"Wir antizipieren die Flügel, die wir einst haben werden". Hedwig Dohms Ehekritik als Gesellschaftskritik und utopischer Entwurf

Ehe war über Jahrhunderte hinweg religiös kodiert und moralisch aufgeladen, als Institution und zentrale sozio-politische Ordnungsstruktur zugleich untrennbar mit der jeweils herrschenden Geschlechterordnung, also mit Vorstellungen und Konzepten von Geschlechtern und ihrem Verhältnis zueinander, verbunden. Eine wesentliche Grundlage konstituierte die Ehegesetzgebung, die zugleich das Eheverständnis prägte. Diskussionen über Ehe und Ehekritik sowie alternative und utopische Gegenentwürfe zur Ehe verweisen demgegenüber stets auf gesellschaftliche Veränderungen und Umbrüche. [...]

„Wir antizipieren die Flügel, die wir einst haben werden“Hedwig Dohms Ehekritik als Gesellschaftskritik und utopischer Entwurf[1]

Von Margareth Lanzinger

[Frühere Version des Artikels: 2013]

Ehe war über Jahrhunderte hinweg religiös kodiert und moralisch aufgeladen, als Institution und zentrale sozio-politische Ordnungsstruktur zugleich untrennbar mit der jeweils herrschenden Geschlechterordnung, also mit Vorstellungen und Konzepten von Geschlechtern und ihrem Verhältnis zueinander, verbunden. Eine wesentliche Grundlage konstituierte die Ehegesetzgebung, die zugleich das Eheverständnis prägte.[2]Diskussionen über Ehe und Ehekritik sowie alternative und utopische Gegenentwürfe zur Ehe verweisen demgegenüber stets auf gesellschaftliche Veränderungen und Umbrüche. Auch wenn im Rahmen normativer Vorgaben stets Raum für das „Aushandeln von Ehe“ in der sozialen Praxis offen blieb,[3]wurden die strukturellen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und damit auch Machtgefälle und einseitige Abhängigkeiten letztlich jahrhundertelang durch das Eherecht geformt.[4]Genau hier setzt Hedwig Dohm 1909 mit ihrer Ehekritik in dem Text „Über Ehescheidung und freie Liebe“[5]an – ein Quellentext, der insofern an der Schnittstelle von Geschlechtergeschichte und Europäischer Geschichte steht, als er zentrale Themen des zeitgenössischen politischen Streits aufgreift, den Parteien, Kirchen und Frauenbewegungen um 1900 grenzüberschreitend über die Ehe führten.[6]Die allseits zu konstatierende Krise der Ehe um 1900 löste gesellschaftliche Erschütterungen aus. Schließlich wurden nun sowohl die bei der Eheschließung stets avisierte lebenslange Dauer als auch die ungleiche Machtverteilung in ihrem Inneren öffentlich in Frage gestellt.[7]Der Artikel von Hedwig Dohm steht so auch für eine breite öffentliche Präsenz von Frauen, die für ihre Rechte und für gleiche Rechte eintraten.[8]

In diesem Kontext besticht Hedwig Dohm sowohl mit ihren pointiert formulierten Beobachtungen als auch mit ihrer Positionierung. Ihr Ausgangspunkt ist die Frage, „ob die Frau auch zum Ausharren in einer unglücklichen Ehe erzogen werden“ solle – eine Frage, die sie verneint, wenn sie die aus ihrer Sicht tote Form vom Inhalt trennt: Die Schuld am Scheitern zahlloser Ehen liege nicht bei den Ehepartnern, sondern bei der Institution Ehe selbst.Ein Ausweg ist auch aus Dohms Sicht nicht einfach, denn zwar müsse der künftige Weg zur „freien Ehe“, zur „freien Vereinigung“ führen, deren „Verwirklichung“sei aber erst in „eine(r) ferne(n) Zukunft“ denkbar. Dieser Befund macht Dohms Text paradigmatisch: Er bedeutet einen Brückenschlag zwischen einem Modell, das aus Sicht der Frauen nicht länger akzeptabel ist, und einer utopischen Vision von Ehe, die so nicht ohne Weiteres umsetzbar erscheint, schreibt sich doch die Ehe kulturell genau in jene rechtlichen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse ein, die sich nur langfristig zu verändern vermögen.

Hedwig Dohm (1831–1919) war die Tochter der Wilhelmine Henriette Jülich und des Tabakfabrikanten Gustav Adolph Schlesinger. Ihre Eltern heirateten erst im Jahr 1838, nach der Geburt des zehnten von insgesamt 18 Kindern.[9]Im Unterschied zu ihren Brüdern stand ihr nur eine Mädchenschule offen – gerade auch deshalb galt ihr späteres Engagement einer Verbesserung der Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen sowie deren uneingeschränktem und gleichberechtigtem Zugang zu Hochschulen und akademischen Berufen. Ihr Ehemann Wilhelm Friedrich Ernst Dohm war Redakteur des Satireblatts Kladderadatsch. Nicht zuletzt aufgrund seiner Kontakte zu den intellektuellen Kreisen Berlins wurde das Dohmsche Haus zu einem bekannten Salon, dessen Jour fixe Hedwig Dohm auch nach dem Tod ihres Mannes im Jahre 1883 fortführte. Überdies stand sie in engem Kontakt mit führenden Persönlichkeiten der Ersten Frauenbewegung wie Minna Cauer und Helene Stöcker[10]und beteiligte sich aktiv an der Gründung mehrerer Frauenbewegungsvereine.

Dohm war Schriftstellerin und Publizistin; ihr in den 1860er-Jahren begonnenes Werk umfasst unterschiedlichste Genres, darunter auch politische Essays und Streitschriften. In diesen setzte sie sich unter anderem scharfsinnig mit antifeministischen Thesen und Vorurteilen von prominenten Zeitgenossen auseinander und übte Kritik an der Benachteiligung von Frauen in der Gesellschaft ihrer Zeit.[11]Die erstarkenden Frauenbewegungen und die in diesen Jahren neu gegründeten Zeitschriften schufen ab Mitte der 1890er-Jahre jenes Umfeld, in dem Hedwig Dohm eine Fülle an Artikeln, Essays und Miszellen verfasste und veröffentlichte. Ein weiteres Forum boten die Sozialistischen Monatshefte, die von 1897 bis 1933 unter der Leitung von Joseph Bloch monatlich bzw. über Jahre im vierzehntägigen Rhythmus erschienen. Die Zeitschrift vertrat als politische Linie nicht die „reine marxistische Lehre“ und galt als „Blatt außerhalb der Partei“, was phasenweise auch für Konflikte mit dieser sorgte. Die Sozialistischen Monatshefte standen vor allem den Vertretern einer revisionistischen Linie nahe, die den Reformweg gegenüber einer Revolution bevorzugten, boten aber auch Anhängerinnen und Anhängern anderer politischer Richtungen, etwa Anarchistinnen und Anarchisten, eine wichtige Publikationsmöglichkeit.[12]

In den Sozialistischen Monatsheften publizierten zahlreiche Protagonistinnen der Frauenbewegung. Neben dem Einsatz für mehr Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen und dem Kampf für das Frauenstimmrecht stand vor allem die Erweiterung der Rechte von Frauen in Ehe und Familie auf der Agenda. Bei der ausgewählten Schrift von Hedwig Dohm handelt es sich demnach um einen journalistischen Text in Form eines politischen Essays, der – einer möglichen Typologie folgend – in einer „Bewegungszeitschrift“ mit dem Ziel der Aufklärung und Positionierung, der Bewusstseinsbildung und politischen Mobilisierung erschienen ist. Solchen Zeitschriften und ebenso den darin abgedruckten Artikeln kam daher grundsätzlich eine doppelte Funktion zu: als „internes“ Diskussionsforum und als „Agitationsmittel“.[13]Mit diesem spezifischen Kontext verbunden ist die streitbare, an das Lesepublikum in der Rhetorik einer politischen Rede gewandte Sprache, in der Hedwig Dohm hier schreibt. Diese Textgattung ermöglicht ihr, deutliche Aussagen über Geschlechterbeziehungen, gegenseitige Verletzungen und das Scheitern zu treffen sowie Forderungen zu stellen und Gegenentwürfe zu propagieren.

Das Eherecht basierte in den europäischen Ländern durchweg auf der Vormachtstellung des Ehemannes und auf der Gehorsamspflicht der Ehefrau. Zentrale Forderungen von Aktivistinnen der Frauenbewegung um 1900 galten daher der rechtlichen Gleichstellung von Frauen in der Ehe und einem einfacheren Scheidungsrecht. Manche vertraten auch radikalere Positionen, sprachen sich für die Abschaffung der Ehe aus oder schrieben über die „freie Liebe“. Eine solche Vorstellung der Geschlechterbeziehungen war zeitgenössisch jedoch überaus strittig. „Die Frauenbewegung erscheint durch diesen Kampf in zwei Lager gespalten: eine radikale Minorität, die in einer grundsätzlichen Umgestaltung der moralischen und rechtlichen Normen des Geschlechtslebens die Lösung der brennenden Fragen sieht;[und]eine Majorität, die nach wie vor in der Ehe die höchste sittliche und die allein der sozialen Verantwortlichkeit voll genügende rechtliche Norm anerkennt, und der bei allen praktischen Reformvorschlägen und sittlichen Forderungen die Vertiefung und soziale Festigung der Ehe das höchste Ziel ist“, so heißt es im Vorwort eines von prominenten Autorinnen, die sich der „Majorität“ zuordneten, verfassten und ebenfalls 1909 erschienenen Bandes.[14]

Die „freie Liebe“ war vor allem „ein Reizwort für Juristen und konservative Politiker der Zeit“.[15]Die österreichische frauenbewegte Sozialistin und Herausgeberin der Arbeiterinnen-Zeitung Adelheid Popp bezahlte die Verwendung dieses Begriffs in dem Artikel „Frau und Eigenthum“[16]im Jahr 1895 mit einer vierzehntägigen Gefängnisstrafe. Popp prangerte darin die geltenden Ehegesetze an: Diese würden noch immer den Geist der Zeit atmen, in welcher der Mann die Peitsche oberhalb des Ehebettes hängen hatte. Unter „freier Liebe“ verstünde sie eine Beziehung, die „ohne Zwang aus freier, innerer Ueberzeugung“ entsteht, während der Staatsanwalt darin nicht nur einen Angriff „gegen die ganze Institution der Ehe“ ortete, sondern gegen die Gesellschaftsordnung insgesamt: „Der Gesetzgeber ist der Ansicht, daß der Staat und die ganze Gesittung und die ganze Cultur auf dem Spiele steht, wenn man die Ehe und die Familie herabwürdigt.“[17]Aus konservativer Sicht kam die Krise der Ehe einer Krise der gesellschaftlichen Ordnung insgesamt gleich.

Die „freie Liebe“ war also ein provokantes Schlagwort,und trotzdem – oder gerade deshalb? – steht sie im Titel des Artikels von Hedwig Dohm, obzwar im Text selbst dann ausschließlich von „freier Ehe“ und „freier Vereinigung“ die Rede ist. Doch genau diese Diskrepanz zwischen Titel und Inhalt ist für die Krise der Ehe symptomatisch, signalisiert sie doch, dass diese Institution eben nicht so leicht zu umgehen war oder einfach abgeschafft werden konnte bzw. sollte. Denn das war auch aus der Sicht Hedwig Dohms nicht das Ziel: Das Konzept der freien Liebe war nicht gleichbedeutend mit einer Absage an die Ehe. Der Sexualwissenschaftler Iwan Bloch sah in der freien Liebe – im Unterschied zum zuvor zitierten Staatsanwalt – die „Zukunft der Kultur“. Diese hing für ihn von der endgültigen „Erlösung und Befreiung aus den durch die Zwangsehe geschaffenen schmachvollen Zuständen des Liebeslebens der Gegenwart“ ab.[18]

Neben der Kritik an arrangierten Ehen, die Familieninteressen bedienten, verband sich mit diesem Liebesmodell als zentrales Anliegen die Abschaffung der Prostitution und die Forderung nach sozialer Akzeptanz vor- bzw. außerehelicher sexueller Beziehungen, „die auf ernsthafter Zuneigung beruhten“,[19]und in Konsequenz auch nach Anerkennung und Unterstützung für ledige Mütter und deren Kinder. Das Vorwort eines von Vertreterinnen der radikalen Richtung der Frauenbewegung, darunter federführend Hedwig Dohm, 1905 verfassten Bandes über Ehe und Sexualreform bringt die Folgen der „bürgerliche(n) Moral“, gegen die sie ankämpften, klar zum Ausdruck: Diese habe die „sexuelle Betätigung in die engen Fesseln der Ehe gezwängt“ und brandmarke „das in heißer Liebe erzeugte uneheliche Kind“.[20]Die Reform der Ehe müsse ihren Ausgang daher von der Anerkennung der Ebenbürtigkeit der Frauen nehmen, denn mit der Auffassung von deren geistiger Inferiorität stehe die „Herrenrechtlerei des Mannes“ in Zusammenhang und diese wiederum bestimme „die sexuellen Sitten und Gesetze“. Dieser „einseitige(n) Herrschaft des Mannes“ schreibt sie die Doppelmoral und die „ungeheure Ausdehnung der Prostitution“ zu. Ziel von Erziehung und Schule und Basis der von ihr als ideal konzipierten Liebe sollten demnach das „aneinander- und miteinanderwachsen“ sein, „Kameradschaft, Freundschaft zwischen Mann und Weib“.[21]

Entscheidend war, dass das Eheverständnis und damit auch die Krise der Ehe um 1900 an eine jahrhundertelange Tradition anknüpften, und zwar auch und vor allem an die Zeit der Reformation. Schließlich hatten die Reformatoren im beginnenden 16. Jahrhundert besonders in Hinblick auf die Eindeutigkeit von Eheschließungen „Unordnung“ geortet, die es in eine neue Ordnung zu überführen gelte. Allerdings handelte es sich bei dieser „Unordnung“ mehr um eine rhetorische Figur, die der konfessionellen Abgrenzung diente: Die bis dahin nicht in einem punktuellen Trauungsakt, sondern in einem mehrstufigen Prozess – vom Eheversprechen bis zum Einzug in den gemeinsamen Haushalt – eingegangene Ehe, war durchaus Regeln und Konventionen gefolgt und hatte ebenso der sozialen Kontrolle unterstanden.[22]Auf den Ruf nach einer sichtbareren Ordnung reagierten indes auch die Träger der katholischen Kirche. Mit den aus Reformation und Gegenreformation resultierenden Regelwerken sollte das Monopol der Ehe als einzig legitimer Ort für Sexualität, als einzig unbehelligt lebbares Beziehungsmodellklar festgeschrieben werden. Die damit eingeleitete Moralisierung der Geschlechterbeziehungen wurde im Laufe des 17. Jahrhunderts zu einem regelrechten moralischen Programm, das durch die Mission mit mehr oder weniger Erfolg weiträumig auch über Europa hinaus exportiert werden sollte.

Die machtvolle Durchsetzung des neuen Eheverständnisses lag jedoch nicht allein in kirchlicher Hand, auch weltliche Strafordnungen und Gerichte trugen die Moralvorstellungen mit, wenn sie sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe, spätestens sobald sie durch Schwangerschaften publik wurden, als „Fornikation“, „Fleischesverbrechen“ oder „Unzucht“ ahndeten.[23]Dies traf zwar Männer wie Frauen, jedoch tendenziell in unterschiedlicher Form: Die den Frauen auferlegten Strafen dienten nicht selten dazu, die ‚Sünderin‘ und ihr ‚Vergehen‘ öffentlich auszustellen und damit auch die Grenzen weiblicher Ehre abzustecken. Nach der Abschaffung der strafrechtlichen Verfolgung nichtehelicher Sexualität, die in zahlreichen deutschen Territorien und in Österreich im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgte, sollten sich die juristischen Debatten um den Status, die Rechte und die Gleichstellung von unehelich geborenen Kindern noch lange hinziehen. Sogenannte Konkubinatsparagrafen, die es Polizei und Gericht erlaubten, Paare, die in ‚wilder Ehe‘ lebten, zu trennen, gab es auch im 19. Jahrhundert noch. Ergebnis dieser langfristigen Prozesse war ein Modell von Ehe als der gesellschaftlich akzeptierten Form, Geschlechterbeziehungen zu leben, die es – so verlangte es Hedwig Dohm – nun wieder aufzubrechen galt.

Ein Angriffspunkt der Kritik um 1900 war die Position des Ehemannes als „Herrenoberhaupt“, wie Hedwig Dohm sie bezeichnet, zu dem analog die untergeordnete Rolle der Ehefrau zu sehen ist, die sich in deren Gehorsamspflicht ausdrückte. Religiös in der Schöpfungsgeschichte fundiert und durch weltliches Recht abgesichert sollte dieses von Dohm als „traditionell“ apostrophierte Ehemodell in den westeuropäischen Ländern noch bis zur partnerschaftlichen Gleichstellung der großen Familienrechtsreformen der 1970er-Jahre wirkmächtig bleiben.[24]Als einen Aspekt, in dem „das Recht des Mannes“ zum Tragen kommt, thematisiert Dohm die „eheliche Liebespflicht“, die selbstverständlich eingefordert werden konnte. In dem ehelichen ‚Privileg‘ als alleinigem Ort für Sexualität lag somit keine Freiheit, sondern im Gegenteil: die Ausübung war Pflicht, eine Schuld – debitum conjugale –, die es einzulösen galt. Denn der Hauptzweck der Ehe war die Fortpflanzung, die „eheliche Liebespflicht“ erlaubte somit, so folgerte Dohm in ihrem Essay, eine „Ehe ohne Liebe“. Ihre Kritik setzte genau hier an, denn in einer solchen Situation sei die Forderung nach dem Erfüllender Schuld Ausdruck und Praxis von ungleichen Machtverhältnissen. Das Paarkonzept „Mann und Frau“ stellte Hedwig Dohm gleichwohl nicht in Frage, dabei waren Diskussionen um ein „drittes Geschlecht“ zu dieser Zeit, inspiriert von Magnus Hirschfeld, durchaus an der Tagesordnung, und gerade der radikale Flügel der Frauenbewegung, allen voran Helene Stöcker, griff diese auch auf.

Rein rechtlich stünde es der Ehefrau genauso zu, die „eheliche Pflicht“ von ihrem Mann einzufordern. Um dieses gleiche Recht ging es Hedwig Dohm aber nicht. Vielmehr problematisiert sie Sexualität in Begriffen der „erotischen Ehegemeinschaft“ und des „Erlöschens der Erotik“ – was sie gleichsetzt mit einem „Sprung in der Liebe“, der sich nicht mehr kitten lasse. Auf dem „Entschwinden der erotischen Empfindung“ und der vom Mann geforderten ehelichen Liebespflicht, also im Bereich der Sexualität, liegt ein argumentativer Schwerpunkt, mit dem sie sich gegen das lebenslang währende Eheband wendet. Als zweites skizziert sie das „sich gegenseitig erniedrigen und zerstören“, den „kleinlichen Krieg aller Tage“ und die gegenseitige Abneigung, die eine jegliche Ehe potentiell einem „schauerlichen Hospital für Inkurable“ gleichen lasse. Dies vermittelt, gemessen an den in Scheidungsklagen vielfach dargestellten Szenarien von Misshandlung und Gewalt[25], nur ein partielles Bild, das sich an die bürgerliche Situiertheit der Autorin rückbinden lässt. So kritisiert Dohm die duldende Rolle von Frauen in unglücklichen Ehen, die im ewigen Anpassen und Hinnehmen schließlich vollkommen erlöschten. Zugleich zeichnet sie in Zusammenhang mit der „ehelichen Liebespflicht“ – nahezu klassisch den Vorstellungen von „Geschlechtscharakteren“[26]folgend – Frauen als den passiven und Männer als den aktiven Part.

Den eherechtlichen Aspekt der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern verknüpft Dohm mit der ökonomischen Ungleichheit und der daraus resultierenden Abhängigkeit von Frauen. Auf diese Weise wählt sie die Verflechtung von Ehe, Liebe und Ökonomie zum Ausgangspunkt, wenn es um die Frage einer „leichten, freien“ Ehescheidung geht. Aus der Sicht einer Frau war eine Scheidung zeitgenössisch in mehrfacher Hinsicht riskant, denn, wie auch Hedwig Dohm schreibt, sie hing sozial und finanziell ganz von ihrem Mann ab; eine Geschiedene verlor somit nicht nur ihr gesellschaftliches Ansehen. So war nach Dohm die „freie Scheidung“ auf Grundlage der derzeitigen gesellschaftlichen Situation der meisten Frauen durchaus problematisch, denn nur die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frau mache die freie Scheidung überhaupt erst möglich; schließlich habe der Mann das Recht auf eine zweite Partnerschaft und es gehöre zur Würde der Frau, ihre Existenz nach einer Scheidung selbst zu bestreiten. Schlussfolgerung: „[F]ür diejenigen Frauen“, so Dohm, „die Beruf und Mutterschaft nicht zu vereinigen wissen, muss es bei der alten niet- und nagelfesten Ehe bleiben, mit dem ernährenden Mann als Herrn und Oberhaupt, mit der erschwerten Scheidung.“

Als Grundproblem identifiziert Dohm zunächst also die ökonomische Abhängigkeit von Frauen – angesprochen sind damit vornehmlich jene aus dem bürgerlichen Milieu. Diese ist durch fehlende Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten, aber auch durch die Unvereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft bedingt, und macht Frauen im Scheidungsfall von der Unterhaltszahlung des geschiedenen Mannes abhängig. In diesem Punkt argumentiert Hedwig Dohm aus einer konsequent emanzipatorischen Position heraus, die auch heute noch umstritten ist[27], da sie die wirtschaftliche Eigenständigkeit von Frauen einfordert – unabhängig von deren Familienstand. Dabei entlässt sie zugleich die geschiedenen Männer aus ihrer Pflicht und betont deren Recht auf „ein neues Glück“ in einer neuen Beziehung. Hintergrund dieser Auseinandersetzung sind die de facto unterschiedlichen Voraussetzungen und Implikationen von Ehescheidungen für Frauen und Männer.

Was ist aber mit der „erschwerten Scheidung“ gemeint? Die Scheidungs- und Wiederverheiratungsmöglichkeit war über Jahrhunderte primär konfessionell respektive religiös geprägt.[28]Der katholische Sakramentcharakter der Ehe und die damit verbundene Unauflöslichkeit der Ehe hatten zur Folge, dass eine Wiederverehelichung trotz gewährter Trennung zu Lebzeiten beider Ehepartner unmöglich war. Dem hatte Martin Luther seine Auffassung von Ehe als ein „irdisch Ding“ entgegengesetzt; eine Wiederverheiratung war möglich, jedoch nicht für den als „schuldig“ geschiedenen Teil.[29]Zur Zeit Hedwig Dohms gab es im Deutschen Reich – seit 1875 – die Zivilehe, die eine Erleichterung für Wiederverehelichungen brachte.[30]Das revolutionäre Frankreich hatte diese als Erstes eingeführt und blieb als Vorreiter in Europa damit lange allein. In anderen Ländern trugen klerikal-konservative und liberale Richtungen Machtkämpfe um die Einführung der obligatorischen Zivilehe aus. In Italien wurde sie 1866 durch den liberalen Codice Pisanelli eingeführt. Im Deutschen Reich war diese Auseinandersetzung Teil des sogenannten„Kulturkampfes“. In Österreich gab es die Zivilehe erst ab 1938 als Folge des ‚Anschlusses‘ an das nationalsozialistische Deutschland.

Was die Möglichkeit einer Scheidung selbst betraf, so sollte dies dort wie auch in anderen europäischen Ländern noch lange Gegenstand von juristischen und politischen Debatten bleiben. Dirk Blasius sieht im Scheidungsrecht des zu Beginn des Jahres 1900 in Kraft getretenen deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches ein „Neben- und Ineinander von Modernisierungsbemühungen und gezielten Modernisierungsblockierungen“.[31]Weitere Erschwernis, vor allem gegenüber dem liberaleren Allgemeinen Landrecht für Preußen von 1794, brachte das strikte Verschuldensprinzip, das eine einverständliche Scheidung nunmehr unmöglich machte. In den kontroversen Debatten um das Scheidungsrecht entwarfen konservative Juristen nicht nur Verfallsszenarien, die sie mit dem Aufkommen von „Socialdemokratie und Anarchismus“ verbanden, sondern beschworen pathetisch einen „nationalen Notstand“: „[D]ie sittlichen Mächte sind es, die der Staat stärken muß, um sich erhalten zu können gegenüber dem Ansturm, der unheimlich von unten heraufkommt.“[32]

Entscheidend für die von Hedwig Dohm beklagte „erschwerte Scheidung“ war das dominante ökonomische Muster des male breadwinner und der Ehe, die immer noch Versorgungsinstitution war. Dabei hatten bereits mehr als hundert Jahre zuvor Vertreter und Vertreterinnen der Romantik ein neues Liebeskonzept formuliert, das sich gegen allzu vordergründige wirtschaftliche Kalküle von Heiratsprojekten wandte und die Einheit von Ehe und Liebe propagierte. Angriffspunkt waren vor allem die arrangierten Ehen. Wurde auch im romantischen Diskurs jener Zeit die Liebesheirat proklamiert und die Geldheirat verfemt, so war dies als Vorstellung und Anspruch weit über die bürgerlich-intellektuellen Kreise, die diesen in die Welt gesetzt hatten, hinaus verbreitet und wirkmächtig. Mit der Umsetzung allerdings haperte es auch hundert Jahre später noch: Anstandsbücher des ausgehenden 19. Jahrhunderts empfahlen zwar die Liebesheirat, sahen aber keinerlei Widerspruch darin, einen Absatz später zu versichern, dass der Bräutigam mit Fug und Recht „neben der Neigung der von ihm Erkorenen auch eine gute Mitgift willkommen“ heißen „und über die Vermögensverhältnisse der Eltern des jungen Mädchens nähere Erkundigungen“ einholen könne.[33]

Tatsächlich blieben die wirtschaftlichen Verhältnisse noch lange ein wichtiges Kriterium bei der Ehepartnersuche: Geldfragen wurden im 19. Jahrhundert im Vorfeld einer Eheschließung – wenn auch nicht in allen Kreisen gleichermaßen – ziemlich offen diskutiert. Einschlägige Studien stellen einen beiderseitigen Bedacht auf Absicherung über eine Ehe unter relativ Gleichen quer durch die verschiedenen sozialen Milieus fest.[34]Hedwig Dohm schwebte nun eine „Neugestaltung der Ehe“ vor, wenn sie forderte, dass der „stärkere Charakter […] das Übergewicht haben“ sollte, diesen jedoch nicht an ein bestimmtes Geschlecht gebunden sehen wollte. Geht man von einer gesellschaftlichen Stabilisierungsfunktion von Ehe aus, würde dies die Machtposition des Mannes als breadwinner untergraben.

Was den Unterhalt betraf, so hatte in der Zeit, als Hedwig Dohm den hier kommentierten Artikel schrieb, eine geschiedene Frau auf Grundlage des Bürgerlichen Gesetzbuches ohnehin nur dann einen Anspruch darauf, wenn der Mann zum allein schuldigen Teil am Auseinandergehen der Ehe erklärt worden war. Dabei konnten geschiedene Männer nur in einem begrenzten Ausmaß zu Unterhaltszahlungen verpflichtet werden, und zwar nur soweit diese deren eigene standesgemäße Lebensführung nicht gefährdeten. Überdies entfiel die Unterhaltspflicht in zwei sozial ganz unterschiedlich gelagerten Situationen völlig: wenn nämlich Frauen über ausreichend eigenes Vermögen verfügten oder in „Verhältnissen“ lebten, in denen „Erwerb durch Arbeit“ auch für Frauen üblich war und diese ihren Unterhalt also weiterhin selbst bestreiten konnten (BGB § 1578). Frauen, die keinen Beruf erlernt hatten oder ausübten und über kein größeres Vermögen verfügten, hatten also eine denkbar schlechte Verhandlungsposition bei einer Scheidung, sofern ihren Ehemännern nicht ein klares Verschulden anzulasten war. Das Scheidungsrecht scheint insofern mehr die Lage des schuldig geschiedenen Mannes im Blick gehabt zu haben als jene der nicht schuldig geschiedenen Frau.[35]

Die Radikalität von Hedwig Dohms Artikel liegt in ihrer Vorstellung, dass niemand nach der Form fragen sollte, „in der zwei Menschen sich in Liebe vereinigten“. Ausgehend von ihrem Befund der ökonomisch und sozial ungleichen Stellung von Frauen und Männern und von den Folgen, die dies für die Ehe als privilegierte Form der gelebten Geschlechterbeziehung hatte, kam sie zu dem ungewöhnlichen Schluss, dass die „rechte Form für das Sexualleben von Mann und Weib […] noch nicht gefunden“ sei. Die auf die Geschichte der Ehe zurück gewandte Langzeitperspektive lieferte ihr zugleich die Prognose: „Ein langer Weg war’s von dem sakramentalen Traualtar bis zum profanen Standesamt. Lang wird der Weg sein vom Standesamt zur freien Ehe.“ Dies fordert nicht zuletzt die Frage heraus, auf welcher Etappe des Weges wir heute stehen. Denkt man an eingetragene Partnerschaften, an gleichgeschlechtliche Ehen, an nichteheliche Lebensgemeinschaften, die von manchen Sozialgesetzen so behandelt werden, als leisteten die Partner bzw. Partnerinnen einander Unterhalt, so ergibt sich zwar das Bild einer Vervielfältigung der Formen, aber auch jenes einer engen Koppelung dieser größeren Freiheit an bürgerliches Recht. Um dagegen zu jener Freiheit zu gelangen, die Hedwig Dohm vor Augen hatte, ist es also wohl noch ein weiteres Stück des Weges.

[1] Essay zur Quelle: Hedwig Dohm,Über Ehescheidung und freie Liebe (1909).URL: www.europa.clio-online.de/quelle/id/artikel-4733.

[2] Zum Eherecht vgl. Duncker, Arne, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700–1914, Köln 2003, u.a. S. 50–60, 212–219, 375–400, 1115–1123.

[3] Lanzinger, Margareth et al., Aushandeln von Ehe. Heiratsverträge der Neuzeit im europäischen Vergleich, Köln 2010.

[4] Vgl. Ulbrich, Claudia, Artikel „Ehe“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart 2006, Sp. 38–44, bes. Sp. 38.

[5] Dohm, Hedwig, Über Ehescheidung und freie Liebe, in: Sozialistische Monatshefte 13 (1909), S. 842–849, URL:  (18.10.2017). Im Folgenden stammen alle Quellen­zitate, soweit nicht anders ausgewiesen, aus den hier mit abgedruckten Quellenausschnitten.

[6] Zu zeitgenössischen Debatten in der Frauenbewegung über das Eherecht vgl. die Beiträge in Gerhard, Ute (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1999.

[7] Vgl. dazu Arni, Caroline, Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900, Köln 2004, insbes.S. 1–10, 34–71.

[8] Vgl. u.a. Offen, Karen, European Feminism 1700–1950.A Political History, Stanford 2000; Rupp, Leila J., Worlds of Women.The Making of an International Women’s Movement, Princeton 1997.

[9] Zu ihrer Biografie vgl. Rohner, Isabel, Spuren ins Jetzt. Hedwig Dohm – eine Biografie, Sulzbach 2010; zu ihrem Œuvre Pailer, Gaby, Hedwig Dohm, Hannover 2011.

[10] Vgl. dazu Stöcker, Helene, Lebenserinnerungen. Die unvollendete Autobiographie einer frauenbewegten Pazifistin, hg.von Lütgemeier-Davin, Reinhold;Wolff, Kerstin, Köln u.a. 2015, S. 190.

[11] Vgl. beispielsweise ihre 1874 in Berlin erschienene Streitschrift „Die wissenschaftliche Emancipation der Frau“, die sich u.a. gegen Ärzte und Wissenschaftler wendet, die Frauen die Eignung zum Studium absprechen wollen. Großes Aufsehen riefen ihre Schriften „Was die Pastoren von den Frauen denken“ (1872), „Der Jesuitismus im Hausstande. Ein Beitrag zur Hausfrauenfrage“ (1873) sowie „Der Frauen Natur und Recht“ (1876) hervor.

[12] Woltering, Hubert, Die „Sozialistischen Monatshefte“ (1895/96–1933). Einleitung zur Online-Edition der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, URL: (18.10.2017).

[13] Drücke, Bernd,Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht?Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Ulm 1998, S. 29.

[14] Vorwort, in: Bäumer, Gertrud et al., Frauenbewegung und Sexualethik. Beiträge zur modernen Ehekritik, Heilbronn 1909, S. vii–viii, hier S. vii.

[15] Saurer, Edith, Liebe und Arbeit.Geschlechterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Lanzinger, Margareth, Wien u.a. 2014, S. 138.

[16] Popp, Adelheid, Frau und Eigenthum, in: Arbeiterinnen-Zeitung 4 (1895), H. 13.

[17] Popp, Adelheid, Freie Liebe und bürgerliche Ehe. Schwurgerichtsverhandlung gegen die „Arbeiterinnen-Zeitung“, durchgeführt bei dem k. k. Landes- und Schwurgericht in Wien am 30. September 1895, Wien 1895, S. 8, 10.

[18] Bloch, Iwan, Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur, Berlin 1908, S. 263.

[19] Saurer, Liebe und Arbeit, S. 139.

[20] Dohm, Hedwig et al., Ehe? Zur Reform der sexuellen Moral, Berlin 1905, S. 5–6.

[21] Dohm, Hedwig, Zur sexuellen Moral der Frau, in: dies., Ehe?, S. 7–14, 7f, 11f.

[22] Burghartz,Susanna, Umordnung statt Unordnung?Ehe, Geschlecht und Reformationsgeschichte, in: Puff, Helmut; Wild, Christopher (Hgg.), Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Göttingen 2003, S. 165–185;Seidel Menchi, Silvana; Qua-glioni, Diego (Hgg.), Matrimoni in dubbio.Unioni controverse e nozze clandestine in Italia dal XIV al XVIII secolo, Bologna 2001.

[23] Vgl. Strasser, Ulrike, State of Virginity. Gender, Religion, and Politics in an Early Modern Catholic State, Ann Arbor 2004.

[24] Holzleithner, Elisabeth, Recht Macht Geschlecht. Legal Gender Studies. Eine Einführung, Wien 2002, S. 43–62; Schwab, Dieter, Gleichberechtigung und Familienrecht im 20. Jahrhundert, in: Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts, S. 790–827; Verschraegen, Beate (Hg.), Gleichheit im Familienrecht unter Berücksichtigung des Einflusses von Verfassungen und internationalen Übereinkommen, Bielefeld 1997 mit zahlreichen Länderberichten.

[25] Blasius, Dirk, Ehescheidung in Deutschland 1794–1945, Göttingen 1987, bes. S. 112–126.

[26] Hausen, Karin, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“.Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienarbeit, in: Conze, Werner (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363–393.

[27] Zur aktuellen und neuerlich umstrittenen Unterhaltsregelung in Deutschland vgl. Gerhard, Ute, Paradoxe Folgen der Emanzipation? Das neue Unterhaltsrecht des bundesdeutschenFamilienrechts, in: L’Homme. Z.F.G. 22 (2011), H.1, S. 139–145.

[28] Freier waren das jüdische und das islamische Scheidungsrecht. Vgl. Lieber, David L.; Drori, Moshe, Artikel „Divorce“, in: Encyclopedia Judaica, Bd. 5, Detroit 2007, 2. Aufl., S. 710–721; für ein Fallbeispiel: Klein, Birgit, „Der Mann: ein Fehlkauf“. Entwicklungen im Ehegüterrecht und die Folgen für das Geschlechterverhältnis im spätmittelalterlichen Aschkenas, in: Müller, Christiane E.; Schatz, Andrea (Hgg.), Der Differenz auf der Spur.Frauen und Gender in Aschkenas, Berlin 2004, S. 69–99; Amira El-Azhary Sonbol, Women, the Family and Divorce Laws in Islamic History, Syracuse 1996.

[29] Blasius, Ehescheidung, S. 112–126.

[30] Eine Konsequenz dieser ungleichen Situation war ein relativ reger Scheidungstourismus aus katholischen Gebieten. Vgl. als sehr plastische Analyse: Grandner, Margarete; Harmat, Ulrike, Begrenzt verliebt. Gesetzliche Ehehindernisse und die Grenze zwischen Österreich und Ungarn, in: Bauer, Ingrid et al. (Hgg.), Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen, Wien 2005, S. 287–304.

[31] Blasius, Ehescheidung, S. 128.

[32] Gutachten des Herrn Professor Dr. Otto Mayer in Straßburg, zit. nach Blasius, Ehescheidung, S. 138.

[33] Ebhardt, Franz, Der gute Ton in allen Lebenslagen. Handbuch für den Verkehr in der Familie, in der Gesellschaft und im öffentlichen Leben, Leipzig 1886, 10. Auflage, S. 140, zit. nach Hausen, Karin, Die Ehe in Angebot und Nachfrage. Heiratsanzeigen historisch durchmustert, in: Bauer Ingrid et al.(Hgg.), Liebe und Widerstand, S. 428–448, hier S. 431.

[34] Hausen, Die Ehe in Angebot und Nachfrage, S. 439, 448; Borscheid, Peter, Geld und Liebe. Zu den Auswirkungen des Romantischen auf die Partnerwahl im 19. Jahrhundert, in: ders.; Teuteberg, Hans J. (Hgg.), Ehe, Liebe, Tod. Zum Wandel der Familie, der Geschlechts- und Generationsbeziehungen in der Neuzeit, Münster 1983, S. 112–134, bes. S. 122–134.

[35] Blasius,Ehescheidung,S. 151.


Literaturhinweise

  • Arni, Caroline, Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900, Köln 2004.
  • Blasius, Dirk, Ehescheidung in Deutschland 1794–1945, Göttingen 1987.
  • Duncker, Arne, Gleichheit und Ungleichheit in der Ehe. Persönliche Stellung von Frau und Mann im Recht der ehelichen Lebensgemeinschaft 1700–1914, Göttingen 1987.
  • Gerhard, Ute (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1999.
  • Ulbrich, Claudia, Artikel „Ehe“, in: Enzyklopädie der Neuzeit 3, Stuttgart 2006, Sp. 38–44.

Hedwig Dohm: Über Ehescheidung und freie Liebe (1909)[1]

[Weitere Artikel Version 2012]

Habe ich bereits verschiedene Gesichtspunkte für die Erziehung zur Ehe behandelt, so will ich heute von der Ehescheidung reden, davon, ob die Frau auch zum Ausharren in einer unglücklichen Ehe erzogen werden soll. Die traditionelle Ehe mit dem Herrenoberhaupt, mit ihren festen Normen und Einengungen, entspricht nicht mehr dem Geist der Zeit, nicht mehr der Entwickelung der Frau. Wer wüsste es nicht, dass äussere Formen sich oft lange Zeiträume hindurch noch erhalten, wenn ihr Inhalt aus dem sozialen Empfinden geschwunden ist. […]

Wer trägt die Schuld an den vielen zerstörten, glücklosen Ehen unserer Zeit? In der Regel nicht der Mann, nicht die Frau: die Ehe trägt die Schuld. Ja, wenn man zur Entwickelung eines Menschen sagen könnte: Bleib wie du bist, oder entwickele dich in der selben Richtung wie der, dem du dich vermählt hast. Ob zwei Menschen, die die Ehe vereint hat, sich auseinanderleben oder gleichen Schritt mit einander halten werden, kann niemand vorausbestimmen. Treue in der Liebe ist keine innere Verpflichtung. Ich kann nicht versprechen dich morgen zu lieben, weil ich dich heut geliebt habe. Ich kann nur versprechen nie das Band der Ehe lösen zu wollen.

Soll nun die Reform der Ehe in einer leichten freien Scheidung bestehen? Ja und nein. Ja sage ich im Hinblick auf das Elend so vieler Ehen. Für die Frau ist die Scheidung fast immer etwas unendlich Schweres. Hat sie die Fessel abgestreift, bleibt ihr die Empfindung, als schleppe sie die Kette noch hinter sich her. Alles hat sie durch den Mann, von dem Mann: ihre soziale Stellung – sie trägt seinen Namen und Titel –, er nährt, kleidet sie und die Kinder, er bestreitet ihre Vergnügungen. Die Geschiedene gerät in der Regel in eine dürftige Lage und sinkt in der Schätzung der Gesellschaft. Der Mann verliert bei der Scheidung nichts als die Frau, die er eben los sein will. Demnach ist anzunehmen, dass nur zwingende äussere oder innere Gründe die Frau zu einer Scheidung drängen werden. So wäre doch die möglichst leichte Scheidung geboten? Es scheint so.

Die Ehe kann das Schönste, aber auch das Schrecklichste sein. Das Schönste: Einsamkeitserlösung, Sehnsuchtserfüllung für die Frau, ein Tuskulum der Seele für den Mann. Für beide ein Rosenblühen auch noch im Winter. Das Schrecklichste, wenn sie wie eine Wanderung über ein Feld von Brennesseln ist, ewig Verwundungen fühlend. Es ist das Recht des Mannes von der Frau die eheliche Liebespflicht zu fordern, auch wenn ihr diese Pflicht widerstrebt. Eine keusche, sensitive Frau empfindet diese Pflicht, ohne den hinreissenden Impuls zur Hingabe, als etwas Widriges, ihre Schamhaftigkeit tödlich Verletzendes. Ja, es gibt Frauen, die diesen Anspruch des Mannes als eine Vergewaltigung empfinden. Bei exzentrischen, leidenschaftlichen Frauen kann dieser Widerwille sich bis zum Hass, bis zur Vorstellung von Mord oder Selbstmord steigern. Selbstverständlich wird diese Empfindungsart nicht von allen Frauen, die in der Ehe sich dem Manne ohne Liebe geben, geteilt. Man hat die Hingabe in der Ehe ohne Liebe wohl als legale Prostitution bezeichnet. Nicht ganz mit Recht. Bei weiblichen Dickhäutern mag die erotische Ehegemeinschaft mit Gelassenheit, als ein notwendiges Übel, hingenommen werden. Man gewöhnt sich. Nicht selten aber werden edlere Motive dabei ausgelöst: ein – wenn man will – schwärmerisches Pflichtgefühl, ein Altruismus, der das eigene Ich zu gunsten eines andern ausschaltet; eine Güte des Gebens, dem selbstsüchtigen Nehmen des Mannes gegenüber. Und fromme Frauen gibt’s, denen die Ehe ein Sakrament ist, das selbst widrige Pflichten heiligt. Dazu kommt der lebhafte Wunsch zur Erhaltung des Friedens, die Sorge, dass bei andauerndem Versagen des Gatten Neigung erkalten würde. Und kein Mittel gibt’s gegen das Erlöschen der Erotik? Keins! Auch die herzlichste Sympathie der Gattin für den Gatten vermag nicht das Erlöschen der Erotik zu hindern. Ein Sprung in der Liebe lässt sich kitten. Aus der Asche einer toten Liebe schlägst du keine Funken mehr. […] Mir scheint, innerhalb der Ehe bedingt das Entschwinden der erotischen Empfindung noch keine unglückliche Ehe. Die Erotik ist nicht oder braucht nicht der Kern der Ehe zu sein. Eine Blüte ist vom Baum der Ehe gefallen. Edle Früchte kann sie noch tragen. Es bleiben die Kinder, die gemeinsamen Interessen, die herzliche Gewohnheit des Miteinanderseins, des Mitteilens und Teilens von allem Leid und aller Freude. Die ruhevolle Wohligkeit eines friedlichen Heims. Und die Freundschaft bleibt, und Liebe und Zärtlichkeit auch. Kann wenigstens bleiben. […]

Allein, es gibt sehr viel Ehen, in denen die Gegensätze zwischen Mann und Frau unüberbrückbar sind. Ist die Frau verpflichtet auch in einer solchen Ehe auszuharren? Nein. Wer sich zum Sklaven eines Schicksals macht, das er bekämpfen, überwinden kann, ist feig, ist dumm. Eine Feigheit, um äusseren Ärgernissen zu entgehen, innere Zerstörungen zu dulden. Wir passen uns so lange an, schmiegen, bücken, krümmen uns, bis wir nach unten wachsen anstatt nach oben, bis der Baum unseres Lebens seine Krone verloren hat. Wie? Auf den Irrtum – einen gar nicht zu umgehenden – eines unerfahrenen, jungen Geschöpfes, soll ein harte, lebenslängliche Strafe stehen? Furchtbar der Anblick zweier Menschen, die sich gegenseitig erniedrigen, zerstören, vielleicht in einem kleinlichen Krieg aller Tage, oder in einer Abneigung, die auf der Gegensätzlichkeit all ihres Denkens, Fühlens, Wollens oder auf einem physischen Widerwillen beruhen kann. Einem schauerlichen Hospital für Inkurable gleichen solche Ehen. Nicht ein Rausch der Unvernunft, der diese zwei an einander kettet? Ein Verbrechen der Ethik? Ein Idiotismus der Tugend? Nicht sonderbar, dass die Gesetze diesen Seelenmorden ihren Beistand leisten? Einen Irrtum zu widerrufen ist das Gebot ehrenhafte Gesinnung. Das Verbot den Irrtum einer Eheschliessung zu widerrufen ist der Ehre und der Moral bar. Kommt in der Eheanschmiedung nicht tiefe Menschenverachtung zum Ausdruck? […]

Und doch und doch: Von einem andern Standpunkt aus, einem berechtigten, ist die freie Scheidung abzulehnen. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frau ist ihre Voraussetzung, sie ist ohne diese undurchführbar. Wer soll die Frau erhalten, wenn sie sich nach einigen Jahren der Ehe von ihrem Mann trennen will, auch wenn es aus stichhaltigen Gründen geschieht? Der Mann? Wie käme er dazu? Ist er nicht berechtigt mit einer andern Frau ein neues Glück zu suchen? Und wäre er selbst bereit und im stande das Geldopfer zu bringen: welche Frau hätte die Indezenz ihre Existenz von ihm bestreiten zu lassen? Die kleine Minorität der reichen Frauen kommt nicht in betracht. Von ihnen wird der Mann ungern sich scheiden, denn: treu dem Gelde ist gern der Mensch. Demnach: für diejenigen Frauen, die Beruf und Mutterschaft nicht zu vereinigen wissen, muss es bei der alten niet- und nagelfesten Ehe bleiben, mit dem ernährenden Mann als Herrn und Oberhaupt, mit der erschwerten Scheidung. Erleichterungen der Scheidung mag man der Frau gewähren, nicht dem Mann, denn der Frau fallen alle Nachteile der Scheidung zu. Für die hilflose, abhängige Frau wird die unglückliche Ehe zu einer unsittlichen Notwendigkeit. Die Tragödie beginnt. Der Dichter walte seines Amtes: der Vorläufer des Sozialreformers.

Nun möchte ich das Thema Die freie Ehe erörtern. Alle geplanten Reformen werden schliesslich zur freien Ehe führen, mag ihre Verwirklichung auch einer fernen Zukunft vorbehalten sein. Dass eine durchgreifende Umgestaltung der geltenden, streng bindenden Eheform die wirtschaftliche Selbständigkeit der Frau zur Voraussetzung hat, habe ich an anderer Stelle bereits ausgeführt. Ist hingegen die Frau in ihrer materiellen Existenz unabhängig vom Mann, so ist damit eine Situation gegeben, die logischerweise zu einer Neugestaltung der Ehe führen muss. Nicht Mann über Bord wird es heissen, aber der Herr über Bord. Zwischen zwei Ebenbürtigen gibt es nicht Herren und Untergebene. Sicher, der stärkere Charakter wird das Übergewicht haben. Es kann ebenso gut der Mann wie die Frau sein. Fossile, – lächerliche Gesetzesbestimmungen, die die Frau versklaven, müssen fallen. […]

Innerhalb der Frauenbewegung spalten sich die Fürsprecherinnen der Ehereformierung in zwei Parteien: eine gemässigte und eine radikale. Die Gemässigten oder die Rechte bilden die Zeitgemässen, die das zunächst Erreichbare erstreben. Auch diese Reservisten in der Ehefrage, die, auf dem Unterbau der legalen Ehe, durch Ergänzungen und Beseitigungen, sich bemühen der Ehe eine würdigere und beglückendere Stätte zu bereiten, sie sind willkommen. Haben sie die soziale und rechtliche Gleichstellung der Geschlechter, die ökonomische Selbständigkeit der Frau und eine erleichterte Scheidung bewirkt, dann mag immerhin für melodische Seelen irgend eine stimmungsvolle Zeremonie die Ehe einleiten. Dann mag man zwischen den Willen zur Scheidung und der ausgesprochenen Scheidung eine mehrmonatliche Frist setzen, zum Schutz der Allzuscheidungsbereiten. Die Radikalen (oder die Linke) verneinen jede gesetzlich bindende Form der Ehe. Es sind die Unzeitgemässen – Nietzsche hält gerade diese für die eigentlichen Kulturförderer –, Schauerinnen der Zukunft, Theoretikerinnen. […]

Neue Ethik – alte Ethik! Der Kampf zwischen dem Gestrigen und dem Heutigen ist ein evolutionistisches Weltprinzip. Warum befehden sich die beiden Denkrichtungen so wütend mit dem Ecrasez linfame?Unverständlich ist mir das Identischsein von Gegnerschaft und Feindschaft. Ich nenne denjenigen moralisch, der in Wort und Tat seinen tiefsten Überzeugungen aus eigenster Erkennenskraft folgt. […]

Die hitzigen Gegner der freien Vereinigungen verwechseln in der Regel das Verhältnis mit der freien Ehe. […] Die Frau aber in der freien Ehe ist nicht die Geliebte des Mannes, sie ist sein Weib. Die freie Ehe wird, ebenso wie die standesamtliche, in der Hoffnungsfreudigkeit eines dauernden Beieinanderseins von den Liebenden geschlossen. Alle beglückenden Momente der legalen Ehe würden auch in der freien Ehe ihre Verwirklichung finden: das Behagen einer gemeinsamen Häuslichkeit, die Interessengemeinschaft, das Elternglück. Nur die Umgitterung fällt fort, die den nicht mehr Liebenden, nicht mehr Befreundeten den Weg ins Freie sperrt. Freilich fällt mit der Umgitterung auch die feste Verankerung in einem sicheren Hafen, den die versorgungsbedürftige Frau nicht entbehren kann. Die durch sich selbst versorgte Frau kann ihn entbehren. Mit scheinbarem Recht sagen die Gegner der freien Vereinigungen: Die alte Eheform mit ihren Einengungen und Freiheitsbeschränkungen mag für dich nicht nötig sein, zum Schutz der Gesamtheit ist sie es. […]

Steht wirklich der Anspruch einer radikalen Ehereform dem Gemeinwohl entgegen? Nie und nimmer. Was mich persönlich erniedrigt, verzehrt, was in meinen reinsten Stunden mein Gewissen, meine Vernunft verwirft, das muss das Falsche, das Unsittliche sein.

[…]

Übrigens, eine unmittelbare Gefahr droht der legitimen Ehe nicht. Zur Beschwichtigung schwer beunruhigter Gemüter sei’s gesagt. Die Majorität der Menschen denkt noch gar nicht daran des Ariadnefadens entraten zu wollen. Kann nicht daran denken in einer Zeit, wo die gesetzliche Ehe für alle diejenigen, die vom Staat abhängen, Existenzbedingung ist. In einer Zeit, wo der Polizei noch die Befugnis zusteht gegen Paare, die in freier Ehe leben, einzuschreiten. Im sicheren Port der Gesetzlichkeit bleibt von Herzen gern die Mehrzahl der Frauen, aus aufrichtiger oder ihr suggerierter Überzeugung oder aus praktisch weltlicher Klugheit. Wenn ich nicht irre, ist es für einen Aristokraten durchaus unstatthaft an die Deszendenztheorie zu glauben. Ebenso wenig wird die höhere Bürgersfrau oder die Weltdame der freien Ehe huldigen. Es beziehen die Individuen ihre Spezialanschauungswelt von ihrer Gesellschaftsschicht. Sie haben das Kollektivgewissen ihrer Klasse. Wer da aus Reih und Glied tritt, erscheint den Standesgenossen als ein Fahnenflüchtiger. Er riskiert das Los eines Offiziers, der zum Gemeinen degradiert wird.

Die zu eigener Ethik Erweckten bilden vorläufig eine winzige Minorität. Und auch unter ihnen sind wenige Paare erst von der Ideenpropaganda zur Propaganda der Tat geschritten. Und ich meine: Wie man auch heut schon in geistig verfeinerten, vorurteilslos vorwärtsschauenden Kulturkreisen den Menschen, mit dem man verkehren möchte, nicht fragt, ob er Katholik ist oder Muhamedaner, Buddhist oder Jude, so fragt man in diesen Kreisen auch der Form nicht nach, in der zwei Menschen in Liebe sich vereinigten. Nach ihren geistigen und seelischen Qualitäten schätzt man sie ein, und danach sucht oder meidet man ihren Umgang. Der Gesamtwert ihrer Persönlichkeit entscheidet. Die Kulturgeschichte bezeugt, dass nicht nur Zuchtlosigkeit, dass auch herzzerreissender Jammer von jeher, zu allen Zeiten und unter allen Völkern, eine Begleiterscheinung der Zwangsehe gewesen ist. Und immer und immer hat die Unwiderruflichkeit der Ehe antiken und modernen Dichtern – von Sophokles bis zu den modernen Ehebruchsdramen – den Stoff für ihre Tragödien geliefert. Die Schlussfolgerung ist unabweisbar: Die rechte Form für das Sexualleben von Mann und Weib ist noch nicht gefunden. Mir scheint, noch niemals hat es eine Zeit gegeben, so erfüllt von der Sehnsucht nach einer Versittlichung, einer Idealisierung der Ehe wie die gegenwärtige. Ob die freie Ehe uns die Pforte zu einer sexuellen Idealwelt erschliessen wird? Seien wir des Spruchs eingedenk, dass selbst der Weiseste nicht auf ewig recht hat. Wie jeder Mensch seine Wiege und sein Grab, so hat auch jedes soziale Gebilde Geburt und Tod.

Die Idee der freien Ehe hat einen mächtigen Bundesgenossen, zu dem Gott selbst aus dem feurigen Busch sprach. Es ist der Geist der Zeit.

[…] Ein langer Weg war’s von dem sakramentalen Traualtar bis zum profanen Standesamt. Lang wird der Weg sein vom Standesamt bis zur freien Ehe. Langsam vollzieht sich bei den Menschen das Umfühlen, Umdenken; langsamer noch setzt sich das Umgedachte, Umgefühlte in Taten um.

Der Geist der Zeit. Der Geist der Freiheit ist’s. […] In dem hochkultivierten Finnland haben die Frauen das Stimmrecht erlangt. Die Dienstboten stehen im Begriff freie Arbeiterinnen zu werden. Die Arbeiter tun sich gruppenweise zusammen und lassen sich von Berufenen unterrichten, um geistig frei zu werden. Und die Frauen! Die Frauen! Verschüttet seit Jahrtausenden waren ihre Kräfte.

Gewonnen sind sie nun für die Kultur. Und die phänomenalen Triumphe der Technik! Nicht umsonst steuern die Luftschiffe durch den Äther, durchsausen die Automobile die Welt und spannen unsere Nerven zu einem Hinaus! Vorwärts! Ins Weite, Freie, Endlose! Grenzpfähle stürzen, die für Ewigkeiten errichtet schienen.

Wir antizipieren die Flügel, die wir einst haben werden. Licht, Luft, Freiheit sind die weltliche Dreieinigkeit unserer Zeit. Nach dieser Dreieinigkeit ringt auch die Ehe. Die Seelen all der Frauen, die ihr Leben nicht leben durften, kämpfen mit uns für die Menschwerdung des Weibes, wie die Geister der Gefallenen in jenen sagenhaften Kriegen an der Seite der Lebendigen kämpften.


[1] Dohm, Hedwig, Über Ehescheidungen und freie Liebe, in: Sozialistische Monatshefte 13 (1909), S. 842–849, URL: http://library.fes.de/cgi-bin/digisomo.pl?id=03076&dok=1909/1909_13&f=1909_0842&l=1909_0849 (28.03.2012).


Für das Themenportal verfasst von

Margareth Lanzinger

( 2019 )
Zitation
Margareth Lanzinger, "Wir antizipieren die Flügel, die wir einst haben werden". Hedwig Dohms Ehekritik als Gesellschaftskritik und utopischer Entwurf, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2019, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1715>.
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