Europas Griff nach den Sternen. Das Weltraumlabor Spacelab, 1973-1998

„In these troubled times, when our newspapers are full of reports of violence and tragedy, it is reassuring to be able to draw attention to human achievements.” Mit diesen Worten kommentierte der damalige Generaldirektor der europäischen Weltraumagentur ESA (European Space Agency), Erik Quistgaard, im November 1981 in Bremen die Übergabe des ersten, in Europa hergestellten Weltraumlabors an die transatlantischen Partner der NASA (National Aeronautics and Space Administration). „For the last eight years, hundreds of people of different nationalities have been working together to develop Europe’s manned re-usable laboratory, Spacelab. We, in ESA, as driving force behind the programme, are proud to have been associated with them and, by encouraging the development of the very advanced technology needed for this programme, feel we have contributed, in our own specialised field, to forging closer ties between European countries.” [...]

Europas Griff nach den Sternen. Das Weltraumlabor Spacelab, 1973–1998

Von Tilmann Siebeneichner

„In these troubled times, when our newspapers are full of reports of violence and tragedy, it is reassuring to be able to draw attention to human achievements.” Mit diesen Worten kommentierte der damalige Generaldirektor der europäischen Weltraumagentur ESA(European Space Agency), Erik Quistgaard, im November 1981 in Bremen die Übergabe des ersten, in Europa hergestellten Weltraumlabors an die transatlantischen Partner der NASA (National Aeronautics and Space Administration). „For the last eight years, hundreds of people of different nationalities have been working together to develop Europe’s manned re-usable laboratory, Spacelab. We, in ESA, as driving force behind the programme, are proud to have been associated with them and, by encouraging the development of the very advanced technology needed for this programme, feel we have contributed, in our own specialised field, to forging closer ties between European countries.”[1]

Das Space Shuttle, der erste wiederverwendbare und wie ein Flugzeug zu manövrierende Raumtransporter, der zwischen 1981 und 2011 im Einsatz war, ist längst zu einer modernen Ikone avanciert.[2] Für das Spacelab, ein modulares Raumlabor zur Durchführung wissenschaftlicher Experimente und Beobachtungen in der Schwerelosigkeit, das im selben Zeitraum und als komplementärer Bestandteil des Shuttles entwickelt wurde, gilt das hingegen nur bedingt. Obwohl es von den Elektro-Pop-Pionieren Kraftwerk besungen wurde, zu einem populären Gesellschaftsspiel avancierte und als Gegenstand einer Briefmarke zu den auflagenstärksten Postwertzeichen einer bis zum Ende der 1980er-Jahre gebräuchlichen Dauermarkenserie der Deutschen Post zählte, ist das Weltraumlabor heutzutage wohl nur noch den Experten und Weltraumenthusiasten ein Begriff.[3] Dabei illustriert insbesondere die ihm gewidmete Briefmarke, welche hochfahrenden Hoffnungen sich noch in den 1970er-Jahren mit seiner Entwicklung in Europa verbanden. Versteht man Briefmarken als „kulturelle Visitenkarten“ (Friedrich Lauring), die bestimmte, für ein Gemeinwesen konstitutive Ideen und Orientierungen transportieren, bekräftigt die dem Spacelab gewidmete Marke die eingangs zitierten Worte Quistgaards: das Weltraumlabor stellte eine „menschliche Leistung“ dar, die im Gegensatz zur krisengeschüttelten Gegenwart Frieden, Fortschritt und nationenübergreifende Einigkeit versprach.[4] Als vielfältig nutzbare und wiederverwendbare Forschungsplattform, die von Astronauten aus so unterschiedlichen Ländern wie Deutschland, Italien, Frankreich, der Schweiz, den Niederlanden, Kanada und Japan genutzt werden sollte, verkörperte es die friedliche und multilaterale Erschließung des Weltraums, für die die europäische Weltraumgemeinschaft seit ihrer Gründung eintrat.[5]



Briefmarke „Das Weltraumlabor“ (1975)[6]


Wie die die Briefmarke andeutet, war man insbesondere in Deutschland überzeugt, am „technologisch fortschrittlichsten Raumfahrtprojekt der Zukunft teilzunehmen“.[7] Immerhin eröffnete die Entwicklung und Indienstnahme des Spacelabs der europäischen Weltraumgemeinschaft auch die historische Möglichkeit, erstmalig „jene Seite der Raumfahrt in der Praxis kennenzulernen, die bisher allein Amerikanern und Sowjets vorbehalten war und die – zumindest in den Augen der breiten Öffentlichkeit – die spektakulärste Seite der Raumfahrt“ darstellt[8]: die bemannte Raumfahrt. Welche konkreten sozialen, technologischen und wirtschaftlichen Vorteile sich aus dem Weltraumlabor ergaben, wurde selten differenzierter erörtert; die gesellschaftliche Relevanz des Spacelabs läge vielmehr auf der Hand, erklärte etwa der damalige Staatsekretär und spätere Bundesforschungsminister Volker Hauff im März 1977.[9] Häufig wurden in diesem Zusammenhang die deutschen „Väter der Raumfahrt“ Hermann Oberth und Wernher von Braun zitiert, die dem Aufbruch ins Weltall eine nachgerade existentielle Bedeutung zuschrieben, wenn sie ihn mit dem Aufbruch Christoph Kolumbus‘ verglichen und die Grenzenlosigkeit menschlichen Forscherdranges beschworen.[10]

Weil das Spacelab zwischen 1983 und 1998 jedoch nur 16 Missionen (statt der in den 1970er-Jahren noch prognostizierten mindestens 200 Missionen) absolvierte,[11] wird es im Folgenden vor allem als politisches Projekt diskutiert: Entwicklung und Bau der bis dahin „aufwendigsten Forschungsplattform für den Weltraum“ stellten den Versuch dar, Europas Leistungsfähigkeit auf einem vielfach als „Schrittmacher-“ bzw. „Schlüsseltechnologie“ begriffenem Feld unter Beweis zu stellen.[12] Wie die eingangs zitierten Worte des ESA-Generaldirektors zeigen, versprach man sich davon einerseits, die vielbeschworene „Eurosklerose“ der 1970er-Jahre aufzubrechen und dem ins Stocken geratenen europäischen Einigungsprozess neue Impulse zu verleihen. Die von Quistgaard hervorgehobene, erfolgreiche Kooperation verschiedenster Nationen des Kontinents unterstrich andererseits die Absicht, Europa nach außen hin als gleichberechtigten Partner der USA im Konzert der Großmächte zu profilieren; nicht zuletzt hatte die Europäische Gemeinschaft im Dezember 1973 in einem „Dokument über die Europäische Identität“ kundgetan, zukünftig eine „aktive Rolle“ in der Weltpolitik einnehmen zu wollen.[13]

Wie die dem Weltraumlabor gewidmete Briefmarke andeutet, war Europas Raumfahrtpolitik im Space Age vielfach noch von nationalen Interessen überlagert und durchdrungen.[14] So unterschlägt sie, dass „Europas Einstieg in die bemannte Raumfahrt“ nur durch eine enge Kooperation mit den Vereinigten Staaten möglich wurde. Tatsächlich zeigt die Briefmarke nicht nur das als solches auch genannte Weltraumlabor, sondern das Space Transportation System, zu dem neben dem Spacelab auch das (gleichfalls auf der Marke zu sehende) Space Shuttle zählte. In der Praxis war das unter europäischer Regie entwickelte und gebaute Spacelab allein nicht flugfähig; vielmehr war es von Anfang an auf die ausschließliche Nutzung in der Ladebucht des unter amerikanischer Regie entwickelten und gebauten Space Shuttles ausgelegt. Das auf der Briefmarke zu sehende Motiv ist weitgehend einem Entwurf der amerikanischen Weltraumbehörde NASA aus den frühen 1970er-Jahren nachempfunden,[15] weist jedoch einen bemerkenswerten Unterschied auf: In der NASA-Zeichnung ist das Spacelab mit der Beschriftung ESRO (European Space Research Organisation; dem organisatorischen Vorläufer der ESA) versehen, auf dem Heckleitwerk des Shuttles kann man den Schriftzug NASA erkennen. Diese Hoheitsbezeichnungen, die die verschiedenen Komponenten des Space Transportation System den unterschiedlichen Raumfahrtbehörden zuordnen, fehlen auf der deutschen Briefmarke. Nicht nur wurde auf diese Weise die enge Kooperation mit dem transatlantischen Partner unterschlagen; das Weltraumlabor, das zwar weitgehend in Deutschland hergestellt wurde, nichtdestotrotz ein Gemeinschaftsprojekt der europäischen Weltraumgemeinschaft war, konnte ohne entsprechendes Hintergrundwissen damit leicht für ein ausschließlich deutsches Produkt gehalten werden.

Tatsächlich findet sich das europäische Weltraumlabor als Motiv auch auf einer Reihe Briefmarken anderer, insbesondere auch außereuropäischer Nationen wieder, hier jedoch entweder anlässlich des Erstfluges des Space Shuttles 1981 oder anlässlich des Ersteinsatzes des Spacelabs 1983.[16] Dass die Bundesrepublik ihm bereits zwei Jahre nach dem Abschluss eines Intergovernmental Agreement (IGA), das die Zusammenarbeit zwischen den Raumfahrtbehörden der USA und Europas besiegelte,[17] aber ganze sechs Jahre vor dem erfolgreichen Erstflug des Space Shuttles und sogar acht Jahre vor dem erstmaligen Einsatz des Spacelabs eine Briefmarke widmete, verweist auch auf die tragende und treibende Rolle, die sie im Rahmen dieses Projektes einnahm. So war sich die europäische Weltraumgemeinschaft in den frühen 1970er-Jahren keineswegs einig, ob und in welcher Form sie auf das Angebot der Amerikaner reagieren sollten, sich am sogenannten Post-Apollo-Projekt (PAP) zu beteiligen, das infolge der erfolgreichen Mondlandungen lanciert wurde und mittels Raumtransporter und Raumstation auf eine dauerhafte Präsenz im Weltraum abzielte.[18] Während die Bundesrepublik am entschiedensten eine enge Kooperation mit dem transatlantischen Partner befürwortete und sie als zwingend notwendige Voraussetzung für die Fortentwicklung der europäischen Raumfahrt betrachtete,[19] artikulierte sich der größte Widerstand gegen eine allzu enge Bindung an die USA in Frankreich, das stattdessen die (Weiter-)Entwicklung einer europäischen Trägerrakete befürwortete, um Europa einen zwar unbemannten, aber autonomen Zugang zum Weltraum zu ermöglichen.[20] Auf der europäischen Weltraumkonferenz, die im Dezember 1972 in Brüssel stattfand, einigte man sich schließlich auf einen Kompromiss zwischen den beiden führenden Weltraumnationen Europas. Während das später auf ARIANE getaufte Trägerprojekt LIIIS beschlossen und unter Federführung Frankreichs betrieben werden sollte, entschied man sich zugleich für die Beteiligung am Post-Apollo-Programm in Form des Spacelabs, bei der wiederum die Bundesrepublik die Federführung übernahm.[21]

Außer Irland und Schweden waren alle Mitgliedsstaaten der ESA an Entwicklung und Bau des Spacelabs beteiligt – hinzu kam Österreich als einziges Nicht-Mitgliedsland –, wobei die Bundesrepublik mit 55 Prozent den Hauptanteil aller Kosten übernahm, gefolgt von Italien (15,6 Prozent), Frankreich (10,3 Prozent) und Großbritannien (6,5 Prozent). Mehr als 40 Firmen waren europaweit in das Projekt involviert, als Hauptauftragnehmer fungierte die in Bremen ansässige VFW-Fokker/ERNO, wo das Weltraumlabor montiert und im November 1981 schließlich an die amerikanischen Partner übergeben wurde. Allein bei seinem Erstflug vom 28. November bis 8. Dezember 1983 trug das Spacelab mit seinen 71 Experimenten vom Gewicht her mehr Instrumente an Bord als alle bisherigen ESRO/ESA-Satelliten zuvor.[22] Noch nie waren so viele Experimente während eines einzigen Raumfluges unternommen worden. Und mit deutschen Nutzlast-Spezialisten Ulf Merbold an Bord war offiziell zugleich Europas Einstieg in die bemannte Raumfahrt gelungen.[23] Wie vor ihm bereits Juri Gagarin oder Neil Armstrong wurde Merbold infolge seiner Mission als Pionier gefeiert und eingeladen, „gekrönte Häuser, Präsidenten, Rathäuser, Minister und traditionsreiche, wissenschaftliche Institutionen“ zu besuchen. Und wie diese Pioniere vor ihm, wurde auch Merbold nicht müde, die „grandiose Erweiterung des Horizonts“, nicht nur seines persönlichen, sondern der bemannten Raumfahrt insgesamt, zu betonen.[24]

Zwar war mit der Premiere des Spacelabs die bis dahin „technisch anspruchsvollste [Mission] seit Beginn der bemannten Raumfahrt“ durchgeführt worden, bei der es um nicht weniger als um „die Zukunft“ und „den Frieden“ gehe, wie Bundeskanzler Helmut Kohl im Anschluss betont hatte.[25] Gleichwohl bestand auf wissenschaftlicher Seite konkret wenig Interesse am neuen Weltraumlabor. Hier war man vor allem an experimentelle Messreihen interessiert, die sich aufgrund der geringen Flugfrequenz des Space Shuttles jedoch kaum realisieren ließen. Trotz des breiten öffentlichen Interesses – die ARD hatte in Florida eigens ein Spacelab-Sonderstudio eingerichtet, das von der Mission berichtete – schwand schon bald nach dem erfolgreichen Erstflug die Euphorie um Europas Einstieg in die bemannte Raumfahrt. Zwar wurde Merbold postwendend für seine Verdienste um den „ersten Schritt Deutschlands und Europas in die bemannte Raumfahrt“ mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet,[26] gleichwohl mehrten sich kritische Stimmen in Europa, aber auch in Deutschland.[27] Für „nutzlos und teuer“ befand die ZEIT Europas „Blechdose im All“ (Reimer Lüst) und der Spiegel sah Europa mit der Rolle des „Lieferanten unbedeutender Komponenten abgespeist“.[28] Hatte man in Europa gehofft, sich mit der Entwicklung des Weltraumlabors als bedeutender Techniklieferant profilieren zu können, schien es mit dem angestrebten Prestige-Gewinn jedoch nicht weit her zu sein, wenn Ulf Merbold bemerken musste, dass „die meisten Amerikaner überhaupt nicht wussten, dass die Europäer das Spacelab gebaut und geliefert hatten“.[29]

Dieser Eindruck mag auch durch die im IGA getroffenen Vereinbarung entstanden sein, wonach das Spacelab, dessen Entwicklung und Herstellung die ESA etwa 800 Millionen Dollar gekostet hatte, nach seinem Erstflug in den Besitz der NASA übergehen würde.[30] Im Gegenzug war der ESA eingeräumt worden, dass einer ihrer Astronauten am Erstflug des Spacelabs teilnehmen durfte; weitere Spacelab-Einsätze wurden der europäischen Raumfahrtbehörde jedoch nicht garantiert und musste fortan zu den üblichen NASA-Konditionen und Kosten beantragt werden. Aufgrund der unerwartet langwierigen Wartungsarbeiten nach jedem Flug konnte das Shuttle statt der ursprünglich geplanten 60 Flügen pro Jahr de facto nur zehn Flüge pro Jahr unternehmen, die unter Ronald Reagans Ägide in den 1980er-Jahren zudem vielfach der Strategic Defense Initiative gewidmet wurden.[31] Dass dabei auch immer wieder auf das Spacelab zurückgegriffen wurde, war im IGA zwar nicht ausgeschlossen worden, sorgte jedoch für nicht unerhebliche Verstimmung innerhalb der europäischen Weltraumgemeinschaft, die weiterhin für eine ausschließlich friedliche Nutzung des Weltraums eintrat.[32] Und nicht zuletzt bedeutete die Explosion des Space Shuttles Challenger im Januar 1986 einen empfindlichen Rückschlag für die bemannte Raumfahrt insgesamt, der zur Folge hatte, dass auch das Spacelab-Programm für mehrere Jahre auf Eis gelegt wurde.[33] Zwar bewies das Weltraumlabor seine Leistungsfähigkeit, indem es, obwohl nur auf eine zehnjährige Lebensdauer ausgelegt, bis 1998 im Einsatz war; dabei kam es jedoch auf nur 181 Tage im All. Während dieser Zeit wurde es von 110 Astronauten genutzt, die insgesamt 720 Experimente an Bord durchführten.[34]

Diese, gemessen an den Erwartungen der 1970er-Jahre, magere Bilanz macht deutlich, in welchem Maße Europas Einstieg in die bemannte Raumfahrt ein Prestige-Projekt war, zumal in Deutschland. „Bemannte Raumfahrt tut offenbar not, egal, was sie kostet“, schrieb der Spiegel über eine Weltraumlobby, gegen die im Deutschland der 1980er-Jahre niemand ankäme,[35] während man ESA-intern über „Europas teuerstes Geschenk an das amerikanische Volk seit der Freiheitstatue“ spottete.[36] In beträchtlichem Maße hatte tatsächlich die enge Bindung an den großen transatlantischen Partner dazu beigetragen, dass das Potential des Spacelab nicht wie geplant entfaltet und genutzt werden konnte, während Europas ARIANE-Rakete zeitgleich zum erfolgreichsten Träger der Welt avancierte.[37] Hier wie da ging es darum, möglichst vielseitig verwendbare „Schrittmachertechnologien“ von Weltrang für eine möglichst breite Interessentenbasis zu entwickeln. Was mit ARIANE gelang, blieb beim Spacelab jedoch Wunschdenken. Dennoch sah sich die Bundesrepublik in der Folge in eine „internationale Führungsposition“ auf dem Gebiet der außerirdischen Laborforschung gelangt und rühmte sich, mit dem „Wissenschaftsastronauten“ Merbold den Prototypen einer neuen Raumfahrergeneration hervorgebracht zu haben.[38]

Dass insbesondere Deutschland immer wieder den Eindruck erweckte, als betrachtete es das Spacelab als Bestandteil seines nationalen Raumfahrtprogrammes, und die Nutzung des Spacelabs tatsächlich zu ungefähr gleichen Anteilen unter nationalen Vorzeichen betrieben wurde wie unter denjenigen der ESA, hing jedoch auch damit zusammen, dass es die europäische Weltraumgemeinschaft im Vorfeld versäumt hatte, im Einvernehmen mit allen Mitgliedstaaten ein gemeinsames Nutzungsprogramm zu entwickeln.[39] Dennoch galt die ESA in den 1980er-Jahren als Musterbeispiel für die technisch-wissenschaftliche Integration Europas, dessen Potential an anderer Stelle ausgelotet worden ist.[40] Ob – und wenn ja, in welchem Maße – das Spacelab in einem die Gegensätze des Kalten Krieges überwindenden Europa nicht nur als wichtiger Baustein einer europäischen Identität, sondern auch als wichtigen Schritt zu einer dauerhaften menschlichen Präsenz im Weltraum betrachtet werden kann, ist nach wie vor umstritten.[41] Hatte die Zeit bereits nach dem erfolgreichen Ersteinsatz das Projekt als „politisch-ideologisch motivierten Schritt in die Sackgasse“ bezeichnet,[42] steht das Spacelab in der Tat für jene Wachstumseuphorie der frühen 1970er-Jahre wie sie auch in der „Industrie und Technik“ gewidmeten Dauermarkenserie der Deutschen Bundespost von 1975 zum Ausdruck kommt. Schon zum Zeitpunkt der Übergabe des ersten einsatzfähigen Weltraumlabors war sie jedoch einem nachhaltigen Bewusstsein für die seitdem vielbeschworenen „Grenzen des Wachstums“ gewichen, auch und erst recht im Hinblick auf den Weltraum.[43]

Vollzog sich der Ersteinsatz des Spacelabs also bereits „nach dem Boom“ astrofuturistischer Ambitionen und Hoffnungen, die noch die 1950er- und 1960er-Jahre geprägt hatten, konnte auch Europas Einstieg in die bemannte Raumfahrt einer utopischen Zukunft in den Sternen nur bedingt neues Leben einhauchen.[44] Gleichwohl der Weltraum seitdem, etwa im Hinblick auf zeitgenössische Kommunikations- und Navigationstechnologien, weiter an Bedeutung gewonnen hat, sollte sich eine friedliche und multilaterale Nutzung, wie sie sich die ESA auf ihre Fahnen geschrieben hatte und mit dem Spacelab verfolgte, auch nach dem Ende des Kalten Krieges als trügerische Hoffnung erweisen. Nicht nur, dass bis in die Gegenwart hinein chinesischen und indischen Astronauten der Zugang zur internationalen Raumstation ISS verwehrt wird. Angesichts der gestiegenen Bedeutung, die weltraumgestützte Technik seit den 1980er-Jahren insbesondere für globale Sicherheitsinteressen gewonnen hat – zu nennen wären in diesem Zusammenhang etwa Fernaufklärungs-, Ortungs- und Kommunikationstechnologien wie das Satellitennavigationssystem Galileo –, scheint auch die europäische Weltraumgemeinschaft inzwischen mehr und mehr von einer ausschließlich friedlichen Nutzung des Weltraums abzurücken.[45]



[1] Ansprache des Generaldirektors der ESA, gehalten anlässlich der Spacelab Flight Unit Delivery Ceremony am 23.11.1981, Historical Archives of the European Union (HAEU), ESA-7980.

[2] Die Literatur zum Space Shuttle ist kaum zu überschauen, vgl. dazu aber: Goodrich, Malinda K. ; Alice R., Buchalter; Miller, Patrick, Toward a History of the Space Shuttle: An Annotated Bibliography. Part II: 1992–2011, Washington DC 2012 sowie: Pelton, Joseph N., The Space Shuttle: Evaluating an American Icon, in: Space Policy 26 (2010), S. 226–248.

[3] „Spacelab“ (5:51) vom Album „Mensch-Maschine“, Kling Klang Schallplatten/EMI/Warner Music Group 1978; Spacelab. Das deutsche Raumfahrtspiel D1. Ab 8 Jahren, hergestellt und vertrieben durch VEMAS-CVB, Regensburg 1986; die 1975 erschienen Dauermarken-Serie der Deutschen Bundespost umfasste insgesamt 23 Werte mit 21 verschiedenen, jeweils einem Industrie- oder Technikprodukt (oder einer entsprechenden Anlage) gewidmete Motiven; neben der 50 Pfennig-Briefmarke (die die Erdfunkstelle Raisting zeigt) und der 100 Pfennig-Briefmarke (die wiederum einen Braunkohlebagger zeigt) zählt die am 15.05.1975 veröffentlichte 40 Pfennig-Briefmarke mit dem Weltraumlabor-Motiv nicht nur zu den ersten, im Rahmen dieser Dauermarkenserie veröffentlichten Postwertzeichen; mit einer Auflagenhöhe von 2.132.000.000 gehörte die von Beat Knoblauch und Paul Beer entworfene, 24x28mm große Briefmarke zugleich zu den auflagenstärksten Postwertzeichen der Dauermarkenserie.

[4] Göldner, Markus, Politische Symbole der europäischen Integration: Fahne, Hymne, Hauptstadt, Pass, Briefmarke, Auszeichnungen, Frankfurt am Main 1988; jüngere Untersuchungen haben Briefmarken vornehmlich zur Untersuchung totalitärer Herrschaftsrepräsentation herangezogen, vgl. dazu etwa: Hanisch-Wolfram, Alexander, Postalische Identitätskonstruktionen. Briefmarken als Medien totalitärer Propaganda, Frankfurt am Main 2006; Scholze, Jana, Ideologie mit Zackenrand. Briefmarken als politische Symbole, in: Dokumentationszentrum Alltagskultur (Hg.), Fortschritt, Norm und Eigensinn. Erkundungen im Alltag der DDR, Berlin 1999, S.174–191.

[5] Zur Geschichte der europäischen Weltraumgemeinschaft vgl. Krige, John; Russo, Arturuo; Sebesta, Lorenza, A History of the European Space Agency 1958–1987, 2 Bde., Nordwijk 2000 sowie Madders, Kevin, A New Force at a New Frontier: Europe’s Development in the Space Field in the Light of its Main Actors, Policies, Law and Activities from its Beginnings up to the Present, Cambridge 1997; einen kulturhistorischen Zugriff bietet: Geppert, Alexander C.T. (Hg.), Imagining Outer Space: European Astroculture in the Twentieth Century, Basingstoke 2012.

[6] Herausgegeben von der Deutschen Bundespost in der Dauermarkenserie „Industrie und Technik“, vgl. Wikipedia.org, URL: (05.11.2015). Wir danken dem Bundesministerium der Finanzen für die Freigabe der Abbildung zur Veröffentlichung. Die Redaktion des Themenportals Europäische Geschichte hat sich nach Kräften darum bemüht, die Erben des verantwortlichen Künstlers der Briefmarke ausfindig zu machen. Diese Suche blieb leider ergebnislos. Eventuell geltend zu machende Ansprüche auf Urheberrecht sind bitte der Redaktion des Themenportals Europäische Geschichte mitzuteilen.

[7] Johannes Preisinger, zit. nach: Reinke, Niklas, Geschichte der deutschen Raumfahrtpolitik. Konzepte, Einflussfaktoren und Interpendenzen: 1923–2002, München 2004, S.146.

[8] Büdeler, Werner; Karamanolis, Stratis, Spacelab. Europas Labor im Weltraum, München 1976, S.9.

[9] Volker Hauff, zit. nach: Reinke, Geschichte der deutschen Raumfahrtpolitik, S.147.

[10] Vgl. etwa: Büdeler; Karamanolis, Spacelab, S.19; Merbold, Ulf, Flug ins All. Von Spacelab zur D1-Mission. Der persönliche Bericht des ersten Astronauten der Bundesrepublik, Bergisch-Gladbach 21987 (erstmalig: 1986), S.339f. sowie in grundsätzlicher Hinsicht: Gethmann, Carl Friedrich; Lingner, Stephan, Rationale Technikfolgenbeurteilung bemannter Raumfahrt: Die deutsche Diskussion, in: Trischler, Helmuth; Schrogl, Kai-Uwe (Hgg.), Ein Jahrhundert im Flug. Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland 1907–2007, Frankfurt am Main/ u.a. 2007, S.479–488.

[11] Reinke, Geschichte der deutschen Raumfahrtpolitik, S.147.

[12] So der Spiegel in: „Schräge Sonne“, Nr.47 vom 21.11.1983; als Schrittmachertechnologien werden innovationsträchtige Technologien bezeichnet, die sich noch in einem frühen Entwicklungsstadium befinden, denen aber ein großes Potenzial zugeschrieben wird, die Wettbewerbslage in einer Branche deutlich zu verändern; sie können sich zur Schlüsseltechnologie weiterentwickeln, die wiederum die Erschließung neuer Technikbereiche ermöglichen, welche bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht haben und als entscheidend für wirtschaftliches Wachstum betrachtet werden; vgl. dazu: Fohler, Susanne, Techniktheorien: Der Platz der Dinge in der Welt des Menschen, München 2003.

[13] Vgl. Dokument über die europäische Identität vom 14.12.1973, in: Gastegeyer, Curt, Europa von der Spaltung zur Einigung, Bonn 2005, S.259–261; zur „Eurosklerose“ bzw. zum europäischen Einigungsprozess der 1970er- und 1980er-Jahre vgl. Hiepel, Claudia (Hg.), Europe in a Globalising World: Global Challenges and European Responses in the „long“ 1970s, Baden-Baden 2014.

[14] Über den Beginn des sogenannten Space Ages herrscht innerhalb der Historiografie weitgehender Konsens: durchgängig wird der erfolgreiche Start des sowjetischen Satelliten Sputnik im Oktober 1957 als Initialzündung begriffen; darüber, ob – und wenn ja, wann – das Space Age zu Ende ging, wird hingegen weiter diskutiert; vgl. dazu: Burrows, William E., This New Ocean. The Story of the First Space Age, New York 1998.

[15] Vgl. Lord, Douglas R., Spacelab. An International Success Story, Washington 1987, S.485.

[16] Ein kursorischer Streifzug durch das Internet ergab entsprechende Briefmarken in der Schweiz, Mauretanien (jeweils veröffentlicht anlässlich des Erstfluges des Space Shuttles 1981), Lesotho, Djibouti, Grenada (jeweils veröffentlicht anlässlich des Ersteinsatzes des Spacelabs 1983).

[17] Vgl. Memorandum of Understanding between the National Aeronautics and Space Administration and the European Space Research Organization for a Cooperative Programme Concerning Development, Procurement and Use of a Space Laboratory in Conjunction with the Space Shuttle System vom 14.08.1973, Paris u.a., abgedruckt in: Sebesta, Lorenza, US-European Space Cooperation in the Post-Apollo Programme, Noordwijk 1995, Anhang 4.

[18] Vgl. Krige, John, Nasa and the Western World, in: ders.; Long Callahan, Angelina; Maharaj, Ashok, Nasa in the World. Fifty Years of International Collaborationin Space, Basingstoke 2013, S.23–125; zum Post-Apollo-Programm vgl. auch Logsdon, John M., After Apollo? Richard Nixon and the American Space Program, Basingstoke 2015.

[19] Vgl. Greger, Gottfried, Why and How is the Federal Government of Germany Promoting the Utilization of Spacelab? In: Proceedings of the Royal Society of London. Series A, Mathematical and Physical Sciences, (1978), H. 1705, S.143–150.

[20] Vgl. dazu: Hasenkamp, Andreas, Raumfahrtpolitik in Westeuropa und die Rolle Frankreichs. Macht – Nutzen- Reformdruck, Münster 1996.

[21] Vgl. dazu im Einzelnen: Krige; Russo; Sebesta, The History of ESA, Bd.2: The Story of ESA 1973–1987.

[22] Reinke, Geschichte der deutschen Raumfahrtpolitik, S.154.

[23] Gleichwohl war Merbold keineswegs der erste West-Europäer im Weltraum; in dieser Hinsicht war ihm der Franzose Jean-Loup Chrètien zuvorgekommen, der im Juni 1982 im Rahmen des russischen Weltraumprogramms ins All gereist war; und auch in deutsch-deutscher Hinsicht war der DDR-Kosmonaut Sigmund Jähn Merbold mit seinem Weltraumflug im August 1982 zuvorgekommen; vgl. zu den verschiedenen „Space-Firsts“: Burrows, William E., This New Ocean. The Story of the First Space Age, New York 1998; speziell zu Sigmund Jähn: Hirte, Roland, Ein später Held. Sigmund Jähns Flug ins All, in: Satjukow, Silke; Gries, Rainer (Hgg.), Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, Berlin 2002, S.158–170.

[24] Merbold, Flug ins All, S.323 und S.329f.

[25] Vgl. „Schräge Sonne“, in: Der Spiegel, Nr.47 vom 21.11.1983 sowie „Schwindel im All“, in: Die Zeit, Nr.51 vom 16.12.1983.

[26] Vgl. „Nutzlos und teuer“, in: Die Zeit, Nr.4 vom 20.01.1984.

[27] Vgl. Krige; Russo; Sebesta, The Story of ESA S.604.

[28] „Schräge Sonne“, in: Der Spiegel, Nr.47 vom 21.11.1983.

[29] Merbold, Flug ins All, S.321.

[30] Gleichfalls vereinbart worden war im IGA, dass die NASA mindestens ein weiteres Labor käuflich erwerben würde; hatte man in Europa zunächst spekuliert, vier bis fünf weitere Exemplare an den transatlantischen Partner verkaufen zu können, blieb es bei lediglich einem weiteren Exemplar; vgl. Reinke, Geschichte der deutschen Raumfahrtpolitik, S.145.

[31] Das Nutzlast-Programm vom April 1982 sah vor, dass von 60 zwischen Juli 1982 und September 1987 geplanten STS-Missionen 24 Missionen unter der Ägide des US-Verteidigungsministerium durchgeführt werden sollten, Payload-Manifest vom 09.04.1982, HAEU, ESA-7940; nach dem Challenger-Unglück setzte sich gar eine „emphasis on military payloads“ durch, wie die Houston Post in ihrer Ausgabe vom 11.03.1986 vermeldete, HAEU, ESA-8001; zu Reagans Strategic Defense Initiative vgl.: Kubbig, Bernd W., Die militärische Eroberung des Weltraums, 2 Bde., Frankfurt am Main 1990.

[32] Legal Aspects of the Use of Spacelab for the Purposes of SDI vom 03.10.1985, HAEU, ESA-9967; vgl. dazu etwa die Korrespondenz zwischen dem dänischen Forschungsministerium und dem Büro der ESA vom August 1985 in: HAEU, ESA-9967.

[33] Vgl. dazu: Houston, Rick, Wheels Stop: The Tragedies and Triumphs of the Space Shuttle Program, 1986–2011, Lincoln 2013; Vaughn, Diane, The Challenger Launch Decision: Risky Technology, Culture, and Deviance at NASA, Chicago 1996.

[34] Vgl. Lieske-Wessenforf, Ute, Weltraumveteran Spacelab startet in den zweiten Frühling, in: Aerospace (1999), H. 2, S.72–75.

[35] „Raumfahrt: Gegen diese Lobby kommt keiner an“, in: Der Spiegel, Nr.32 vom 03.08.1987.

[36] Zit. nach: Krige; Russo; Sebesta, The Story of ESA, S.604.

[37] Vgl. dazu Reinke, Geschichte der deutschen Raumfahrtpolitik, S.155f.

[38] Vgl. Rüttgers, Jürgen, Europas Wege in den Weltraum. Programme – Proteste – Prognosen, Frankfurt am Main 1989, S.42f. und S.67.

[39] Krige; Russo; Sebesta, The Story of ESA, S.604.

[40] Vgl. Patermann, Christian, Weltraumpolitik regionaler und bereichsspezifischer Organisationen, in: Kaiser, Karl; Frhr. v. Wenck, Stephan (Hgg.), Weltraum und internationale Politik, München 1987, S.463–477, hier S.466; Zabusky, Stacia E., Launching Europe. An Ethnography of European Cooperation in Space Science, Princeton 1995.

[41] Vgl. dazu: Lichtenstein, Dennis, Europäische Identitäten: eine vergleichende Untersuchung der Medienöffentlichkeiten ost- und westeuropäischer EU-Länder, Konstanz 2014.

[42] „Unser teurer Mann im All“, in: Die Zeit, Nr.49 vom 2.12.1983.

[43] Vgl. dazu: Meadows, Donella H. et al., The Limits to Growth, London 1972.

[44] Vgl. dazu: Doering-Manteuffel, Anselm; Raphael, Lutz, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; im Hinblick auf eine mögliche menschliche Zukunft in den Sternen vgl. Geppert, Alexander C.T. (Hg.), Limiting Outer Space: Astroculture after Apollo, London 2016 (im Erscheinen).

[45] Vgl. dazu: Sheehan, Michael, Profaning the Path to the Sacred. The Militarization of the European Space Programme, in: ders.; Bormann, Natalie (Hgg.), Securing Outer Space, London 2009, S.170–185; speziell zu Galileo: Lindström, Gustav; Gasparini, Giovanni, The Galileo Satellite Tracking System and its Security Implications, Occasional Paper. 44 des European Union Institute for Security Studies, Paris 2003.



Literaturhinweise

  • Burrows, William E., This New Ocean. The Story of the First Space Age, New York 1998.
  • Geppert, Alexander C.T. (Hg.), Imagining Outer Space: European Astroculture in the Twentieth Century, Basingstoke 2012.
  • Ders. (Hg.), Limiting Outer Space: Astroculture after Apollo, London 2016 (im Erscheinen).
  • Hiepel, Claudia (Hg.), Europe in a Globalising World. Global Challenges and European Responses in the “long” 1970s, Baden-Baden 2014.
  • Reinke, Niklas, Geschichte der deutschen Raumfahrtpolitik: Konzepte, Einflussfaktoren und Interdependenzen 1923–2002, München 2004.


Für das Themenportal verfasst von

Tilmann Siebeneichner

( 2015 )
Zitation
Tilmann Siebeneichner, Europas Griff nach den Sternen. Das Weltraumlabor Spacelab, 1973-1998, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2015, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1663>.
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