Intellektuelle in Frankreich und der Bundesrepublik um 1970

Alfred Grosser brachte um 1970 alle Voraussetzungen mit, um über französische und deutsche Intellektuelle zu schreiben. In Frankfurt am Main 1925 geboren, lebte er seit der Emigration seiner Familie 1933 in Frankreich. Er wurde zuerst Germanist, wechselte bald zur Politikwissenschaft, lehrte seit 1955 an der Science Po, daneben auch an anderen der prestigereichen grandes écoles, schrieb seit 1965 regelmäßig für Le Monde und hatte schon eine ganze Reihe von französischen und deutschen Büchern über Deutschland veröffentlicht. Alfred Grosser hatte sich schon immer für die deutsch-französische Verständigung eingesetzt, war schon als junger Mann 1948 Mitglied des Comité français de relations avec l’Allemagne nouvelle und gehörte um 1970 neben Joseph Rovan und Robert Minder zu den international bekannten, französischen Brückenbauern zwischen Frankreich und Deutschland. Er erhielt 1975 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. [...]

Intellektuelle in Frankreich und der Bundesrepublik um 1970[1]

Von Hartmut Kaelble

Alfred Grosser brachte um 1970 alle Voraussetzungen mit, um über französische und deutsche Intellektuelle zu schreiben. In Frankfurt am Main 1925 geboren, lebte er seit der Emigration seiner Familie 1933 in Frankreich. Er wurde zuerst Germanist, wechselte bald zur Politikwissenschaft, lehrte seit 1955 an der Science Po, daneben auch an anderen der prestigereichen grandes écoles, schrieb seit 1965 regelmäßig für Le Monde und hatte schon eine ganze Reihe von französischen und deutschen Büchern über Deutschland veröffentlicht. Alfred Grosser hatte sich schon immer für die deutsch-französische Verständigung eingesetzt, war schon als junger Mann 1948 Mitglied des Comité français de relations avec l’Allemagne nouvelle und gehörte um 1970 neben Joseph Rovan und Robert Minder zu den international bekannten, französischen Brückenbauern zwischen Frankreich und Deutschland. Er erhielt 1975 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.[2]

Alfred Grosser zog in dem ausgewählten Buchausschnitt einen Vergleich zwischen den französischen und den deutschen Intellektuellen, die sich für ihn in der Geschichte ganz unterschiedlich entwickelt hatten. Die französischen Intellektuellen stellte er als Modell mit ihrer jahrhundertalten Tradition vor. Sie waren vor allem Schriftsteller, aber auch Künstler, Maler, Schauspieler und Filmemacher und engagierten sich in gemeinsamen Manifesten in politischen Protesten. Ihr Engagement, nicht unbedingt ihre Kompetenz spielte in der französischen Öffentlichkeit eine große historische Rolle. Allerdings stellte Alfred Grosser fest, dass die Soziologen als Gesellschaftskritiker in den 1960er-Jahren dabei waren, unter den Intellektuellen eine wachsende Rolle zu spielen.

Die deutsche Entwicklung blieb nach Grosser weit dahinter zurück. Die deutschen Intellektuellen, vor allem Schriftsteller und Wissenschaftler, hatten sich lange Zeit von der Politik ferngehalten, sei es aus Politikverachtung oder sei es aus dem Gefühl der Inkompetenz. Mit diesem Mangel an politischem Engagement und dem Rückzug in den Elfenbeinturm trugen sie, so der Vorwurf Grossers, zum Aufstieg Hitlers bei. Allerdings gab es für ihn in der Weimarer Republik ein paar Jahre lang durchaus Intellektuelle, ohne dass er Namen nennt. Seit dem Zweiten Weltkrieg änderte sich zudem die Geschichte der deutschen Intellektuellen, zuerst unter der Herausforderung der Nachkriegszeit, während der etwa die Gruppe 47 entstand, dann wieder in den 1960er-Jahren, in denen Grosser diesen Text schrieb. Grosser scheint geschwankt zu haben, ob er die damalige Übernahme politischer Ämter durch Journalisten wie Conrad Ahlers und Theo Sommer sowie durch Sozialwissenschaftler wie Ralf Dahrendorf wirklich als politisches Engagement von Intellektuellen werten sollte. Aber Schriftsteller wie Heinrich Böll und Günter Grass waren für ihn Intellektuelle ganz im Sinne des französischen Modells.

Trotzdem blieben für ihn weiterhin wichtige deutsch-französische Unterschiede bestehen. Die Intellektuellen hatten zwar in der Bundesrepublik ein gutes Auskommen, wurden aber von der Politik nicht wirklich ernst genommen und als „Pinscher“[3] oder als Hofnarren angesehen. Zwischen den deutschen Intellektuellen und den neuen sozialen Bewegungen (den „systematischen Protestlern“, wie Grosser sie nennt) kam es zudem anders als in Frankreich zum Bruch. Schließlich sah Grosser die Stärken der Kreativität der deutschen Kultur in Bereichen wie Musik, die für ihn nur wenig zur Sozialkritik beitragen kann. Er sah gleichzeitig eine Schwäche der deutschen Kultur im Film, der sozialkritisch sein kann und eine Stärke der französischen Kultur war. Das politische Engagement der Intellektuellen blieb für ihn daher auch in der Bundesrepublik schwächer als in Frankreich. Nur mit dem Kabarettisten, so Grosser, brachte die deutsche Kultur eine besondere Art des Intellektuellen hervor, die umgekehrt in Frankreich fehlte. Das Modell des politisch engagierten Intellektuellen, ein wichtiger Schutz gegen Diktatur, so schließt man insgesamt als Leser dieses Textes, setzte sich auch in der liberalen Bundesrepublik nicht wirklich durch.

Alfred Grosser schrieb diesen Text gleichzeitig für französische und deutsche Leser. Er wollte mit diesem Buch, wie er im Vorwort schrieb, gegen ein zu negatives Deutschlandbild in Frankreich und gleichzeitig gegen die bundesdeutsche Selbstzufriedenheit anschreiben. Der Text wurde von ihm zuerst auf Französisch verfasst, unter dem Titel L’Allemagne de notre temps 1970 veröffentlicht, dann ins Deutsche übersetzt und von Alfred Grosser 1974 in der deutschen Fassung noch einmal durchgesehen und ein Nachwort 1975 hinzugefügt. Er sah sich nicht genötigt den deutschen Text grundlegend zu ändern, obwohl, wie er selbst betont, sich zwischen dem Erscheinen der französischen und der deutschen Fassung viel ereignete: der Tod des französischen Präsidenten Georges Pompidou 1974, der Rücktritt des Bundeskanzlers Willy Brandt 1974, die Ölkrise 1973 und der dramatische Rückgang der europäischen wirtschaftlichen Wachstumsraten. Der Passus über die Intellektuellen war jedenfalls in der deutschen und französischen Fassung fast identisch.[4]

Alfred Grossers Darstellung der Intellektuellen war stark vom Kontext der damaligen Zeit geprägt. Die französischen Intellektuellen waren voll etabliert. Sie besaßen eine weltweite Bedeutung mit Schriftstellern wie Albert Camus, mit Philosophen wie Jean-Paul Sartre, mit französischen Filmemachern, Theaterregisseuren und Chansonniers. Der französische Intellektuelle war ein globales Modell. Selbst die Politik folgte in Frankreich diesem Modell. Der Präsident Georges Pompidou stellte sich stärker als sein Vorgänger, General de Gaulle, als ein Mann mit intellektuellen Zügen dar. Der einstige Gymnasiallehrer präsentierte seine Bildung öffentlich und orientierte sich in seinem Rede- und Schreibstil demonstrativ an dem Niveau der Intellektuellen. All das erklärt die Sicherheit und Selbstverständlichkeit, mit der Alfred Grosser das Modell des französischen Intellektuellen den deutschen Lesern präsentierte. In Deutschland überwog dagegen ein starkes Desinteresse an dem französischen Modell des Intellektuellen. Nur wenige Jahre bevor Alfred Grosser sein Buch schrieb, las man 1966 im Bertelsmann Lexikon unter dem einschlägigen Begriff nur die dürre Feststellung „Intellektuelle (frzs.), Verstandesmenschen, i.w.S. geistige Oberschicht eines Volkes“.[5] Irgendein Sensus für das französische Modell des engagierten Intellektuellen lässt sich aus diesen, in müdem Desinteresse oder in gewolltem Missverständnis geschriebenen Zeilen nicht erkennen.

Der Aufstieg der Experten überall in Europa war ein zweiter wichtiger Zug des historischen Kontextes, in dem das Buch Alfred Grossers entstand. Mit der Planungseuphorie, die in Frankreich mit der planification schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Anfang genommen hatte und in den 1960er-Jahren auch die Bundesrepublik ergriff, orientierte sich die Politik stärker an Wirtschafts- und Bevölkerungsprognosen, an der Stadt-, Bildungs- und Gesundheitsplanung. Dadurch gewannen Experten, vor allem Soziologen, Ökonomen und Politikwissenschaftler in der Öffentlichkeit einen steigenden Einfluss. Zukunftsforscher, die in der Regel Sozialwissenschaftler waren, wurden viel gelesen und gehört.

In den deutsch-französischen Beziehungen, einem dritten Kontext des Textes, bahnten sich damals ebenfalls Veränderungen an. Der Elysée-Vertrag, ein Meilenstein der deutsch-französischen Partnerschaft und damals erst rund zehn Jahre alt, hatte zwar nicht die Wirkung, die sich Präsident de Gaulle erhofft hatte. Die Präambel, die der Bundestag bei der Verabschiedung dieses Vertrages beschloss und die von der französischen Regierung als Abwertung verstanden wurde, vermied eine exklusive deutsch-französische Beziehung, die gegen die USA gerichtet war. Trotzdem besaß der Vertrag Wirkungen. Die französische und deutsche Regierung sahen sich weit regelmäßiger. Pompidou und Brandt arbeiteten in einem neuen Anlauf der europäischen Integration seit dem Gipfel von Den Haag 1969 eng zusammen. Zwar war das Misstrauen der Franzosen in die Deutschen und der Deutschen in die Franzosen nach den Umfragen um 1970 weiterhin groß. Aber es milderte sich doch ab und verschob sich dann im Verlauf der 1970er-Jahre in ein Überwiegen des Vertrauens in das Land jenseits des Rheins. Die Verfassungen, Parteien und Verbände, politischen Konflikte, Gewerkschaften und Medien blieben zwar sehr verschieden und für die jeweils andere Seite des Rheins schwer verständlich. Aber alte wirtschaftliche und soziale Kontraste in der Exportwirtschaft, in der Verstädterung, im Bildungsniveau und den Sozialausgaben schwächten sich während der 1960er-Jahre ab. Es war eine Epoche mit einer Mischung von Konvergenzen und Kontrasten, in der für die Zeitgenossen nur schwer klare Tendenzen auszumachen waren.

Vor diesem Hintergrund ist die Leistung des Textes von Alfred Grosser zu sehen. Ein Vergleich der Intellektuellen, der auf einer so intensiven Kenntnis beider Länder beruhte, war sehr selten. Seine These, dass es auch außerhalb Frankreichs und sogar in Deutschland Intellektuelle gab, besaß eine Bedeutung, die heute nicht mehr leicht zu würdigen ist. Alfred Grosser wird gewiss gewusst haben, dass das Interesse an diesem Thema auf der deutschen Seite sehr begrenzt war und versuchte aus guten Gründen, mit seiner These das deutsche Interesse an den Intellektuellen zu wecken. Den französischen Lesern wollte er gleichzeitig zeigen, dass es in Deutschland auch so etwas wie Intellektuelle gab und damit Deutschland weniger fremd war als viele Franzosen glaubten. Französische Leser konnten in den beiden wichtigsten deutschen Beispielen von Intellektuellen, die Alfred Grosser nannte, auch vertraute Züge finden: Heinrich Böll, ein linksrheinischer Katholik, der durch den Nobelpreis weltweit anerkannt worden war, und Günter Grass, mit polnischen Vorfahren, der eine Zeit in Frankreich gelebt hatte. Mit seiner These brach Grosser auch aus der hexagonalen Beschränktheit vieler französischer Darstellungen über die Intellektuellen aus. Intellektuelle als ein von Frankreich ausgehendes, aber internationales Phänomen anzusehen, war eine neue Perspektive, die erst viel später von Christophe Charle in einer systematischen Analyse der europäischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts wieder aufgenommen wurde.[6]

Auch seine mutige Kritik an der Vergangenheit der deutschen Intellektuellen hatte ihre pädagogische Seite. Sie machte ihn dem französischen Publikum glaubwürdiger, da er die Frage nach den Gründen für die Gefährlichkeit des östlichen Nachbarn aufgriff, der innerhalb von nur sieben Jahrzehnten dreimal in Frankreich eingefallen war. Er wollte zeigen, dass auch die Kernfigur des klassischen französischen Bildes vom guten Deutschen, der deutsche Philosoph, in der Form der deutschen Wissenschaftler an den Ursachen des NS-Regimes beteiligt war. Er wollte gleichzeitig den deutschen Leser aus seiner Selbstzufriedenheit und Selbstvergessenheit aufrütteln, an die dunkle Vergangenheit der Geschichte der deutschen Wissenschaftler und Schriftsteller während des NS-Regimes erinnern und diejenigen, die diese Geschichte aufarbeiteten, von außen ermutigen. Sein Argument, dass die deutschen Intellektuellen, vor allem Wissenschaftler, sich lange Zeit geweigert hatten, sich politisch zu engagieren, war eine unter den Experten schon vertretene, aber noch umstrittene These, die auf Forschungen von amerikanischen und deutschen Historikern und Politikwissenschaftlern wie Fritz Ringer, Fritz Stern und Kurt Sontheimer beruhte.[7] Aber in der breiten deutschen Öffentlichkeit war diese These noch nicht anerkannt und auch die Aufarbeitung der Rolle der deutschen Wissenschaftler in der Weimarer Republik und im NS-Regime stand überwiegend noch bevor. In den Jahrzehnten seit den 1970er-Jahren blieb das mangelnde politische Engagement der deutschen Intellektuellen und Wissenschaftler ein wichtiges Forschungsthema. Allerdings wurden auch eingehend ihre aktiven Verstrickungen in das NS-Regime und die Unterschiede zwischen den deutschen Experten und den französischen Intellektuellen untersucht.[8] Darauf wird gleich zurückzukommen sein.

Alfred Grosser spürte darüber hinaus auch sehr genau, dass sich die Intellektuellen in Frankreich veränderten, die klassischen Schriftsteller und Künstler etwas zurückgedrängt wurden, während die sozialwissenschaftlichen Intellektuellen in der Öffentlichkeit einen Aufstieg erlebten, den er vielleicht auch selbst wünschte und vorantrieb, weil er selbst eher diesem neuen Typ des Intellektuellen angehörte, der später mit Pierre Bourdieu und Michel Foucault den Weltruhm der französischen Intellektuellen erneuern sollte.[9]

Unterschiede nicht Ähnlichkeiten zwischen Frankreich und der Bundesrepublik standen im Zentrum des Vergleichs von Alfred Grosser. Beide Gesellschaften wurden als getrennte Welten vorgestellt, die man einander erklären muss. Die eigene Rolle sah Alfred Grosser darin, Brücken des Verständnisses zwischen beiden Länder zu bauen, die zu voreingenommen oder zu selbstzufrieden waren, um sich überhaupt für die andere Gesellschaft zu interessieren. Nur wenn man über Unterschiede diskutierte, hatte man eine Chance, die Mauern des Desinteresses zu durchlöchern. Eine Leistung des Textes lag darin, auf deutsch-französische Unterschiede aufmerksam gemacht zu haben, mit denen Grosser die Öffentlichkeit herausforderte und das Interesse an der anderen Gesellschaft weckte.

Aus dem Abstand von fast vierzig Jahren hat sich allerdings unser Blick auf die Themen dieses Textes verändert. Das Verhältnis von Intellektuellen und Diktaturen wird inzwischen in mehr Dimensionen diskutiert als damals von Alfred Grosser. War fehlendes politisches Engagement tatsächlich der entscheidende Unterschied zwischen französischen und deutschen Intellektuellen? Die Distanziertheit und Verachtung, die viele Wissenschaftler und Intellektuelle der Politik entgegenbrachten, war sicher eine wichtige Dimension mit verhängnisvollen Folgen in Deutschland. Es gab aber auch wichtige Wissenschaftler in Deutschland, die dem NS-Regime viel Engagement entgegenbracht hatten – Philosophen wie Martin Heidegger, Juristen wie Carl Schmitt, Historiker wie der damals junge Werner Conze. Ein verfehltes, politisch kurzsichtiges oder blindes Engagement wiesen auch die deutschen Wissenschaftler auf, die 1914 die sogenannte Erklärung der Hundert unterschrieben. Diese Erklärung ähnelte in der Form sogar den Manifesten der klassischen engagierten französischen Intellektuellen. Nicht nur gegenüber dem Ersten Weltkrieg und dem NS-Regime engagierten sich deutsche Intellektuelle in verhängnisvoller Weise. Auch gegenüber den kommunistischen Diktaturen waren manche engagierte deutsche Intellektuelle blind, in der Zwischenkriegszeit ebenso wie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Vor solchem fehlgeleiteten Engagement waren umgekehrt auch französische Intellektuelle keineswegs gefeit. Nur wenige französische Intellektuelle stützten das NS-Besatzungsregime, aber viele engagierten sich während und direkt nach dem Zweiten Weltkrieg für den sowjetischen Kommunismus und waren zeitweise blind für die Verbrechen des Stalinismus. Freilich sahen die französischen kommunistischen Intellektuellen die Gefahren des Stalinismus doch eher als die deutschen Intellektuellen. Die wohl heftigsten Kontroversen unter französischen Intellektuellen brachen über Kommunismus und Stalinismus aus. Der Unterschied zwischen französischen und deutschen Intellektuellen lag daher wohl nicht allein im französischem politischem Engagement und deutscher Politikverachtung, sondern eher in der größeren Sensibilität der französischen Intellektuellen für die Gefahren von Diktaturen und Krieg.

Die Veränderungen der Intellektuellen, die Alfred Grosser in den 1960er-Jahren schon scharfsinnig aufspürte, sind inzwischen ein klarer Trend geworden. In den europäischen Gesellschaften bestehen seit damals zwei Typen von Intellektuellen nebeneinander: Einerseits der Intellektuelle als Generalist, als Schriftsteller, Künstler oder Philosoph, der nicht Experte in einem Fachgebiet ist, sich in der Politik aber engagiert und dabei oft in einer Gruppe agiert, die Manifeste verfasst, eigene Zeitschriften oder Buchreihen hält, sich in besonderen Cafés, Restaurants oder Ferienorten trifft, vielleicht sogar in bestimmten Stadtvierteln zusammenlebt, einen eigenen Lebensstil entwickelt; und andererseits der Intellektuelle als Experte, der in seinem Fachgebiet – sei es der Biologie, sei es der Physik, sei es den Sozialwissenschaften, sei es der Geschichte – Experte ist, sich darüber hinaus politisch engagiert und publiziert, manchmal auch politische Ämter übernimmt, aber meist eher Einzelgänger bleibt und sich nicht mit einem bestimmten Lebensstil profiliert. Alfred Grosser beobachtete das neue Nebeneinander dieser beiden Typen von Intellektuellen im Frankreich der 1960er-Jahre. Für diese sozialwissenschaftlichen Intellektuellen spielten der Beruf und die berufliche Qualifikation eine wichtigere Rolle als für die andere Gruppe von Intellektuellen, die Schriftsteller oder Künstler. Die sozialwissenschaftlichen Intellektuellen konnten beanspruchen, durch ihren Beruf einen besonderen Zugang zum Wissen von der Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zu besitzen. Damit wurden auch die Intellektuellen vom Prozess der Verberuflichung erreicht, der sich in den akademischen Berufen und in vielen Berufen der Wirtschaft schon im 19. Jahrhundert durchgesetzt hatte. Ähnlich spät setzte sich diese Verberuflichung auch im Gegenpart der Intellektuellen in der Öffentlichkeit, unter den Politikern, durch.

In diesem Nebeneinander von zwei Typen von Intellektuellen gehen zudem gleichzeitig französische und deutsche Wurzeln des Intellektuellen ein. Der Intellektuelle als Generalist findet sich immer auch in Deutschland, hat aber stärkere französische Wurzeln; der Intellektuelle als Experte findet sich auch in Frankreich, hat aber stärkere deutsche Wurzeln, da es in Deutschland schon im langen 19. Jahrhundert häufig Experten waren, die sich öffentlich engagierten und öffentlich Einfluss gewannen – Mediziner wie Rudolf Virchow, Juristen wie Hugo Preuß, Historiker wie Theodor Mommsen, Sozialwissenschaftler wie Max Weber.

Das führt zu einem anderen Blick auf den französisch-deutschen Vergleich, der heute allmählich zu überwiegen beginnt. Der Blick ausschließlich auf die Unterschiede, den Alfred Grosser wählte, ergab sich für die Zeitgenossen der 1960er-Jahre gleichsam automatisch. Er war verständlich, nachdem Frankreich und Deutschland nicht nur in drei Kriegen auf unterschiedlichen Seiten gestanden hatten, sondern auch eine ganz andere Industrialisierung, Verstädterung, Entwicklung der Nation, des kolonialem Imperiums und der Bildung erlebt hatten und dadurch der Dialog zwischen den beiden Ländern schwierig geworden war. Der Blick von heute dagegen ist auch geprägt von jahrzehntelanger Zusammenarbeit in der europäischen Integration, von der Erfahrung einer gemeinsamen Prosperität während der 1950er- und 1960er-Jahre, von der danach folgenden gemeinsamen Erfahrung der Ölkrise, der Inflation und der Arbeitslosigkeit, auch der gemeinsamen Erfahrung des Kalten Kriegs (wenn auch für die Ostdeutschen nicht auf derselben Seite). Dadurch öffnete sich der Blick für die Gemeinsamkeiten und parallelen Entwicklungen, der heute auch die historische Literatur eher prägt.[10] Gleichzeitig verloren die deutsch-französischen historischen Unterschiede ihre gleichsam magische, intellektuelle Anziehungskraft, die sie noch in den 1960er-Jahren besaßen.

Der Text von Alfred Grosser über die Intellektuellen bringt den heutigen Leser, wenn er sich in ihn hinein vertieft, immer noch zum Nachdenken. Auch wenn der Text nicht mehr die intellektuelle Frische wie damals besitzt, kann man doch noch erkennen, wie mutig, scharfsinnig und gleichzeitig gekonnt herausfordernd dieser Text für die französischen ebenso wie für die deutschen Leser war.



[1] Essay zur Quelle: Alfred Grosser: Die Intellektuellen (1976). Die Druckversion des Essays findet sich in: Isabella Löhr, Matthias Middell, Hannes Siegrist (Hgg.): Kultur und Beruf in Europa, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, S. 287–296, Band 2 der Schriftreihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays.

[2] Vgl. Grosser, Alfred, Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz, Reinbek 2011; Rovan, Josef, Erinnerungen eines Franzosen, der einmal ein Deutscher war, München 2000; Kwaschik, Anne, Auf der Suche nach der deutschen Mentalität. Der Kulturhistoriker und Essayist Robert Minder, Göttingen 2008.

[3] Grosser, Alfred, Geschichte Deutschlands seit 1945. Eine Bilanz, München 1974, S. 359–362.

[4] Grosser, Alfred, L’Allemagne de notre temps, Paris 1970, S. 444–447. Allerdings fehlt der Schlusssatz der französischen Version, den er wohl dem deutsche Leser nicht zumuten zu können glaubte, obwohl er seinem eigenen Verständnis von einem Intellektuellen sehr nahe kam: „Il est vrai que les intellectuels veulent exercer une influence et il ferait beau voir qu’on agisse par rire comme un quelconque Voltaire.“

[5] Art. „Intellektuelle“, in: Das Bertelsmann Lexikon 3 (1966), S. 1211.

[6] Charle, Christoph, Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1996; vgl. auch Bachoud, Andrée; Cuesta, Josefina; Trebitsch, Michel (Hgg.), Les intellectuels et l’Europe, Paris 2000.

[7] Stern, Fritz, The Politics of Cultural Despair. A Study in the Rise of the Germanic Ideology, Berkeley 1961; Sontheimer, Kurt, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962; Ringer, Fritz, The Decline of the German Mandarins, Cambridge 1969.

[8] Vgl. Lepenies, Wolf, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München 1985; Bering, Dietz, Die Epoche der Intellektuellen 1898–2001. Geburt, Begriff, Grabmal, Berlin 2010; Bock, Hans Manfred, Der Intellektuelle als Sozialfigur. Neuere vergleichende Forschungen zu ihren Formen, Funktionen und Wandlungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011), S. 591–643; Brunkhorst, Hauke, Der Intellektuelle im Land der Mandarine, Frankfurt am Main 1987; Dahrendorf, Ralf, Engagierte Beobachter. Intellektuelle in ihrer Zeit, Wien 2005; Geyer, Michael (Hg.), The Power of Intellectuals in Contemporary Germany, Chicago 2001; Gilcher-Holtey, Ingrid, Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen, Weilerswist 2007; Grunewald, Michael et al. (Hgg.), Frankreich und Deutschland im 20. Jahrhundert. Akademische Wissensproduktion über das andere Land, Bern 2011; Hübinger, Gangolf, Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006; Lepsius, Rainer M., Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990; Morat, Daniel, Intellektuelle und Intellektuellengeschichte. Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 20.11.2011, URL: <https://docupedia.de/zg/Intellektuelle_und_Intellektuellengeschichte?oldid=80818> (01.11.2013); Mommsen, Wolfgang J. (Hg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996; Müller, Jan Werner, Contesting Democracy. Political Ideas in the Twentieth Century Europe, New Haven 2011; Oberloskamp, Eva, Fremde neue Welten. Reisen deutscher und französischer Linksintellektueller in die Sowjetunion 1917–1939, München 2011; Strickmann, Martin, L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle. Die französischen Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944–1950. Diskurse, Initiativen, Biografien, Frankfurt am Main 2004; Winock, Michel, Das Jahrhundert der Intellektuellen, Konstanz 2003.

[9] Vgl. seine Selbstzuordnung vierzig Jahre später: Grosser, Die Freude und der Tod, S. 41.

[10] Vgl. für diesen Blick ein Handbuch über die Zeit, in der Alfred Grosser diesen Text schrieb: Miard-Delacroix, Hélène, Deutsch-französische Geschichte. 1963 bis in die Gegenwart, Darmstadt 2011.



Literaturhinweise

  • Bock, Hans, Der Intellektuelle als Sozialfigur. Neuere vergleichende Forschungen zu ihren Formen, Funktionen und Wandlungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 51 (2011), S. 591–643.
  • Grosser, Alfred, Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz, Reinbek 2011.
  • Müller, Jan Werner, Contesting Democracy. Political Ideas in the Twentieth Century Europe, New Haven 2011.

Alfred Grosser: Die Intellektuellen (1976)[1]

Die Intellektuellen, die in der Zeit der Prüfung unmittelbar nach dem Kriege sehr deutlich in Erscheinung traten, wurden später [in der Bundesrepublik, H. K.] zu Außenseitern in einer satten und ideologisch allzu einigen Gesellschaft.

Außer während einiger Jahre der Weimarer Republik hat Deutschland jedenfalls niemals den Begriff des Intellektuellen im selben Sinne wie Frankreich gekannt. Seit eh und je waren das geistige Leben und die wirtschaftliche und politische Entwicklung getrennt. Aus Hochmuth oder Unverständnis haben die deutschen Intellektuellen immer dazu tendiert, sich vom politischen Leben fernzuhalten. Die Schriftsteller machten sich bereitwillig auf die Suche nach dem „ewig Menschlichen“, ohne sich um die zweifellos vergänglichen, doch gewiß wichtigen Realitäten zu kümmern. Die Gleichgültigkeit der Universitäten, die sich in ihrem Elfenbeinturm der reinen Wissenschaft verschanzten, hat nicht wenig dazu beigetragen, Hitlers Aufstieg zur Macht zu erleichtern. Welche Meinung man auch immer haben mag vom Begriff des Engagements oder von der Kompetenz (oder Inkompetenz) der Intellektuellen in politischen Dingen, jedenfalls nahmen sie im deutschen öffentlichen Leben im Allgemeinen einen geringeren Platz ein als ihre französischen Kollegen.

In den 1950er-Jahren gab es eine Evolution zu einer Art moralischen Ordnung, wobei die Vorstellung von einer zu schaffenden besseren Ordnung, die das deutsche Denken seit dem Verhängnis beherrscht hatte, vor dem Gedanken zurückzutreten schien, daß eine Ordnung zu erhalten und zu verteidigen sei, und sei es auch gegen die Kritik. Die Intellektuellen mußten sich gegen den Vorwurf wehren einen „zersetzenden“ Einfluß auszuüben. Voll Zorn griff Bundeskanzler Erhard die „Pinscher“ an, die sich an ihn heranwagten.

Aber schon damals, das heißt um die Mitte der 1960er-Jahre, war wieder die Zeit der Unsicherheiten und Prüfungen gekommen. Sie verlieh denen wieder Kraft und Prestige, die von Berufs wegen nachdenken und in Frage stellen. Nicht, daß sie sich jemals schrecklich zu beklagen gehabt hätten: selbst in der konservativsten Periode der Bundesrepublik ermöglichten die Wochenblätter, Zeitschriften, Taschenbücher und vor allem Rundfunk und Fernsehen vielen Kritikern des Lebensstils der Umwelt, gehörig teilzuhaben an dem Komfort, dessen Missbräuche sie anprangerten. Die mutigen und ihrer sozialen Verantwortung bewußten Schriftsteller der „Gruppe 47“ um Hans Werner Richter verstanden es zugleich, fest zusammenzuhalten, um ihre individuelle und kollektive Reputation zu heben, so daß sie zeitweise die allgegenwärtigen Repräsentanten der neuen deutschen Kultur zu sein schienen. Allerdings mußten sie sich auch sagen, daß die politische Gesellschaft sie vielleicht duldete, die Hofnarren ohne Bedeutung.

Gegen Ende der 1960er-Jahre und insbesondere unter der Regierung Brandt machte sich ein doppeltes Phänomen bemerkbar. Einerseits wurde der Bruch zwischen den systematischen Protestlern und den liberalen Intellektuellen immer deutlicher. Andererseits nahm die unmittelbare Teilnahme von Intellektuellen an der institutionalisierten politischen Tätigkeit zu, und die beiden Entwicklungen förderten sich gegenseitig. Ende 1966 verließ Konrad Ahlers den Spiegel und wird stellvertretender Regierungssprecher. Anfang 1970 gibt Theo Sommer seinen Posten in der Zeit für ein halbes Jahr auf, um für den Verteidigungsminister Helmut Schmidt ein Planungsbüro zu leiten. Zur Zeit ist der Spiegel die kräftige Stütze einer Regierung geworden, in der so erklärte Kritiker der Deutschen Gesellschaft wie Ralf Dahrendorf bis zu seinem Abgang nach Brüssel und Klaus von Dohnanyi eine Rolle spielen.

Zwei Journalisten, ein Soziologe, ein Jurist: handelt es sich wirklich um Intellektuelle? Alles hängt von den Definitionen ab, und die Definitionen wiederum hängen von den Realitäten des gesellschaftlichen Lebens ab, zu dem das kulturelle Leben gehört. Jahrhundertelang war der Intellektuelle in Frankreich vor allem der engagierte Schriftsteller, ob er sich in seinem Werk engagierte oder außerhalb dessen. Wenn man als Intellektuelle diejenigen ansieht, die sich als Unterzeichner politischer, im allgemeinen protestlerischer Manifeste als solche bezeichnen, dann kamen noch die Künstler dazu, angefangen mit den Malern bis zu den Filmregisseuren und Schauspielern. Allmählich haben die Schriftsteller in ihrer Rolle als Gesellschaftskritiker den Soziologen den Vortritt gelassen.

Dieser Wandel macht sich auch in der Bundesrepublik bemerkbar, wo die Generation der Schriftsteller, die wohl in der Literatur verfaßten, in den Hintergrund tritt, ohne daß es einen wirklichen Ersatz für sie gibt, obwohl ein Günter Grass die Nachfolge und die Erweiterung eines Heinrich Böll bedeutet (wenn auch der Nobelpreis von 1972 in Heinrich Böll den weltbekanntesten lebenden deutschen Schriftsteller belohnte, dessen politisches Engagement, insbesondere an der Spitze des PEN-Klubs, immer im Namen der Grundfreiheiten stattfand), während die Sozialwissenschaften die Literatur ablösen. Aber die Schwerpunkte und die Schwächen der kulturellen Produktion sind nicht dieselben wie in Frankreich, was dazu führt, daß Prestige und Einfluß unterschiedlich sind. Denn das Gebiet, auf dem Deutschland in der Nachkriegszeit die größte Kreativität bewies, ist am wenigsten geeignet, einen sozialen Gedanken unmittelbar auszudrücken, und zwar die Musik. Dagegen ist der westdeutsche Film nicht über Mittelmäßigkeit hinaus gelangt: die große Weimarer Zeit ist nur eine Erinnerung, und die besten Filme, die man seit einem Vierteljahrhundert in deutschen Kinos sieht, sind im allgemeinen amerikanische, italienische und französische. Und in den prächtigen Theatern, vor einem Publikum, das bereit ist, der Avantgarde Beifall zu spenden, sind Stücke von deutschsprachigen Autoren nach wie vor rar, die beiden bedeutendsten sind Bertolt Brecht und Friedrich Dürrenmatt, und der eine gehört dem anderen Deutschland und der andere der Schweiz.

Die einzige Theatergattung, in der sich Deutschland zumindest seit Kriegsende auszeichnet, ist indes ganz unmittelbar politisch. Die Kabaretts in Berlin, München, Düsseldorf, Hamburg und Köln bieten satirisches, intelligentes, aggressives, gute inszeniertes, gut gespieltes und gesungenes Theater, das nur eine entfernte Ähnlichkeit mit den Darbietungen Pariser Chansonnier hat, die darauf aus sind, einem betuchten Publikum zu gefallen. Man findet hier eine ebenso scharfsinnige Analyse wie bei den Romanschriftstellern, Soziologen und Leitartiklern, und dazu noch jenen Humor, an dem es dem gesamten intellektuellen Leben, in Deutschland wie in Frankreich, so beklagenswert gebricht.


[1] Grosser, Alfred, Geschichte Deutschlands seit 1945. Eine Bilanz, München 1974, S. 359–362. Die Druckversion der Quelle findet sich in: Isabella Löhr, Matthias Middell, Hannes Siegrist (Hgg.): Kultur und Beruf in Europa, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, S. 294–296, Band 2 der Schriftenreihe Euro-päische Geschichte in Quellen und Essays.


Für das Themenportal verfasst von

Hartmut Kaelble

( 2013 )
Zitation
Hartmut Kaelble, Intellektuelle in Frankreich und der Bundesrepublik um 1970, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2013, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1625>.
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