen nicht unberücksichtigt lassen. Der Einfluss auch der gehaltärmsten Filme auf die Publikumsmassen und dessen Richtung gehöre zu den „Kardinalfragen“: „Die Aufgabe des zulänglichen Filmkritikers besteht nun meines Erachtens darin, jene sozialen Absichten, die sich oft sehr verborgen in den Durchschnittsfilmen geltend machen, aus ihnen herauszuanalysieren und ans Tageslicht zu ziehen, das sie nicht selten scheuen.“[16]

Kracauer will das Gesellschaftsbild, die abgebildete Scheinwelt mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit konfrontieren. Der Filmkritiker sei nur als Gesellschaftskritiker denkbar, ohne freilich bei den gehaltvollen Filmen die filmästhetische Durchdringung zu vernachlässigen. Demgegenüber blieben andere, die wie Kracauer als Linksintellektuelle zu bezeichnen waren, wie Herbert Jhering, Béla Balász und Arnheim, nach ihrem Selbstverständnis Exponenten einer primär filmästhetischen Betrachtungsweise. Sein, wenn man so will, implizites Programm für eine und speziell seine Filmkritik hatte Kracauer allerdings schon 1927 entwickelt: „Der Inbegriff der Filmmotive ist zugleich die Summe der gesellschaftlichen Ideologien, die durch die Deutung dieser Motive entzaubert werden.“[17] Als sozial- und kulturkritische Abrechnung mit dem deutschen Film, der sogenannten Durchschnittsware, aber auch mit dem sogenannten Kunstfilm ist ein Jahr später seine Darstellung Der heutige Film und sein Publikum zu lesen. Die Substanzlosigkeit übertreffe womöglich noch die amerikanische Produktion. Im Interesse der stabilisierten Gesellschaft würden Ideologien aufgerichtet, die dem Hauptstamm der Kinobesucher, den kleineren Angestellten, „die Aussicht versperren“. In der Gesinnung der Filme werde die gesellschaftliche Wirklichkeit „verflüchtigt, beschönigt, entstellt“.[18] Das 1932 zusammengefasste Aufgabengebiet der Filmkritik praktizierte Kracauer seinem Selbstverständnis nach schon Jahre zuvor durchgehend, wobei er sich selbst auch von einer zwar kritischen, aber nur auf Symptome wie „Profitgeist und das Starwesen“[19], allenfalls auf den Zusammenhang zwischen Industrieinteressen und Filmideologie fokussierten Filmkritik abgrenzte.



[1] Essay zur Quelle: Siegfried Kracauer und die Professionalisierung der Filmkritik: Internationaler Tonfilm? (1931) und Über die Aufgabe des Filmkritikers (1932). Die Druckversion des Essays findet sich in: Isabella Löhr, Matthias Middell, Hannes Siegrist (Hgg.): Kultur und Beruf in Europa, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, S. 116–122, Band 2 der Schriftreihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays.

[2] Diederichs, Helmut H., Anfänge deutscher Filmkritik, Stuttgart 1986; ders., Über Kinotheater-Kritik, Kino-Theaterkritik, ästhetische und soziologische Filmkritik, in: Schenk, Irmbert (Hg.), Filmkritik. Bestandsaufnahmen und Perspektiven, Marburg 1998, S. 22–42.

[3] Einen instruktiven Überblick über die amerikanische Filmkritik bietet: Roberts, Jerry, The Complete History of American Film Criticism, Santa Monica 2010. Hier konnte auf einer ganzen Reihe von Anthologien zum Werk bekannter Filmkritiker aufgebaut werden, wobei allein die gesammelten Schriften der wohl bedeutendsten amerikanischen Filmkritikerin Pauline Kael etliche voluminöse Bände umfasst.

[4] Kracauer, Siegfried, Über die Aufgabe des Filmkritikers, in: ders., Werke. Bd. 6.3: Kleine Schriften zum Film 1932–1961, hg. von Mülder-Bach, Inka, Frankfurt am Main 2004, S. 63.

[5] Kracauer schrieb nicht nur für die „Frankfurter Zeitung“, sondern gelegentlich auch Artikel für den „Film-Kurier“ (1 (1919) ff.) und andere Film- und Kulturzeitschriften.

[6] Kracauer, Siegfried, Internationaler Tonfilm?, in: ders., Werke. Bd. 6.2: Kleine Schriften zum Film 1928–1932, hg. von Mülder-Bach, Inka, Frankfurt am Main 2004, S. 475–479.

[7] Eine genauere Analyse der Profession des deutschen Filmkritikers ist ein Desiderat ebenso wie eine umfassende Darstellung der deutschen Filmkritik, von einer international vergleichenden ganz zu schweigen. Ein Vergleich Kracauers mit anderen Filmkritikern der Weimarer Republik kann die Arbeiten von weniger bekannten Autoren wie Ernst Jäger, Frank Maraun, Wolfgang Duncker, Rudolf Kurtz, Kurt Pinthus, Herbert von Jhering, Hans Siemsen, Libertas von Schulze-Boysen, aber auch Kurt Tucholsky, Axel Eggebrecht u.a. einbeziehen. Siehe dazu die in der Reihe „Film & Schrift“ von Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen edierten Filmkritiker-Monografien (Bände 2, 3, 5, 6, 8, 12, 14, 15). Kurtz, dessen filmkritische Beiträge dokumentiert sind, ist ein Beispiel dafür, wie sich ein Filmdramaturg aus dem Kreis um Ernst Lubitsch aus einem wohl informierten Filmindustriekenner und Funktionär der Filmbranche als Filmkritiker ab Mitte der 1920er-Jahre zu einem Anhänger – neben den verklärten Lubitsch und Jannings – der engagierten sowjetischen Montagekunst entwickelt. Vgl. dazu Michael Wedel, in: Kurtz, Rudolf (Hg.), Rudolf Kurtz: Essayist und Kritiker, München 2007, S. 9ff; zur Geschichte der deutschen Filmkritik bis 1933: Hake, Sabine, The Cinema’s Third Machine. Writing on Film in Germany 1907–1933, Lincoln 1993.

[8] Zur Biografie Kracauers: Brodersen, Momme, Siegfried Kracauer, Reinbek 2001; Mülder, Inka, Siegfried Kracauer – Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften 1913–1933, Stuttgart 1985; Traverso, Enzo, Siegfried Kracauer: Itinéraire d’un intellectuel nomade, Paris 1994.

[9] Mülder-Bach, Inka, Nachbemerkung und editorische Notiz, in: Kracauer, Werke. Bd. 6.3, S. 572.

[10] Ebd., S. 574.

[11] Dies ist systematisch bisher nicht verglichen worden. Aber vgl. Schenk, Irmbert, Von Kracauer zu Kracauer. Der Filmkritiker der Weimarer Republik und der Filmhistoriker nach 1945 über die Bergfilme von Arnold Fanck, in: Preußer, Heinz-Peter; Wilde, Matthias (Hgg.), Kulturphilosophen als Leser. Porträts literarischer Lektüren, Göttingen 2006, S. 120–137.

[12] Diese Zahlen sind entnommen: Saekel, Ursula, Der US-Film in der Weimarer Republik – ein Medium der „Amerikanisierung“? Deutsche Filmwirtschaft, Kulturpolitik und mediale Globalisierung im Fokus transatlantischer Interessen, Paderborn 2011, Tabelle 52, S. 255.

[13] Hier kann nicht weiter differenziert werden. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass bis 1926 ameri­kanische Exporte den deutsche Filmmarkt beherrschten und dass erst durch die Einführung des Tonfilms ab 1927 deutsche Produktionen dominierten, wobei der Marktanteil 1930 die 50-Prozent-Marke überschritt und 1932 sogar 62 Prozent erreichte.

[14] Vgl. Saekel, Ursula, Der US-Film in der Weimarer Republik; Saunders, Thomas J., Hollywood in Berlin. American Cinema and Weimar Germany, Berkley 1994.

[15] Kracauer, Siegfried, Internationaler Tonfilm, S. 477.

[16] Kracauer, Über die Aufgabe des Filmkritikers; Forrest, Tara, The Politics of Imagination. Benjamin, Kracauer, Kluge, Bielefeld 2007.

[17] Kracauer, Siegfried, Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino, in: Frankfurter Zeitung, März 1927. Dies war ein Sonderdruck der Frankfurter Zeitung im März 1927. Die Artikel waren vom 11.03. bis 19.03.1927 in der Frankfurter Zeitung erschienen und wurden im Sonderdruck als „Film und Gesellschaft“ zusammengefasst.

[18] Siegfried Kracauer, Der heutige Film und sein Publikum, in: Frankfurter Zeitung 30.11. und 01.12.1928, in: ders., Werke. Bd. 6.2, S. 152.

[19] Ebd., S. 163.



Literaturhinweise

  • Bächlin, Peter, Der Film als Ware, Basel 1947.
  • Despoix, Philippe, Ethiken der Entzauberung. Zum Verhältnis von ästhetischer, ethischer und politischer Sphäre am Anfang des 20. Jahrhunderts, Bodenheim 1998.
  • Diederichs, Helmut H., Anfänge deutscher Filmkritik, Stuttgart 1986.
  • Mülder, Inka, Siegfried Kracauer – Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur. Seine frühen Schriften 1913–1933, Stuttgart 1985.
  • Saekel, Ursula, Der US-Film in der Weimarer Republik – ein Medium der „Amerikanisierung“? Deutsche Filmwirtschaft Kulturpolitik und mediale Globalisierung im Fokus transatlantischer Interessen, Paderborn 2011.


Siegfried Kracauer und die Professionalisierung der Filmkritik: Internationaler Tonfilm? (1931) und Über die Aufgabe des Filmkritikers (1932)[1]

1.

Internationaler Tonfilm? (1931)

Der stumme Film war keineswegs in dem Sinne international, in dem die landwirtschaftlichen Maschinen und die Kragenknöpfchen es sind. Gewiß, da er das Glück hatte, keine Worte machen zu müssen – es sei denn in den Bildtiteln, die leicht übersetzbar waren –, konnte er überall hindringen, wo man zu sehen verstand. Aber die Sprache der Bilder ist kaum minder national bedingt wie die der Musik. Und so wenig die musikalische Ausdrucksweise eines Volkes einem anderen ohne weiteres einzugehen vermag, ebensowenig entsprechen die visuellen Verständigungsmittel der verschiedenen Nationen von vornherein einem natürlichen Esperanto. […] Ökonomisch geforderte Ausfuhr aus den hauptsächlichsten Filmproduktionsländern brachte es zuwege, daß man in den Absatzgebieten nach und nach so sehen lernte wie die Amerikaner, die Deutschen und die Franzosen, und die Rücksicht auf die Konsumentenbedürfnisse gebot zugleich die Wahl bestimmter international faßlicher Stoffe sowie die Verfestigung gewisser optischer Ausdruckszeichen. Wie mit Vorliebe Themen verfilmt wurden, die zwischen New York und Tokio heimisch waren, so näherten sich auch die verschiedenen Montagemethoden zusehends einander an. Der stumme Film ging im großen und ganzen nicht von der Internationalität der visuellen Impressionen aus, er ging auf sie zu. Aber man darf sich durch diese großartige Vermittlungsaktion, die er unternommen hatte, nicht darüber hinwegtäuschen lassen, daß der Sehraum der amerikanischen Grotesken ein anderer war als der, in dem die Kamera der Russen panoramierte.

Der tönende Film hat dem durch den stummen eingeleiteten Prozeß ein Ende gemacht. Genauer gesagt: der Sprechfilm. Denn die Mick[e]y-Maus-Filme etwa, die von Musik und undefinierbaren komischen Lauten begleitet sind, werden ja in der ganzen Welt belacht. Die Grenze der Verständlichkeit beginnt erst mit dem Einsatz der Worte. Kaum hatten sie die Herrschaft an sich gerissen, so war es mit dem internationalen optischen Austausch vorbei, und man wird noch heute das bittere Gefühl nicht los, nach den paradiesischen Zeiten einer alle Völker verbindenden Bilderrede wieder in das Chaos der babylonischen Sprachverwirrung zurückgeworfen zu sein.

Doch mit der Technik läßt sich schwer rechten, und die kapitalistischen Notwendigkeiten drängen zum Glück darauf, die verlorene Internationalität des stummen Films dem sprechenden zurückzuerobern. […]

Je mehr die Sprache zurückgedrängt wird und die freie Bildmontage wieder in ihre alten Rechte tritt, desto besser werden die Tonfilme und desto leichter sprengen sie auch die nationalen Grenzen. […] Und nutzten gar die Tonfilme statt der Sprache des jeweiligen Entstehungslandes mehr die der Geräusche aus, die in allen Ländern heimisch ist, so kämen sie vermutlich bald der Fassungskraft des Weltpublikums kaum weniger entgegen als einst der stumme Film.

2.

Siegfried Kracauer: Über die Aufgabe des Filmkritikers (1932)

Die Frankfurter Tagung der Lichtspieltheater-Besitzer bietet mir einen guten Anlaß, mich einmal etwas allgemeiner über die Aufgaben einer unabhängigen Filmkritik zu äußern; jener Filmkritik, die wir seit Jahren in der Frankfurter Zeitung zu pflegen suchen.

Der Film ist innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft eine Ware wie andere Waren auch. Er wird – von wenigen Outsidern abgesehen – nicht im Interesse der Kunst oder der Aufklärung der Massen produziert, sondern um des Nutzens willen, den er abzuwerfen verspricht. […]

Wie soll er sich ihnen gegenüber verhalten? Diese Filme sind bald besser, bald schlechter arrangiert und je nach dem Einsatz der Mittel und Kräfte mit einem größeren oder geringeren Aufwand hergestellt. Es versteht sich von selbst, daß die Kritik – gerade die Tageskritik – solche Unterschiede sorgfältig beachten muß, und manche Kritiker beschränken sich ja auch wirklich darauf, bei der Würdigung irgendwelcher Filme alle möglichen Einzelheiten hervorzuheben, die ihrem Geschmack entsprechen oder nicht entsprechen.

Aber in einem derartigen Verhalten, das noch dazu meistens von ganz ungeklärten Emp­findungen ausgeht, kann sich die Aufgabe des Filmkritikers dem Durchschnitt der Produktion gegenüber nie und nimmer erschöpfen. Denn so wenig die filmischen Durchschnittsleistungen als Kunstwerke gewertet zu werden verlangen, ebensowenig sind sie gleichgültige Waren, denen durch eine rein geschmackliche Beurteilung schon Genüge geschieht. Sie üben vielmehr außerordentlich wichtige gesellschaftliche Funktionen aus, die kein Filmkritiker, der diesen Namen verdient, unberücksichtigt lassen darf. […]

Gewiß befleißigen sich gerade die typischen Filme anscheinend der Tendenzlosigkeit; damit ist jedoch keineswegs gesagt, daß sie nicht mittelbar bestimmte soziale Interessen verträten. […]

Die Aufgabe des zulänglichen Filmkritikers besteht nun meines Erachtens darin, jene sozialen Absichten, die sich oft sehr verborgen in den Durchschnittsfilmen geltend machen, aus ihnen herauszuanalysieren und ans Tageslicht zu ziehen, das sie nicht selten scheuen. Er wird zum Beispiel zu zeigen haben, was für ein Gesellschaftsbild die zahllosen Filme rnitsetzen, in denen eine kleine Angestellte sich zu ungeahnten Höhen emporschwingt oder irgendein großer Herr nicht nur reich ist, sondern auch voller Gemüt. Er wird ferner die Scheinwelt solcher und anderer Filme mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu konfrontieren und aufzudecken haben, inwiefern jene diese verfälscht. Kurzum, der Filmkritiker von Rang ist nur als Gesellschaftskritiker denkbar. Seine Mission ist: die in den Durchschnittsfilmen versteckten sozialen Vorstellungen und Ideologien zu enthüllen und durch diese Enthüllungen den Einfluß der Filme selber überall dort, wo es nottut, zu brechen.

Ich habe mit Absicht nur die der Durchschnittsproduktion gegenüber gebotene kritische Einstellung behandelt. Filme, die echte Gehalte bergen, waren und sind selten. Bei ihrer Betrachtung darf natürlich der Akzent nicht allein auf der soziologischen Analyse liegen, sondern diese hat sich mit der immanent-ästhetischen zu durchdringen. Auf die Schwierigkeiten einer solchen Durchdringung kann indessen hier nicht mehr eingegangen werden.


[1] Kracauer, Siegfried, Internationaler Tonfilm?, in: Ders., Werke. Bd. 6.2: Kleine Schriften zum Film 1928–1932, hg. von Mülder-Bach, Inka, Frankfurt am Main 2004, S. 475–479; Erstveröffentlichung in: Europäische Revue, März 1931; ders., Über die Aufgabe des Filmkritikers, in: ders., Werke. Bd. 6.3: Kleine Schriften zum Film 1932–1961, hg. von Mülder-Bach, Inka, Frankfurt am Main 2004, S. 61–63; Erstveröffentlichung in: Film-Kurier, 21.05.1932; Wiederveröffentlichung in: Frankfurter Zeitung, 23.05.1932. Die Druckversion der Quelle findet sich in: Isabella Löhr, Matthias Middell, Hannes Siegrist (Hgg.): Kultur und Beruf in Europa, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, S. 122–124, Band 2 der Schriftreihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays.


Für das Themenportal verfasst von

Albrecht Götz von Olenhusen und Irmtraud Götz v. Olenhusen

( 2012 )
Zitation
Albrecht Götz von Olenhusen und Irmtraud Götz v. Olenhusen, Siegfried Kracauer – Zur Entwicklung der professionellen Filmkritik in der Weimarer Republik, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2012, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1585>.
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