Von „Lausanne“ nach „Dayton“. Ein Paradigmenwechsel bei der Lösung ethnonationaler Konflikte
Von Holm Sundhaussen
Die Bestimmungen und Zielsetzungen der griechisch-türkischen Konvention von 1923 und des Dayton-Abkommens für Bosnien-Herzegowina von 1995 unterscheiden sich diametral hinsichtlich der Lösung ethnonational konnotierter Konflikte. Während die Lausanner Vereinbarung die im griechisch-türkischen Krieg von 1921/22 realisierten ethnischen Säuberungen nachträglich sanktionierte und erstmals in der modernen europäischen Geschichte mittels eines obligatorischen ‚Bevölkerungsaustauschs’ weiter vorantrieb (wenn auch nicht vollendete), zielte das Dayton-Abkommen auf die Rückkehr der während des Krieges in Bosnien-Herzegowina (1992-95) geflohenen oder vertriebenen Personen in ihre früheren Heimatorte. Im ersten Fall ging es um die ethnonationale Homogenisierung der jeweiligen Bevölkerung in der Türkei respektive Griechenland, im zweiten Fall um deren Rückgängigmachung bzw. um die Wiederherstellung von Multiethnizität im post-jugoslawischen Staat Bosnien-Herzegowina. Beide Verträge waren das Ergebnis von Friedensverhandlungen und kamen unter Mitwirkung der internationalen Gemeinschaft – des Völkerbunds bzw. der Vereinten Nationen, der Europäischen Union unter anderem – zustande. Jahrzehntelang galt das „Lausanner Modell“ als ultima ratio zur Lösung ethnischer oder ethnonationaler Konflikte zwischen Nachbarstaaten, auf das sich sehr unterschiedliche politische Akteure – Hitler ebenso wie Churchill – berufen haben. Erst mit dem „Dayton-Abkommen“ – 72 Jahre nach „Lausanne“ – vollzog die internationale Gemeinschaft eine grundsätzliche Kehrtwende.
In weiten Teilen Mittel-, Ostmittel- und Südosteuropas hatte sich seit Ende des 19. Jahrhunderts ein ethnisch definiertes Verständnis von Nation (Nation als Abstammungsgemeinschaft nach deutschem ‚Muster’) durchgesetzt. Die jungen „Nationalstaaten“ verstanden sich als Staaten der jeweiligen Titularnation, obwohl auf ihren Territorien mehr oder minder zahlreiche sowie mehr oder minder große Bevölkerungsgruppen lebten, die sich nicht der Titularnation zuschrieben oder von dieser – wenn schon nicht formaljuristisch, so doch faktisch – ausgeschlossen wurden. Um die ethnische Homogenität des „Nationalstaats“ und die von seinen Akteuren anvisierten ‚gerechten’ territorialen Ansprüche der Nation zu realisieren, kamen vielfältige Mittel zum Einsatz: von der Assimilierung ‚fremder’ Bevölkerungsgruppen über deren Vertreibung und Umsiedlung bis zum Völkermord. Zu ethnischen Säuberungen größeren Stils innerhalb Europas kam es erstmals während der Balkankriege von 1912/13. Die (vorerst) letzten ethnischen Säuberungen in Europa fanden wiederum im Balkanraum statt: während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien im Verlauf der 1990er Jahre. Dazwischen lagen die Jahrzehnte ethnischer ‚Flurbereinigungen’ in Mittel- und Osteuropa, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg ihren quantitativen Höhepunkt mit Millionen von Opfern erreichten.
Die militärische Offensive Griechenlands in Kleinasien, die Ende August 1922 mit einer verheerenden Niederlage gegen die türkischen Truppen Mustafa Kemals („Atatürks“) endete (Griechenlands „kleinasiatische Katastrophe“), schloss ein Jahrzehnt von Kriegen im Südosten Europas ab. Den Auftakt hatte der Krieg der Balkanstaaten gegen das Osmanische Reich von 1912 gebildet (1. Balkankrieg). Dem 1. Balkankrieg war mit veränderten Frontstellungen und Allianzen der 2. Balkankrieg im Jahr 1913 gefolgt. Schon ein Jahr nach dem Bukarester Friedensvertrag, mit dem die Balkankriege beendet worden waren, brach der 1. Weltkrieg aus, der mit dem griechisch-türkischen Krieg in Anatolien ein regional begrenztes Nachspiel hatte. Am Genfer See wurden seit Ende 1922 neue Friedensverhandlungen geführt, da „Atatürk“ den Pariser Vorortvertrag von Sèvres mit dem Osmanischen Reich vom 10. August 1920 ebenso wenig anerkannte wie den Sultan und dessen Regierung. Der Lausanner Friedensvertrag der Alliierten und Assoziierten Mächte mit der neuen Türkischen Republik vom 24. Juli 1923 ersetzte den Friedensvertrag von Sèvres. Ihm vorausgegangen war die griechisch-türkische Konvention vom 30. Januar 1923, die Bestandteil des neuen Friedensvertrags wurde (Artikel 142). Der in der Lausanner Konvention vereinbarte ‚Bevölkerungsaustausch’ betraf nicht nur Personen, die nach Vertragsschluss zwangsumgesiedelt wurden, sondern bezog auch jene Personen (in der Regel Griechen) mit ein, die bereits zu Hunderttausenden vor den türkischen Truppen aus Furcht vor Rache auf die Ägäischen Inseln oder das griechische Festland geflohen waren. Die Brandschatzung der griechischen und armenischen Stadtviertel von Smyrna (Izmir) durch „Atatürks“ Truppen, bei der schätzungsweise 30.000 Menschen den Tod fanden, bestätigte die schlimmsten Befürchtungen. Bis heute ist umstritten, wer den ‚Bevölkerungsaustausch’ in Lausanne vorgeschlagen hat. Vor allem von griechischer Seite wird behauptet, dass der griechische Verhandlungsführer Venizelos dem Plan nur schweren Herzens zugestimmt habe. Gegen diese Version sind plausible Zweifel vorgetragen worden: Eine Rückkehr der Flüchtlinge erschien angesichts des militärischen Übergewichts der Türken und der mangelnden Bereitschaft der Entente, zugunsten Griechenlands zu intervenieren, unrealisierbar. Ein Vertrag bot demgegenüber die Möglichkeit, nicht nur die Eigentumsfragen der Flüchtlinge zu klären, sondern auch durch Zwangsumsiedlung der in Griechenland, vor allem in dem seit 1913 griechischen Teil Makedoniens, lebenden Muslime Platz für die Ansiedlung der Flüchtlinge zu schaffen und damit die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Griechenlands zugunsten des griechischen Elements zu verändern. Umsiedlungen als Mittel der Politik waren seit den Balkankriegen von 1912/13 kein Novum mehr, wenngleich die vorangegangenen Umsiedlungsverträge noch einen formal fakultativen Charakter gehabt hatten. Mit „Lausanne“ wurde erstmals in der Geschichte des Völkerrechts ein obligatorischer ‚Bevölkerungsaustausch’ unter den Auspizien des neu gegründeten Völkerbunds vereinbart. Die Betroffenen („emigrants“) wurden nicht nach ihrer Sprache oder ihrem nationalen Selbstverständnis, das in vielen Fällen noch unklar gewesen sein dürfte, sondern nach der Religionszugehörigkeit bestimmt, so wie dies bei den Steuer- und Volkszählungen im Osmanischen Reich der Fall gewesen war. Rund 1,3 Millionen „Griechen“, von denen einige die griechische Sprache nicht beherrschten, sowie annähernd 400.000 Muslime (mit unterschiedlichen Sprachen und unterschiedlicher ethnischer Zuordnung) verloren ihre angestammte Heimat und ihre bisherige Staatsbürgerschaft. Auf Drängen Griechenlands wurden die Griechen in Istanbul, am Sitz des „Ökumenischen Patriarchen“, von der Deportation ausgenommen. Im Gegenzug erhielten die Muslime im griechischen Teil Thrakiens das Bleiberecht zugesichert. Die vertragschließenden Parteien verpflichteten sich obendrein, die verbliebenen Minderheiten zu schützen. Die Regelung der Eigentumsfragen von Flüchtlingen und Zwangsumgesiedelten wurde einer „Gemischten Kommission“ übertragen (Artikel 10-17 der Konvention).
Mit dem „Dayton-Abkommen“ von Ende 1995 wurde der dreieinhalbjährige Krieg im 1992 unabhängig gewordenen und international anerkannten Staat Bosnien-Herzegowina beendet. Dem serbisch-muslimisch-kroatischen Krieg in Bosnien vorausgegangen waren der Zerfall des zweiten jugoslawischen Staats 1991, der unmittelbar anschließende Zehn-Tage-Krieg in Slowenien sowie der serbisch-kroatische Krieg in Kroatien, der mit Unterbrechungen von 1991 bis 1995 währte. Der Krieg in Bosnien war, wie zuvor schon in Kroatien, begleitet von massiven ethnischen Säuberungen, die sich zunächst fast ausschließlich gegen die bosnischen Muslime (bzw. „Bosniaken“) richteten und von serbischen Akteuren ausgeführt wurden. Im weiteren Verlauf des Krieges wurden auch bosnische Kroaten und bosnische Serben Opfer ethnischer Säuberungen seitens ihrer jeweiligen Kriegsgegner. Zwischen 2,3 und 2,5 Millionen Menschen von den ursprünglich 4,4 Millionen Einwohnern Bosnien-Herzegowinas verloren ihre Heimat durch Flucht, Vertreibung oder Massenmord. Die unter amerikanischem Druck erfolgte Verständigung zwischen Kroaten und Bosniaken, die Erfolge der kroatischen Offensive gegen die „Serbische Republik Krajina“ in Kroatien und die nach langem Zögern aufgenommenen Luftangriffe der NATO zwangen die anfangs militärisch überlegenen Serben, die zeitweilig fast 70 Prozent des bosnisch-herzegowinischen Territoriums kontrolliert hatten, zum Einlenken. Am 1. November 1995 trafen der Präsident Bosnien-Herzegowinas, Alija Izetbegovic, der Präsident Kroatiens, Franjo Tudjman, und Serbiens Präsident, Slobodan Miloševic, auf dem Luftwaffenstützpunkt Wright Patterson in Dayton/Ohio zusammen, um aufgrund bereits vorliegender Pläne und unter starkem Druck des amerikanischen Unterhändlers Richard Holbrooke ein endgültiges Friedensabkommen für Bosnien-Herzegowina zu vereinbaren. Am 21. November waren die Verhandlungen abgeschlossen; offiziell unterzeichnet wurde das Dayton-Abkommen am 14. Dezember 1995 in Paris.
Entgegen den serbischen und kroatischen Teilungsplänen (die jeweils ethnisch homogenisierte Gebiete vorsahen) blieb Bosnien-Herzegowina als konföderativer Staat unter internationaler Aufsicht bestehen, zusammengesetzt aus zwei „Entitäten“: der „bosniakisch-kroatischen Föderation“ mit 51 Prozent des staatlichen Territoriums und der „Serbischen Republik“ mit 49 Prozent. Im Anhang 7 des Rahmenabkommens verpflichteten sich die vertragschließenden Parteien, die durchgeführten ethnischen Säuberungen soweit wie möglich rückgängig zu machen bzw. den Flüchtlingen und Vertriebenen die Rückkehr in ihre Heimatgemeinden zu ermöglichen und die früheren Eigentumsrechte wiederherzustellen bzw. dort, wo dies aus dringlichen Gründen nicht möglich ist, entsprechend zu entschädigen. Ähnlich wie in der Lausanner Konvention wurde auch im Dayton-Abkommen die Bildung einer Gemischten Kommission zur Regelung der Eigentumsfragen vorgesehen (Artikel VII – Artikel XIV).
Die „Logik“ von Lausanne gründete auf der Annahme, dass die ethnisch bzw. religiös heterogene Siedlungsstruktur in Teilen Anatoliens und die daran geknüpften nationalen Irredentismen ursächlich für den griechisch-türkischen Krieg gewesen seien. Durch „Entmischung“ der Gemengelagen sollte auch die Kriegsursache beseitigt werden. In der Tat wurde die griechische „Megali idea“ (die „Große Idee“), das heißt die Vision von einem „Griechenland der zwei Kontinente und fünf Meere“ bzw. die Idee von der Wiederherstellung des Byzantinischen Imperiums, in Lausanne endgültig zu Grabe getragen. Und in der Tat entspannte sich das griechisch-türkische Verhältnis im Verlauf der 1930er Jahre. Den ‚Preis’ hatten die traumatisierten Flüchtlinge und Zwangsumgesiedelten zu zahlen. Dass seit Ende der 1950er Jahre die Spannungen zwischen beiden Nachbarstaaten wieder dramatisch zunahmen, war – wenn auch nicht allein, so doch zu wesentlichen Teilen – der Zypernfrage geschuldet. Zypern war aber nicht Gegenstand der Lausanner Konvention gewesen, da es zu diesem Zeitpunkt noch unter britischer Herrschaft gestanden hatte. Zypern ist daher kein Argument gegen Lausanne.
Doch warum wurde die Lausanner „Logik“, die bis über das Ende des 2. Weltkrieges hinaus von vielen politischen Akteuren geteilt worden war, im Dayton-Abkommen aufgegeben? Das Friedensabkommen für Bosnien-Herzegowina beinhaltete zwar keine Wiederherstellung des status quo ante, sondern führte mit der Konstituierung zweier „Entitäten“ ein grundlegend neues Gliederungselement ein, aber es sah gleichwohl die Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen vor. Warum? Es waren vor allem die Berichte über die ethnischen Säuberungen und die dazu weltweit verbreiteten Bilder, die in großen Teilen der Öffentlichkeit Europas, der USA und anderer Staaten die Entschlossenheit stärkten, die durch ethnische Säuberungen geschaffenen Fakten nicht länger hinzunehmen – zumindest in Europa nicht. Ungeachtet der Tatsache, dass die Kriege in Ex-Jugoslawien von vielen Beobachtern als Ausdruck „atavistischer“ Feindschaft zwischen den Völkern gedeutet wurden, setzte sich die „humanitäre Logik“ durch, dass ‚Entmischungen’ nicht als Mittel zur Lösung ethnonational konnotierter Konflikte hingenommen werden können – zumal damit weitere ethnische Säuberungen regelrecht ermutigt werden.
Dayton hält zwei Lehren bereit: 1) Ohne wirksame und glaubwürdige Druckmittel und die Bereitschaft, sie einzusetzen, wäre der Vertrag nicht zustande gekommen. In Lausanne standen derartige Druckmittel nicht zur Verfügung. 2) Die Rückkehr von Flüchtlingen und „displaced persons“ nach einer Phase extremer Gewalteskalation ist ein langfristiger Prozess mit offenem Ausgang, der von vielen Faktoren abhängig ist. Dazu gehören Sicherheit für das Leben der Rückkehrer, Regelung der Eigentumsverhältnisse, Aufarbeitung der Vergangenheit und Zukunftsperspektiven für die Bevölkerung vor Ort. Bis Ende Mai 2004 sind insgesamt knapp eine Million Flüchtlinge und Vertriebene – weniger als die Hälfte aller Betroffenen – in ihre früheren Wohnorte in Bosnien-Herzegowina zurückgekehrt, darunter 442.000 Personen in Gemeinden, in denen sie nicht die – derzeitige – nationale Mehrheit repräsentieren („minority returns“). Ist der nicht-militärische Teil Daytons, zu dem auch Annex 7 gehört, damit eher eine Erfolgsgeschichte oder eine Geschichte des Scheiterns? Und falls Dayton als Misserfolg wahrgenommen wird, steht dann eine Rückkehr der Lausanner „Logik“ in die internationale Politik zu befürchten? Oder verliert der Ethnonationalismus in einem zusammenwachsenden Europa seine bisherige Bedeutung und macht damit sowohl Lausanne wie Dayton überflüssig?