Ein Amerikaner in Paris. Der amerikanische Selfmademan und die europäische Aristokratie im Werk von Henry James
Von Maria Malatesta
Der Prozess der Nationsbildung war in Europa und in den Vereinigten Staaten vom Aufkommen von Vorstellungen begleitet, durch die sowohl die Unterschiede als auch die möglichen Gemeinsamkeiten der beiden Kontinente betont wurden. Das von Literaten, Journalisten, Reisenden und Dilettanten entwickelte Verfahren der „gekreuzten Sichtweisen“, trug wesentlich zur Herausbildung eines nationalen Bewusstseins und zum Bewusstsein des Eigenen und des Anderen in der Alten und der Neuen Welt bei.
Henry James hat an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in besonders eindringlicher Weise die Schwierigkeiten des kulturellen Austausches zwischen der neuen Weltmacht und dem europäischen Kontinent, wo noch die Altlasten des Ancien Régime abzutragen waren, beschrieben. Sein literarisches Werk ist ebenso wie seine Biografie ein außerordentliches Zeugnis des Bildes, welches die Eliten der nordamerikanischen Ostküste von Europa hatten, ein Zeugnis der unwiderstehlichen Faszination, die der alte Kontinent ausübte, und jener Suche nach Vermittlung zwischen zwei Kulturen, im Bestreben, die erst seit kurzer Zeit erworbene eigene Identität nicht zu gefährden.
Als Sohn einer reichen, gebildeten und unkonventionellen Familie in New York im Jahre 1843 geboren, ließ sich Henry, der Bruder des Philosophen William, im Jahre 1881 endgültig in London nieder, nachdem er sich seit seinen Jugendjahren lange Zeit in Europa aufgehalten hatte. Die bewusste Teilnahme an zwei Welten beeinflusste seine gesamte literarische Arbeit, welche in dieser „internationalen Perspektive“ ihren roten Faden hat. Mittels der Technik der „gekreuzten Sichtweisen“ erzählt James von der Verunsicherung seiner amerikanischen Figuren gegenüber den europäischen Sitten und Manieren, hinter deren formalen Raffinesse sich ein mörderischer, auf Jahrtausende alten Zivilisationsschichten gediehener Zynismus verbirgt.
In seinen ersten, zwischen 1875 und 1881 geschriebenen Romanen werden die amerikanischen Figuren vom Gewicht der europäischen Geschichte erdrückt, während in den letzten, zwischen 1901 und 1904 veröffentlichten Romanen das Motiv der „gekreuzten Sichtweisen“ in einen Kontext eingeflochten ist, der reich an meta-erzählerischen Elementen ist. Hier wird Euroamerika zu einer Landschaft der Seele, zu einer Metapher der individuellen Reifung und zugleich zur Landschaft der gesamten abendländischen Kultur, wo alle Gegensätze zuletzt ihren Einklang finden.
Dank des Erfolgs der intellectual historyin den vergangenen Jahrzehnten hat die Historikerzunft ihre Aufmerksamkeit vermehrt der Literatur zugewandt. Nun wird dem „Diskurs“ eine große Bedeutung eingeräumt, und es werden literarische Texte vor allem wegen ihrer Eignung, Mentalitäten und Imaginationen wiederzugeben, als Quellenmaterial herangezogen. Der Text, von dem ich hier ausgehe, ist dem Roman The American von Henry James entnommen, welcher zuerst zwischen 1875 und 1876 in Einzelfolgen in einer amerikanischen Zeitschrift veröffentlicht wurde. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einer Darstellung der französischen Aristokratie, die den Schwerpunkt des Romans bildet und die zur Metapher für Europa wird.
Der Dialog findet im Paris des Zweiten Kaiserreichs statt: Zwischen Valentin de Bellegarde, dem jüngsten Spross einer verarmtem alten Adelsfamilie, der einen düsteren Palast im Faubourg Saint-Germain bewohnt, und Christopher Newman, einem reichen und unternehmungslustigen Selfmademanvon wenigen Worten und vielen Taten. Sein Name verweist metaphorisch auf die Reise, die er durch Europa zur Gewinnung historischen und existenziellen Wissens unternimmt. Von der Grand Tourerwartet sich Newman eine umfassende kulturelle Bereicherung: Er möchte alle Gemälde und Kirchen Europas sehen und ein seinem Reichtum angemessenes soziales Kapital erwerben, indem er ein schönes adeliges europäisches Mädchen mit erwählten Manieren heiratet. Was ihn zum Amerikaner macht, ist seine Naivität, die so kolossal ist, dass er glaubt, die Fähigkeiten, die ihm in seiner Heimat Erfolg garantiert haben, seien ausreichend, um auch in Europa zu reüssieren.
Im Dialog zwischen Newman und Valentin sind einige der Vorstellungen und Deutungsmuster skizziert, auf die sich die erzählerische Struktur des Romans stützt. Der alte französische Adel wird als unbewegliche Gesellschaftsschicht beschrieben, die sich nicht mit der Bourgeoisie vermischt, in sozialer Isolation lebt und sich weigert, sich mit dem Milieuder Geschäftswelt abzugeben. Es ist ein legitimistischer Blutsadel, der sich vom politischen Leben fernhält und die Erben Bonapartes verabscheut; er ist genauso alt wie schmarotzerisch, ungebildet, unnütz und nur fähig, sich in der eigenen Dekadenz zu gefallen und sich am Stolz über die eigene Abstammung und die Entsagungen, die man sich aufbürdet, aufzubauen.
James’ übertriebene und durch die Dramatisierung der sozialen Abkapselung und Passivität ironisierte Darstellung des Pariser Adels verschleiert natürlich die Verbindungen der Aristokratie zur kulturellen Welt und insbesondere zur Geschäftswelt, die im damaligen Frankreich auch für den Adel zu den wichtigsten Ressourcen wurden. Entgegengestellt wird im Dialog, nach einem symmetrischen Schema, eine ebenfalls stereotype Vorstellung von der amerikanischen Gesellschaft. Individuelle Freiheit, soziale und geografische Mobilität, schneller Reichtum seien die Ingredienzien des amerikanischen Traums, die Valentin Bellegarde, zugleich neidisch und ängstlich, an Newman wahrnimmt.
Dem amerikanischen Traum stellt Valentin das kulturelle Merkmal bzw. Handlungsmotiv entgegen, das seine Gesellschaftsschicht im Roman auszeichnet: den katholischen, oder besser noch: papistischen Glauben. In The American hat der Katholizismus von Bellegarde eine entscheidende erzählerische Funktion, da er die Grundlage für die Einführung des „puritanischen Kanons“ bildet, der in allen Romanen von James mit internationalem Handlungsrahmen anzutreffen ist. In den Augen des Amerikaners nährt und steigert der Katholizismus aufgrund der fehlenden Strenge die Korruption der europäischen Sitten. Die katholische Religion ist somit einer jener kulturellen Faktoren, welche die Anschauungen über die Alte und Neue Welt im gesamten literarischen Werk von Henry James bedingen, einem Werk, das auf dem Gegensatz zwischen „Sitten“ und „Moral“, zwischen Zivilisation, Dekadenz und Verderbtheit auf der einen Seite, Naivität, Energie und Integrität auf der anderen, aufbaut.
In The American besiegen die Sitten die Moral. Newman hält um die Hand der Schwester von Valentin an, was ihm zunächst auch gewährt wird. Aber die Mutter und der Erstgeborene der Familie, beide ein Ausbund ahnherrlicher Perfidie, ziehen das Versprechen zurück und ziehen dem Einzug von Reichtum wirtschaftlicher Herkunft in ihr Adelshaus den wirtschaftlichen Ruin vor. „We really cannot reconcile ourselves to acommercial person“ , werden sie bei Newmans Abfertigung verkünden.
Newman kapituliert vor dem Zynismus des alteuropäischen Herrscherstandes. Er kapituliert aber auch vor sich selbst, denn seine Naivität ist so ausgeprägt, dass er nicht in der Lage ist, die an ihn gerichteten Botschaften zu entschlüsseln, die es ihm ermöglicht hätten, an seinen Gewissheiten zu zweifeln. Im Laufe des Dialogs sendet ihm Valentin, der sein Freund ist, eine erste Botschaft: Bellegarde-Männer heiraten keine reichen bürgerlichen Frauen. Wir wissen, dass diese Form ehelicher Verbindungen im 19. Jahrhundert vom europäischen Adel bevorzugt wurde, da sie es erlaubte, sich das Vermögen der Bourgeoisie bei gleichzeitiger Bewahrung des eigenen Familiennamens einzuverleiben. Unvorstellbar war aber, dass eine solche Familie ihrer Tochter erlaubt hätte, Newman zu heiraten, wenn sie dadurch den Nachnamen eines Bürgerlichen hätte annehmen müssen.
Die andere Botschaft wird Newman während des Balls, der im Palais Bellegarde veranstaltet wird, um ihn dem Kreis der Familienfreunde vorzustellen, zuteil. Der Amerikaner macht sich bei dieser Gelegenheit durch seine übertrieben herzlichen und formlosen Manieren lächerlich, doch er wird sich dessen erst gewahr, als die Marquise de Bellegarde es ihm eröffnet. Der Zusammenprall zwischen den beiden Kulturen wird im Roman so durch die gegenseitige Unvereinbarkeit und Unverständlichkeit unterschiedlicher Verhaltenskodizes dargestellt.
Nachdem die Bellegardes das gegebene Wort zurückgezogen haben, kommt es zum Zusammenbruch und zum paradoxen Finale. Die Braut wird Nonne und zieht sich in die Klausur zurück. Valentin, das einzige humane Wesen der Familie, stirbt im Duell, um die Ehre einer Kokotte zu verteidigen. Newman kehrt nach Amerika zurück. Historisch-kulturell betrachtet hat er zwar eine Niederlage erlitten, moralisch ist er jedoch der eigentliche Sieger der Geschichte, da er nicht dem Teufelskreis der Rache verfällt: Er widersteht der Versuchung, der Pariser Gesellschaft ein Verbrechen zu offenbaren, das in der Vergangenheit die Marquise de Bellegarde und ihr Erstgeborener begangen haben.
Der in Paris verfasste Roman kann als Bekenntnis eines „Amerikaners in Paris“, also des echten Henry James, der hier ein Jahr vor seinem Umzug nach London lebte, angesehen werden. Wie James selbst zugibt, war Frankreich damals ein Land, das ihm das Gefühl vermittelte, ein Fremder zu sein. Das „Euroamerika“ des frühen James ist somit angelsächsisch und protestantisch geprägt, während ihm das katholische Europa, das in seinen Romanen durch Pariser Aristokraten und italienische Prinzen von streng päpstlichem Adel verkörpert wird, ein geheimnisvoller und unentzifferbarer Kontinent bleibt.
Etwa dreißig Jahre später änderte James seine Anschauungen. Anlässlich der zwischen 1907 und 1909 erfolgten Abfassung des Vorwortes für die Gesamtausgabe seiner Werke erklärte er, dass die Darstellung der Bellegardes damals ausschließlich durch die literarische Notwendigkeit bedingt war, den in der Figur des Newman liegenden Romantizismus hervorzuheben. Nach einer neuen Betrachtung der Romanhandlung sei er sich jetzt sicher, dass die Bellegardes sich in der Realität wohl vollkommen anders verhalten hätten. Die adlige Familie hätte wohl keine Skrupel gehabt, sich mit einem Geschäftsmann verwandtschaftlich zu verbinden; sie hätte mit absoluter Gelassenheit ihre Ansprüche und ihren Stolz an diese Gegebenheiten angepasst. „They would positively have jumped then, the Bellegardes, at my rich and easy America, and not have ‘minded’ in the last any drawback – expecially as, after all, given the pleasant palette from which I have painted him, there were few drawbacks to mind.“ Das Vorwort zu The American stellt somit eine weitere Quelle dar, die nicht getrennt vom vorgestellten Text betrachtet werden kann, sondern vielmehr gemeinsam mit diesem Text untersucht werden muss. Das Vorwort interessiert den Historiker nicht so sehr wegen der literarischen Rechtfertigungsversuche, die Henry James unternimmt, sondern wegen der veränderten Sicht auf die Aristokratie. Nachdem James fünfundzwanzig Jahre in Großbritannien gelebt hatte, änderten sich seine Vorstellungen über den europäischen Adel. Der Mythos des aristokratischen Stolzes, nach dem sich ein Mitglied der New Yorker Eliten gesehnt hatte, musste vor der Notwendigkeit, die alten Sitten an die neuen Zeiten anzupassen, zerfallen. Auch die Bellegardes hätten wohl letztlich, mit neidlos praktischem Anpassungssinn, die sozialen Barrieren übersprungen, sich in die unternehmerische Bourgeoisie eingegliedert und ihre Tochter einem Amerikaner aus dem Mittelwesten zur Frau gegeben.
Es waren jedoch nicht nur die materiellen Umstände (in der Zwischenzeit war es zur großen Depression und zum wirtschaftlichen Zusammenbruch eines guten Teils des europäischen Adels gekommen), welche die Ansichten des Romanciers über den Adel verändert haben. Das Vorwort zu The American folgt wenige Jahre nach seinem letzten Roman, „The Golden Bowl“ (1904). Hier finden amerikanische „Moral“ und „Verdorbenheit“, personifiziert durch eine reiche amerikanische Erbin und einen römischen Prinzen, der sie aus wirtschaftlichem Interesse heiratet, ihren Berührungspunkt und ihre Befriedung: durch das Bemühen der Gattin um Entschlüsselung der Spielregeln der aristokratischen Welt, welcher der Gatte zugehört, und durch die Entdeckung der ehelichen Liebe durch den Gatten. Auf den Vorstufen zum Ersten Weltkrieg hat sich James’ „Euroamerika“ endlich verwirklicht.