Kohlebäume: Darstellungen von Industrie und Wissenschaft in politischen Dimensionen (1900–1945)

Ein „Kohlebaum“ ist eine schematische Darstellung von chemischen Verbindungen und Stoffen, die aus Kohle gewonnen werden konnten und in der Chemieindustrie Verwendung fanden. Diese Art von Darstellungen kam in den 1920er-Jahren dort in Mode, wo die Industrie der Nebenprodukte der Kohle einen wichtigen Wirtschaftszweig darstellte. Verschiedene Darstellung von „Kohlebäumen“ sind als Quelle übermittelt. Mithilfe dieser Bildquelle möchte der Beitrag einen Einstieg in eine Industrie, Wissenschaft und Alltag erheblich mitgestaltentende Gruppe von Stoffen bieten. Solche Baumdiagramme, die die verzweigte Baumkrone von Stoffen der Kohle, von Benzol, von Erdöl oder von Sodium zeigten, waren als Überblick für ein breites Publikum und für Expert:innen gedacht. Die im Baumdiagramm dargestellten Kohleprodukte wurden in Deutschland, Frankreich und den USA zu alltäglichen Gegenständen, so dass Kohlebäume auch als Werbung eingesetzt wurden. Sie stellten ein Wissen eines Industrieunternehmens dar, das in einigen Fällen national überhöht wurde, und bildeten Gleichzeitig ein Instrument von Wissensverbreitung und -erklärung. Heute ist diese Form der Darstellung eine Sonde in eine Geschichte von Stoffen, Industrieentwicklung und Politik.

Kohlebäume:Darstellungen von Industrie und Wissenschaft in politischen Dimensionen (1900–1945)[1]

Von Helge Wendt

Die Quelle ist ein Bild oder eine Gruppe von bildlichen Darstellungen. Zu sehen ist jeweils ein Kohlebaum, eine schematische Darstellung von chemischen Verbindungen und Stoffen, die aus Kohle gewonnen werden konnten und in der Chemieindustrie Verwendung fanden. Diese Art von Darstellungen kam in den 1920er-Jahren dort in Mode, wo die Industrie der Nebenprodukte der Kohle einen wichtigen Wirtschaftszweig darstellte. Baumdiagramme, die die verzweigte Baumkrone von Stoffen der Kohle, von Benzol, von Erdöl oder von Sodium zeigten, waren als Überblick für ein breites Publikum und für Expert:innen gedacht. Heute sind sie Sonden in eine Geschichte von Stoffen, Industrieentwicklung und Politik.

Mit der chemischen Industrialisierung der Jahrhundertwende um 1900 waren die Nebenprodukte und synthetischen Stoffe dermaßen zahlreich geworden, dass sogar professionelle Chemiker nicht immer wussten, aus welchen Grundstoffen und Zwischenprodukten ein in der Industrie verwendeter oder hergestellter Stoff gewonnen worden war. Sie arbeiteten nämlich nur noch mit den „fertigen“ organischen Gemischen. Der Vertrauenskrise, in der sich die Chemieindustrie seit ihrer Teilhabe an den verbrecherischen Gasangriffen im Ersten Weltkrieg intern und in externen Darstellungen befand, versuchte man über eine bessere Kommunikation und mit größerer Anschaulichkeit entgegenzuwirken, ohne dabei eine epistemologische Kritik der Zusammenhänge in der Stoffgenese aus Kohle anzubringen.[2] Gleichzeitig zeigt sich, dass die schematische Darstellung eine als besonders anschaulich konzipierte Werbung für die jeweils einheimische Kohleindustrie enthielt. In der europaweiten Brennstoffkrise der 1920er-Jahre musste sich die Kohleindustrie behaupten und die in den USA verstärkt aufkommende wirtschaftliche Macht des Erdöls befürchten.[3]

Der hier dargestellte Kohlebaum erschien im zigtausendfach aufgelegten Buch „Weltmacht Kohle“ von Hans Hartmann. Der Autor stellte die vergangenen einhundert Jahre zuvorderst der deutschen Forschung an Kohle und ihren Nebenprodukten vor. Er blendete einige europäische Entwicklungen aus und betonte im nationalsozialistischen Entstehungskontext eine deutsche Geschichte der Forschung und industriell-chemischen Weiterverwendung von Steinkohle.[4] Hartmann war sicherlich kein Experte auf dem Gebiet der Steinkohlenchemie; er wurde in Theologie promoviert und arbeitete in den späten 1920er- und in den 1930er-Jahren (sowie nach dem Zweiten Weltkrieg) zu Themen der Popularisierung von Philosophie und Wissenschaft. Seine Haltung zur NS-Ideologie beschreibt Bernd Sösemann als ablehnend.[5] Dennoch vertritt er eine entschieden nationalistische Sicht auf die Entwicklung der organischen Chemie und der industriellen Verwertung von mit Steinkohle verbundenen Stoffen. Auch greift er in seinem Buch Großbritannien an, dem er vorwirft, sich in den Kolonialgebieten auf unzulässige Weise der Steinkohlevorkommen bemächtigt zu haben. So wird nicht nur der Text, sondern auch die schematische Darstellung als Kohlebaum zu einem politischen Manifest über einen global bedeutenden und im Alltagsleben der Menschen weltweit angekommenen Stoff. Dieser lebt in den vielen nützlichen Gegenständen fort, die aus dem Stammstoff (Kohle) gewonnen werden konnten.

Um die politische Seite und die Dimensionen der Stoffdiffusion nachzuvollziehen, hilft es, andere Wissensbäume zum Vergleich heranzuziehen. Wissensbäume sind eine als Organigramm benennbare Darstellungsform, die eine abgrenzbare Einheit von Wissen bildlich darstellen, mitunter jedoch zeitliche und räumliche Dimensionen, Unterbrechungen und abseitige Entwicklungen nicht mit einbeziehen. Ordnen Wissensbäume Wissensbestände für ein breiteres Publikum, so können sie auch Fachleuten vor Augen führen, auf welche Art Dinge zusammenhängen oder als eine Einheit gedacht werden sollen. Insofern sind Wissensbäume nicht nur ein Produkt von Forschung, sondern geben aufgrund ihrer Darstellungsform zu weiterer Wissensschöpfung Anlass.[6]

Die Tradition reicht bis ins Mittelalter zurück, obwohl umstritten ist, ob es tatsächlich eine Genealogie dieser Darstellungsweise gibt.[7] Als Darstellung von Wissen über Entwicklungen in der Vergangenheit sticht besonders Charles Darwins Great Tree of Life im Buch „On the Origin of Species“ hervor.[8] Petter Hellström benennt in seinem Buch „Trees of Knowledge“ Wissensbäume als eine besonders ikonografische – und damit meint er eine eindrücklich Verständnis transportierende – Form der Wissensvermittlung, die durchaus einen zeitlichen Verlauf und eine organische Einheit darstellt.[9] Der Baum des Lebens in Darwins bahnbrechendem Werk war als eine Visualisierung möglicher Veränderungen von Tierarten konzipiert. Der Lithograph William West ordnete die Varianten einer mit einem Großbuchstaben (z.B. A) bezeichneten Art durch eine Kombination von Kleinbuchstaben (a) und Zahlen (1) einander zu und folgte dabei einem Entwurf in Darwins Notizbüchern.[10] Konkreter bezeichneten Baumdiagramme in einem Brief Darwins an Charles Lyell die Tierarten, die miteinander einen Verwandtschaftsgrad aufweisen sollten, weil sie sich aus einem „wahrhaftigen“ gemeinsamen Vorfahren heraus entwickelt hatten.[11] Diese Einheit einer Art oder Rasse wurde zu einem der Hauptmerkmale der Wissensbäume.

Hartmanns Kohlebaum scheint beim ersten Eindruck neutral einander zugeordnete Stoffe darzustellen. Diese sind in einer gewissen Reihenfolge, ja in einer gewissen Hierarchie in ein Baumschema gebracht. Deutlich wird ein visualisierter prozessualer Verlauf (eine Art Genealogie oder Evolution wie bei Darwin),[12] an dessen Beginn der Ausgangsstoff Kohle steht. Aus diesem wird beispielsweise Steinkohlenteer gewonnen wird, aus dem in einer nachgeordneten Stufe dann verschiedene Öle oder Pecharten erzeugt werden können. Häufig waren diese Öle und Pecharten, wie schon der Steinkohlenteer selbst, Abfallprodukte von Verfahren, bei denen Kohle verarbeitet wurde. Dieser Teil der chemischen Industrie ist demnach als eine Abfallverwertung zu verstehen, die aufgrund ihrer zunehmenden Bedeutung jedoch zu einer die Kohleförderung antreibenden Kraft wurde.[13]

Tatsächlich stellt der Kohlebaum einerseits verfahrenstechnische Prozesse dar. Er weist aber auch eine zweite, wissensgeschichtliche Dimension auf. Wenn in den chemisch-industriellen Verfahren ein nachgeordneter Stoff nur aus einem näher zum Stamm angeführten Stoff gewonnen werden kann, dann entspricht dies in gewisser Weise auch dem wissenshistorischen Erkenntnisprozess oder einer Epistemogenese.[14]

Steinkohlenteer beispielweise nimmt eine zentrale Position im Kohlebaum ein. Steinkohleteer fiel massenweise bei zwei industriellen Verfahren an, die mit den Dampfmaschinen, der Straßenbeleuchtung mit Gaslaternen und der Erzeugung elektrischen Stroms durch Kohle- oder Koksverbrennung erheblich zunahmen: bei der Vergasung und bei der Verkokung von Steinkohle. Jahrzehntelang wurde dieses Abfallprodukt auf Halde gelagert. 1846 veröffentliche der in Gießen und London arbeitende Liebig-Schüler und Chemieprofessor August Wilhelm Hofmann seine Erfindung, aus diesem Abfall den Stoff Anilin zu isolieren, der sich hervorragend für das Färben von Textilien eignete. Die Anekdote wurde in dem NS-Roman (der noch in der Bundesrepublik eifrig verlegt und gelesen wurde) „Anilin“ von Karl Aloys Schenzinger aus dem Jahr 1936 dargestellt und national überhöht.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden in verschiedenen deutschen Staaten, in England und in Frankreich eine Vielzahl von Anilinfabriken und Färbereien, die sich auf den Umgang mit diesen Teerfarben spezialisierten. Später schwappte diese Welle auch in die USA über, wo die Kohleproduktion und die Montanindustrie seit den 1880er-Jahren einen erheblichen Aufschwung nahmen.[15] Eng verbunden war der Industriezweig der Teerfarben mit der Elektrifizierung und den städtischen Gasanlagen. Denn in den urbanen Zentren fiel, neben den Montanrevieren, der Großteil dieses nützlichen Abfalls an, der nun die stoffliche Grundlage für neue Industrieproduktion bildete.[16]

Diese Entwicklung gestaltete sich in England nicht anders als in Deutschland oder Frankreich. Ein bekannter deutschsprachiger Kohlebaum befindet sich im Pharmarziemuseum der Universität Basel. Er wird auf Wikipedia Commons um das Jahr 1900 datiert, was möglicherweise präzisiert werden kann, weil mit Bakelit ein Stoff aufgeführt ist, der wahrscheinlich erst 1909 patentiert wurde und erst dann in einem Kohlebaum abgebildet werden konnte.[17] Bakelit wird in der Baseler Darstellung als Phenolderivat dargestellt, als das es der belgischstämmige Leo Hendrik Baekeland durch Verbindung mit Formaldehyd 1907 in New York erfand.[18]

Im Vergleich zu den deutschsprachigen Kohlebäumen aus Basel und von Hartmann legten englischsprachige Kohlebäumen weniger Wert auf die Darstellung der verschiedenen synthetischen Farbstoffe. Der Kohlebaum der Koppers Production von 1934, ein Standort der American Tar Products Company in Cicero (Illinois), teilte die vom Stamm abgehenden Hauptzweige in Teer, Koks, Gas, Stickstoff und Leichtöl auf.[19]

Die mit Eichenblattdarstellungen verzierten Feinäste widersprachen dem produktionstechnischen Verlauf in gewisser Weise. Denn eigentlich hätte die Hauptverzweigung, wie es im Präsentationstext richtig heißt, von der Verkokung ausgehen müssen, aus der dann Teer, Koks und in einem späteren Schritt Gase und Öle gewonnen wurden. Stattdessen wird eine chemieindustriell bereits wichtige Trennung in Zwischenprodukte unternommen, die die weitere Verwertung vorwegnimmt.

Die beiden sehr detailreichen Darstellungen bei Hartmann und der Koppers Product Company weisen Unterschiede auf, die entweder auf andersartige Vermittlungsformen hinweisen oder möglicherweise andere Produktionsverfahren beinhalten. Ähnlich ist beispielsweise der Zweig bei Koppers „Coke – Retort Carbon“, der zu Kohlen (Carbons) und zu Electrodes ausästelt. Bei Hartmann ist der Zweig folgendermaßen gestaltet: „Grafit – Element-Kohle – Elektroden-Kohle“. Hartmann stellte andererseits Karbolsäuren als eine aus Mittelöl gewonnene Stoffgruppe dar, während diese bei Koppers aus Teersäuren und basischem Teer erzeugt wurden. Die Unterschiede in den verschiedenen Darstellungen erklären sich aus dem anvisierten Zielpublikum, der Konzentration auf Einzelaspekte oder unterschiedlichen Produktionsverfahren.

Unter Anerkennung der Entwicklung der chemischen Industrien in anderen Ländern konnten in der Fachliteratur der 1920er-Jahre die internationalen Verbindungen in der Teerindustrie oder in der Kohleverflüssigungsforschung aufgezeigt werden. Friedrich Bergius, der Verfahren zur Verflüssigung von Kohle erheblich vorantrieb, versuchte mittels Publikationen in US-amerikanischen Zeitschriften beispielsweise, internationale Investoren für den Aufbau von großtechnischen Anlagen zu finden.[20] Auch die Verwendung von Polymeren, also Formen des Hartplastiks, weist transatlantische Verbindungen auf. Das im Staat New York hergestellte Bakelit wurde ab 1910 dank eines exklusiven Kooperationsvertrags in den Rütgerswerken in Erkner (bei Berlin) unter Leitung von Gustav Kraemer produziert.[21]

Schemadarstellungen der Folgeproduktgenese von Steinkohle erschienen auch in spezialisierten, nicht an ein breites Publikum gerichteten Publikationen. Kraemers Mitarbeiter in Erkner, Richard Weißgerber,[22] nutzte ein Schema in seinem 1923 veröffentlichten Buch zur chemischen Weiterverwendung von Steinkohlenteer, um beispielsweise die aus Leichtöl aufbereiteten Stoffe der Benzol-Gruppe aufzuzeigen.[23]

Solche hoch spezialisierten Darstellungen hätten die allgemeinen Kohlebäume aufgrund der feinen Verzweigung überlastet. Aber auch hier ist die bildliche Veranschaulichung von genealogischen Prozessen ein Hilfsmittel, um Stoffverwandtschaften und chemische Verfahren darzustellen.

Die Kohlenbäume geben keine Information über die produzierten Mengen oder die Mengenanteile, mit denen Folgestoffe aus einem vorherigen Material gewonnen wurden. Solche Informationen finden sich in spezialisierten Baumdiagrammen, wie Richard Weißgerber zur Destillation von Ölen aus Steinkohlenteer zeigte, wobei 55 Prozent Pech als Abfallstoff anfiel, der für die Herstellung von Asphalt, Briketts oder Dachpappe weiterverarbeitet wurde.[24]

Kohleforschung war zu einem besonderen Zweig im späten Kaiserreich geworden. Führende Physiker wie Heinrich Hertz oder Rudolf Clausius hatten in den 1890er-Jahren Projekte einer Abkehr von der mobilen Dampfmaschine vorgelegt und verfochten einen Ansatz der umfassenden Elektrifizierung von Haushalten und Verkehr.[25] Die materielle Basis für den Strom konnte aber nur Kohle sein, denn andere Stromgewinnungstechnologien boten keine ausreichenden Kapazitäten – wie schon Thomas Hughes in „Networks of Power“ gezeigt hat.[26] Sollte die thermische Umwandlung der Kohle in Heizwerken somit zum Nachteil der mobilen Dampfmaschinen ausgeweitet werden, musste sich die damalige Forschung auf andere Formen der Ausbeutung des Rohstoffs konzentrieren, der auf den unterschiedlichen Nationalterritorien zwar ausreichend gefördert, dessen Endlichkeit jedoch allgemein befürchtet wurde. Die Forschung fand besonders in den Laboren großer Firmen statt. In Frankreich waren beispielsweise die Stahlwerke von Creusot in der Nebenprodukt-Forschung führend.[27] In den USA arbeiteten neben Regierungskommissionen auch Bergbauunternehmen (wie die Koppers Company) und Elektrizitätsunternehmen in diesem Bereich.[28] Im Deutschen Reich war es die Badische Anilin- und Sodium-Fabrik (BASF), die besonders von der Zulieferung mit Steinkohlenteer und seinen Derivaten abhing. Auch die AG für Anilin-Fabrication (AGFA) oder die Rütgerswerke forschten an erweiterten Verwendungsmöglichkeiten in ihren industriellen Sektoren. Große Unternehmer wie Hugo Stinnes unterstützten die bei der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft angesiedelte Grundlagenforschung finanziell. So konnte 1912 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Kohlenforschung in Mülheim gegründet werden, weil Unternehmer aus der Montanindustrie enorme Finanzierungszusagen gemacht hatten. Das neue Institut nahm seine Arbeit erst nach dem Ersten Weltkrieg auf, inmitten einer schwerwiegenden Wirtschafts- und Energiekrise. Gründungsdirektor Emil Fischer betonte die Bedeutung der Kohle als Energieträger, wozu er durch Katalyseverfahren die „inneren Werte“ der Kohle steigern wollte.[29] Ein anderes, wahrscheinlich 1924 in Freiberg gegründetes Forschungsinstitut, das der dortigen Technischen Hochschule angegliedert war, untersuchte technisch verbesserte Nutzungsmöglichkeiten der Braunkohle und ihrer Nebenprodukte.[30]

In Frankreich waren die Voraussetzungen anders. Das größte Kohleabfälle nutzende Unternehmen war Solvay aus Belgien, das besonders in Lothringen Produktionsstätten in der Nähe der bestehenden Montanindustrie und wenigen Salzlagerstätten aufgebaut hatte. Dieses auf die Herstellung von Ammoniak-Soda-Verbindungen spezialisierte Unternehmen nutzte aus den Hochöfen anfallende Asche als einen Ausgangsstoff.[31] Nach dem Ersten Weltkrieg versuchte die französische Regierung, dies auch anderen Industriezweigen zu ermöglichen und damit unabhängig von deutschen Zwischenproduktimporten zu werden. Insbesondere die französische pharmazeutische Industrie bezog wohl bis Mitte der 1920er-Jahre noch einen Gutteil ihrer Grundstoffe aus Deutschland. Die größte Stickstofffabrik in Toulouse stellte täglich nur 160 Tonnen her, während die Leunawerke 1.000 Tonnen produzierten.[32] Diese schon vor dem Ersten Weltkrieg bestehende Ungleichheit[33] wollte die französische Regierung mithilfe einer dem Wirtschaftsministerium unterstehenden Commission de Carbonisation ausgleichen.[34] Der international aufgestellte Konzern Solvay konnte seine Alkalien-Produkte trotz der angespannten Rohstoffsituation in die verschiedensten Industriezweige einbringen: Der Wissensbaum der Solvay benennt unter anderem die Glas- und Emailleherstellung, die Farbenindustrie, Spreng- und Explosionsstoffe, Papier, Flüssigbrennstoff- und Gipsproduktion.

Der Erste Weltkrieg war ein bedeutender Einschnitt in der Kohleforschung. Die massenhafte Produktion und der desaströse Einsatz von Gasen, die aus der Synthese der Kohlen gewonnen wurden, stellten schon damals die produktive wie zerstörerische Seite der Kohlechemie vor Augen.[35] Mit der Energiekrise nach dem Kriegsende ergab sich neben einer Umstellung der Chemieindustrie auf eine Nachkriegswirtschaft die Herausforderung der Brennstoffversorgungssicherung. Aufgrund des ungeklärten Status des Saarlandes musste die deutsche Chemieindustrie an Rhein und Main die Versorgung mit Kohleabfällen neu organisieren. Verschlimmert wurde die Lage durch die zeitweilige Besetzung des Ruhrgebiets durch französische Truppen – nun wurde die Kohlenchemie endgültig zu einem Thema nationaler Politik.[36]

1925 veröffentlichte der Berliner Ingenieur Walther Engel ein Buch mit Vorschlägen zur Bewältigung der Mangelwirtschaft. Zur Weiterverwendung von bei thermischem Kohleverbrauch entstehenden Schlackeabfällen präsentierte er acht verschiedene Verfahren, wie aus den Rückständen eine wiederverwertbare Kohle gewonnen werden konnte – eine sogenannte Industriekohle. Es handelte sich in erster Linie um eine Kombination aus mechanischen und thermischen Verfahren, in denen brennbare Bestandteile von Schlacken von nichtbrennbaren getrennt werden konnten. Engel sah in der Steigerung der Energieausbeutung einen Technologiezweig, der die Gesamtenergieleistung in Deutschland um 1,6 Prozent erhöhen und außerdem nach England exportiert werden konnte.[37] Dieser Teil der Forschung brachte zwar keine Baumdiagramme hervor, sollte aber in das Gesamtbild der Kohleforschung in den 1920er-Jahren einbezogen werden.

Bei der Beschäftigung mit dem Stoff Kohle zeigen sich die vielfältigen Verknüpfungen der Bereiche chemische Industrie und Energiewirtschaft. In dem wichtigen Bericht zur Lage der Energieversorgung in Pennsylvania von 1925 wurde ein Diagramm abgedruckt, das zwar nicht als Baum gezeichnet war, aber die Ver- und Abzweigungen der Kohleabfälle verwertenden Chemieindustrie abbildete. Auch hier waren die regionalen Besonderheiten der Kohletypen und Industrien leitend für die aus den Hochöfen- und Heizkraftwerksabfällen gewonnenen Kohleprodukte.[38]

Abfallnutzung und chemische Industrieproduktion erfuhren in den 1920er-Jahren einen erheblichen Aufschwung und zeigen auch die Langzeitfolgen der Kohlenutzung. Je mehr sich die Produktpalette verbreiterte, desto abhängiger wurden große Industriezweige vom Grundstoff Kohle. Teerfarben, Asphalte, Dachpappe, Medikamente, Backpulver, Seifen, Kabelisolierungen, Hartplastik, Stadtgas, Waschmittel, Lacke diffundierten zusammen mit vielen anderen Stoffen und Objekten des Alltags in alle möglichen Industriezweige und in jeden Haushalt, noch bevor Kunststoffkleidung der Baumwolle und dem Leinen Marktanteile abluchste.

Diese Nähe zum Alltagsleben zeigte sich auch in der Darstellung der Kohlenutzung in der „Illustrirten Zeitung“ von 1922.

Hier finden sich Auszüge eines Braunkohlebaums im Beitrag eines Hans Schraders zur Kohle als mittelbare Energiequelle und ein vollständiger Kohlebaum, der ohne direkten Bezug in einen Beitrag von Albert Neuburger zu minderwertigen Brennstoffen eingefügt ist.[39] Der Kohlebaum war, wie in der „Illustrirten Zeitung“ häufig, eine mit den Beiträgen abgestimmte Werbeanzeige der Verkaufsvereinigung für Teererzeugnisse GmbH, Essen, einer mit den Rütgers-Werken eng verbundenen Gesellschaft. Die leichte Verständlichkeit der ikonografischen Darstellungsweise eines Kohlebaums wird in dieser Darstellung durch eine erhebliche Reduktion und Ausschnitthaftigkeit des bildlich behandelten Gegenstands erhöht. Mehr als auf chemische Fachbegriffe legte dieser Kohlebaum auf die Verwendung von üblichen und für die Vermarktung gebräuchlichen Bezeichnungen Wert.

Dieselbe Verbindung von Produktwerbung und Alltagstauglichkeit verdeutlichen die Kohleproduktbäume, die von Koppers Products und von der Beckley Exhibition Coal Mine stammen.[40] Auch hier finden sich anstelle der abstrakten Bezeichnungen für chemische Verbindungen, die Hartmann in seinem Kohlebaum darstellte, die Namen der Gebrauchswaren.

Die Zeichnung des Beckley Kohlebergwerks beinhaltet sogar ein Rezept zur Herstellung einer depression flower – also einer durch Mischung von Kohle (Briketts), Salz, Wasser, Ammoniak und Farbmitteln entstehenden Kristallstruktur. Diese wohl besonders in den USA verbreitete Alltags- und Hauschemie aus dem Chemiebaukasten gewann eine große Beliebtheit in der Zeit der Weltwirtschaftskrise (Great Depression), die der Namensgeber dieser Kristallzucht war.[41]

Trotz dieser Alltäglichkeit bilden auch diese Kohlebäume einen politischen Zustand ab: Kohle erlangte in der Zwischenkriegszeit den Status eines in alle Bereiche diffundierten Rohstoffs. Die Kohlebäume zeigen, dass die industrielle Entwicklung über die vielfältige Verwendung von Kohlenstoff hinausging, der als Kohlendioxid und Kohlenmonoxid reichlich in den unterschiedlichen Kohlentypen gebunden war. Durch diese Produktvielfalt, die industrielle Schlüsselstellung und die militärische Position der Kohle wuchs den Bereichen der Wirtschafts- und Forschungspolitik eine zentrale Bedeutung zu. Kohlebäume sollten genau dafür sensibilisieren und sowohl der Fachwelt wie einem breiten Publikum verdeutlichen, wie die jeweilige nationale Wirtschaft vom Rohstoff Kohle geprägt war. Sie insinuierten dadurch auch, dass das gesamte Geflecht der nationalen Wirtschaft ohne eine staatlich unterstützte Kohleindustrie und Kohlenforschung in Gefahr geriet.



[1] Essay zur Quelle Kohlebaum. Bildliche Darstellung der Nebenprodukte von Kohle, in: Hans Hartmann: Weltmacht Kohle (1940), [SCAN], in: Themenportal Europäische Geschichte, 2023, URL: <https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-77978>.

[2] Vgl. dazu Rebecca Altman, How the Benzene Tree Polluted the World, in: The Atlantic, 4.10.2017, https://www.theatlantic.com/science/archive/2017/10/benzene-tree-organic-compounds/530655/.

[3] Margit Szöllösi-Janze, Losing the War but Gaining Ground: The German Chemical Industry during World War I, in: The German Chemical Industry in the Twentieth Century, Dordrecht 2000, S. 91–122.

[4] Hans Hartmann, Weltmacht Kohle, Stuttgart 1940.

[5] Bernd Sösemann, Zur historischen Orientierung – Beiträge von Hans Hartmann, in: Zur historischen Orientierung – Beiträge von Hans Hartmann, o.D., http://pressechronik1933.dpmu.de/zur-historischen-orientierung-beitrage-von-hans-hartmann/.

[6] Sybilla Nikolow / Lars Bluma, Die Zirkulation der Bilder zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Ein historiographischer Essay, in: Bernd Hüppauf / Peter Weingart (Hrsg.), Frosch und Frankenstein – Bilder als Medium der Popularisierung von Wissenschaft, Bielefeld 2009, S. 47–50, https://doi.org/10.25969/mediarep/12145.; Katja Mayer, Scientific images? How touching!, in: Science, Technology & Innovation Studies 7, Nr. 1 (2011), S. 29–45.

[7] Michael Borggräfe, Wandel und Reform deutscher Universitätsverwaltungen. Eine Organigrammanalyse, Wiesbaden 2019, S. 177–200.

[8] Petter Hellström, Trees of Knowledge. Science and the Shape of Genealogy, Uppsala 2019, S. 17.

[9] Ebd., S. 18, S. 230–235.

[10] Charles R. Darwin, On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, London 1859), S. 116f. Hilfreich für das Verständnis der Verbindungen von Notizbüchern und publiziertem Werk sind die Erläuterungen in John van Whye (Hrsg.), The Complete Work of Charles Darwin online (2002).

[11] Charles R. Darwin, The Life and Letters of Charles Darwin, Including an Autobiographical Chapter, hrsg. von Francis Darwin, Bd. 2, London 1887, S. 343.

[12] Hellström, Trees of Knowledge, S. 18–22.

[13] Vgl zum Thema Abfall, Verwertung und Wiederaufbereitung als gesellschaftliche Prozesse: Helmuth Trischler, Recycling als Kulturtechnik, in: Jens Kersten (Hrsg.), Inwastement. Abfall in Umwelt und Gesellschaft, Bielefeld 2015, S. 227–243; Heike Weber, Zeit- und verlustlos? Der Recycling-Kreislauf als ewiges Heilsversprechen, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 23, Nr. 12 (2020): S. 20–32, https://doi.org/10.25969/mediarep/14821https://doi.org/10.25969/mediarep/14821 .

[14] Vergleiche zu diesem Aspekt eine Arbeit, die die technisch-industrielle Entwicklung von Elektronenröhren als eine Form von Stammbäumen vorstellte: Willard C. Brinton, Graphic Presentation, New York 1939, bes. S. 58; zur weiteren Einordnung von Brinton siehe auch: Birgit Schneider / Christoph Ernst / Jan Wöpking (Hrsg.), Diagrammatik-Reader: Grundlegende Texte aus Theorie und Geschichte, Berlin 2016, https://doi.org/10.1515/9783050093833 .

[15] John J. Beer, Die Teerfarbenindustrie und die Anfänge des industriellen Forschungslaboratoriums, in: Karin Hausen / Reinhard Rürup (Hrsg.), Moderne Technikgeschichte, Köln 1975, S. 106–118; Alexander Engel, Coloring the World: Marketing German Dyestuffs in the Late Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: Regina Lee Blaszczyk / Uwe Spiekermann (Hrsg.), Bright Modernity. Color, Commerce, and Consumer Culture, Cham 2017, S. 37–53; Kathleen Steen, The American Synthetic Organic Chemicals Industry. War and Politics, 1910–1930, Chapel Hill 2014; Peter J.T. Morris / Anthony S. Travis, A History of the International Dyestuff Industry, in: American Dyestuff Reporter 81, Nr. 11 (1992), https://colorantshistory.org/HistoryInternationalDyeIndustryRev1/HistoryInternationalDyestuffIndustryOct6.pdf.

[16] Thomas P. Hughes, Networks of Power. Electrification in Western Society (1880–1930), London 1983.

[17]https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Basel_2012-10-02_Mattes_(91).JPG

[18] Leo Hendrik Baekeland, Bakelit, ein neues synthetisches Harz, in: Chemiker-Zeitung 35 (1909), S. 317f.

[19] Coal Products Tree. Koppers Production Company, Norfolk and Western Collection, Norfolk Southern Archives. Digital image courtesy of Special Collections, Virginia Tech, Blacksburg, VA.

[20] Friedrich Bergius, New Uses for Coal and Wood. Scientists, Seeking New Industrial Uses for Wasted Raw Materials, Produce Gasoline from Coal and Seek to Make Food from Wood Pulp, in: Scientific American 140, Nr. 4 (1929), S. 322–324.

[21] Baekeland, Bakelit; Wiebe E. Bijker, Of Bicycles, Bakelites, and Bulbs: Toward a Theory of Sociotechnical Change, Cambridge/London 1997; Joris Mercelis, Beyond Bakelite: Leo Baekeland and the Business of Science and Invention, Cambridge 2020, http://ebookcentral.proquest.com/lib/mpiwissberlin-ebooks/detail.action?docID=6120948.

[22] Hans-Georg Schäfer, Kraemer, Gustav in: Neue Deutsche Biographie 12 (1980), S. 637 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd117539201.html#ndbcontent

[23] Richard Weißgerber, Chemische Technologie des Steinkohlenteers: Mit Berücksichtigung der Koksbereitung, Leipzig 1923, S. 64.

[24] Ebd., S. 136.

[25] Heinrich Hertz, Der Energiehaushalt der Erde, zuerst 1885, wieder in: Fridericiana 54 (1998), S. 3–15; Rudolf Clausius, Ueber die Energievorräthe der Natur und ihre Verwertung zum Nutzen der Menschheit, Bonn 1885.

[26] Hughes, Networks of Power.

[27] Robert Brunschweig / Charles Pomaret, Rapport de la Commission de Carbonisation, au cours de l’année 1922, in: Journal officiel de la République. Débats parlementaires. Chambre des députés: compte rendu in-extenso 55, Nr. 118 (1. Mai 1923), S. 4293–4297.

[28] Israel Charles White, The Waste of our Fuel Resources. Conference on the Conservation of Natural Resources, White House, Washington 1908; Janet B. Ettinger / Morris Llewellyn Cooke / Judson C. Dickerman, Report of the Giant Power Survey Board to the General Assembly of the Commonwealth of Pennsylvania, Harrisburg 1925.

[29] Emil Fischer, Die Aufgaben des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Kohlenforschung zu Mülheim (Ruhr), in: Emil Fischer / M. Bergmann (Hrsg.), Untersuchungen aus verschiedenen Gebieten: Vorträge und Abhandlungen allgemeinen Inhalts, Berlin/Heidelberg 1924, S. 810–822, https://doi.org/10.1007/978-3-642-51364-0_111 .

[30]https://tu-freiberg.de/presse/dbi-bergakademie-wurde-als-nationales-zentrum-fuer-energierohstoffe-gegruendet

[31]https://www.solvay.fr/le-groupe/histoire/1885-1914.

[32] Georges Arnaud, Le développement de l’industrie chimique en France, in: Annales de Géographie 34, Nr. 191 (1925): S. 443–445, https://doi.org/doi.org/10.3406/geo.1925.8361 .

[33] Jeffrey Allan Johnson, Military-Industrial Interactions in the Development of Chemical Warfare, 1914–1918: Comparing National Cases Within the Technological System of the Great War, in: Bretislav Friedrich u. a. (Hrsg.), One Hundred Years of Chemical Warfare: Research, Deployment, Consequences, Cham 2017, S. 135–149.

[34] Charles Pomaret / Robert Brunschweig, Commission interministerielle de Carbonisation, in: Annales des mines our Recueil de mémoires sur l’exploitation des mines et sur les sciences qui s’y rapportent 12, Nr. 4 (1923), S. 227–250, http://catalogue.bnf.fr/ark:/12148/cb34378107h.

[35] Steen, The American Synthetic Organic Chemicals Industry; Johnson, Military-Industrial Interactions.

[36] Ferdinand Friedensburg, Kohle und Eisen im Weltkriege und in den Friedensschlüssen, Berlin 1934, https://doi.org/10.1515/9783486767001 .

[37] Walther Engel, Die Separation von Feuerungsrückständen und ihre Wirtschaftlichkeit einschließlich der Brikettierung und Schlackensteinherstellung, Berlin 1925, S. 134.

[38] Ettinger / Cooke / Dickerman, Report of the Giant Power Survey Board, S. 104.

[39] Hans Schrader, Die Kohle als mittelbare Energiequelle, in: Illustrirte Zeitung 4061, Nr. 157 (17. November 1921), S. 436; Albert Neuburger, Das Problem der minderwertigen Brennstoffe, ebd., S. 454–458.

[40] Eine andere Gruppe werbetauglicher Wissensbäume sind die amerikanischen Petroleum Trees wie der über die Process Products der Socony Vacuum Oil Company, der 1943 erschien.

[41]https://bizarrelabs.com/charcrys.htm.



Kohlebaum. Bildliche Darstellung der Nebenprodukte von Kohle, in: Hans Hartmann: Weltmacht Kohle (1940), [SCAN][1]


[1] Quelle zu dem Essay: Helge Wendt, Kohlebäume: Darstellungen von Industrie und Wissenschaft in politischen Dimensionen (1900–1945), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2023, URL: <https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-117896>; Hans Hartmann, Weltmacht Kohle, Stuttgart 1940.


Für das Themenportal verfasst von

Helge Wendt

( 2023 )
Zitation
Helge Wendt, Kohlebäume: Darstellungen von Industrie und Wissenschaft in politischen Dimensionen (1900–1945), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2023, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-117896>.
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