Auf der Suche nach dem europäischen Gedächtnis
Von Etienne François
Neben der Diskussion um das Vorhandensein bzw. Nicht-Vorhandensein einer europäischen Öffentlichkeitgehört das Problem eines möglichen europäischen Gedächtnisses mit zu den am intensivsten von Publizisten und Politikern, Historikern und Sozialwissenschaftlern in allen europäischen Ländern diskutierten Fragen.
Bei aller Unterschiedlichkeit der vertretenen Standpunkte und Perspektiven fällt allerdings auf, dass die in dieser Diskussion aufgestellten Thesen überwiegend spekulativer und hypothetischer Art bleiben. Während sich in der Tat in den letzten Jahrzehnten die Untersuchungen zu den länderspezifischen Gedächtniskulturen vermehrt haben – zum Beispiel durch die Übertragung des zuerst am französischen Beispiel durch Pierre Nora erprobten Ansatzes der „lieux de mémoire“ auf andere Länder – fehlten bis jetzt überzeugende historische Arbeiten und sozialwissenschaftlich gesicherte Untersuchungen, die es erlaubt hätten, eine fundierte Antwort auf die Frage zu geben, ob ein europäisches Gedächtnis überhaupt existiert.
Umso erfreulicher sind daher die in den anbei liegenden Tabellen zusammengefassten Ergebnisse einer repräsentativen Meinungsumfrage im Januar 2003: Sie ermittelte in den sechs bevölkerungsreichsten Ländern Europas, genauer gesagt: in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen und Spanien, die Beliebtheit historischer Persönlichkeiten, die die europäische Identität verkörpern.Die Initiative zu dieser Meinungsumfrage, die im Übrigen die erste ihrer Art ist, ging von mehreren europäischen Stiftungen aus. Unter ihnen waren die französischen Stiftungen „Europartenaires“ und „Jean-Jaurès“ sowie die deutsche Friedrich-Ebert-Stiftung vertreten, hinzu kam eine Zusammenarbeit mit dem Fernsehsender Arte sowie den Zeitungen „Le Monde“, „El Pais“, „La Stampa“ und „Frankfurter Rundschau“. Federführend waren zum einen die französischen Historiker Philippe Joutard und Jean Lecuir, die schon mehrere repräsentative Meinungsumfragen über das französische „historische Pantheon“ für die Zeitschrift „L’Histoire“ organisiert hatten, zum anderen das Meinungsforschungsinstitut „C.S.A.“, das im Auftrag der Organisatoren in jedem der untersuchten Länder zur gleichen Zeit einer repräsentativen Auswahl von je 1.000 Personen über 18 Jahren drei
identische Fragen stellte.
Bei der ersten Frage handelte es sich um eine „offene“ Frage, das heißt eine Frage ohne vorgegebene Antwort, mit folgendem Wortlaut: „Stellen Sie sich bitte vor, Sie haben die Möglichkeit, sich eine Stunde lang mit einer historischen Persönlichkeit zu unterhalten, die den Gedanken der europäischen Identität vertritt. Wen würden Sie sich aussuchen?“. Sie wurde durch zwei „geschlossene“ Fragen ergänzt, die jeweils 14 historische Figuren aus der Zeit vor 1800 und aus dem 19. und 20. Jahrhundert enthielten. Die Frage lautete: „Wer bzw. welche der historischen Persönlichkeiten in dieser Liste verkörpert in Ihren Augen am besten die europäische Identität?“. Diese Listen der „Grands Hommes européens“, wie man in der Sprache der „Aufklärung" sagen würde, waren in Zusammenarbeit mit Historikern aus den jeweiligen Ländern erarbeitet worden: Sie enthielten die Namen von unterschiedlichen historischen Persönlichkeiten aus den sechs Ländern und waren so konzipiert, dass sie nicht nur Männer, sondern auch Frauen, nicht nur Regenten und Politiker, sondern auch Vertreter von Wissenschaft und Kunst, Religion und Kultur miteinbezogen.
Die Ergebnisse der Untersuchung wurden im März 2003 auf einer internationalen Tagung in den Räumen der UNESCO in Paris vorgestellt und diskutiert, ehe sie später in Form eines Sammelbandes einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.Welche Schlüsse lassen sich nun aus dieser innovativen, äußerst aufschlussreichen wie auch höchst differenzierten Untersuchung ziehen?
Als erstes Ergebnis fällt schlicht auf, dass das Experiment, das bis jetzt noch nie erprobt worden war, funktioniert hat und im Großen und Ganzen als gelungen betrachtet werden kann. Dieser Erfolg ist umso höher zu bewerten, als der Ansatz dieser Untersuchung sich sehr stark an einem in Frankreich entwickelten Modell orientierte. Ebenso wie die erfolgreiche Übertragung des auch zuerst am französischen Fall entwickelten Modells der „lieux de mémoire“ zeigt der Erfolg der Umfrage, dass die Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen Ländern in der Frage der Einstellung zur Vergangenheit letztendlich viel stärker sind als ihre Unterschiede – entgegen der oft vertretenen These von der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des französischen „rapport au passé“.
Dieser Erfolg sollte allerdings nicht über ein zweites grundlegendes und ernüchterndes Ergebnis hinwegtäuschen, nämlich die Zweitrangigkeit der europäischen Identität gegenüber der nationalen Identität. Dies wird zuerst durch den ausgesprochen hohen Anteil an Nicht-Antworten („keine Antwort“) auf die offene Frage deutlich (44 Prozent im Durchschnitt für die sechs untersuchten Länder), aber auch bei den an sich leichter zu beantwortenden „geschlossenen“ Fragen (13 Prozent bzw. 15 Prozent Nicht-Antworten). – Dieser Anteil ist umso schwerwiegender, als bei den zahlreichen vergleichbaren Meinungsumfragen, die nur in einem Land durchgeführt werden und bei welchen es nur um Persönlichkeiten der eigenen Geschichte geht, der Anteil an Nicht-Antworten im Durchschnitt zwischen 5 Prozent und maximal 10 Prozent liegt. Die Tatsache, dass bei der Antwort auf die offene Frage die befragten Personen in jedem Land zuerst und vor allem ihre Landsleute, ob aus der Geschichte oder der Gegenwart, nannten, ist ein weiterer Beleg für den Primat des nationalen Bezugsrahmens. In den sechs untersuchten Ländern, wie vermutlich in den anderen europäischen Ländern auch, ordnet sich die Einstellung zur Vergangenheit und zur kollektiven Identität spontan und wie selbstverständlich zuvorderst in den nationalen Rahmen und erst in einem zweiten Schritt in einen größeren, europäischen Rahmen ein. In politischer wie auch in wirtschaftlicher Hinsicht hat der Nationalstaat sehr viel von seiner früheren Bedeutung verloren; auf der Ebene der kollektiven Vorstellungen sowie auch in der Einstellung zur Vergangenheit bleibt er aber bestimmend. Noch mehr vielleicht als zur Zeit von Ernest Renan sind unsere heutigen europäischen Nationen „Gedächtnis-Nationen“.Darüber hinaus weisen die nach den üblichen Kriterien der sozialwissenschaftlichen Analyse (Alter, Geschlecht, Beruf, Bildungsniveau, regionale, politische und konfessionelle Zugehörigkeit) gewichteten Ergebnisse der Untersuchung eindeutig nach, dass das Interesse für die Identität und Geschichte Europas höchst selektiv ist. So ist das Interesse für Europa stärker bei Männern als bei Frauen, stärker bei der jüngeren als bei der älteren Generation, stärker bei Stadtbewohnern, insbesondere in den Großstädten, als bei der Landbevölkerung und stärker bei den oberen als bei den unteren Schichten. In allen Ländern schließlich lässt sich eine besonders starke Korrelation zwischen dem Interesse für Europa und dem Bildungsniveau feststellen; ob in Spanien oder in Polen, in Groß-Britannien oder in Italien: je höher das Bildungsniveau, desto stärker das Interesse an Europa, je niedriger das Bildungsniveau, desto stärker das Desinteresse.
Die Ergebnisse dieser vergleichenden Meinungsumfrage sind zweifelsohne eine hilfreiche Warnung vor der Versuchung, eine schlichte „europäische Illusion“ anzunehmen. Aber sie verdeutlichen auch noch mehr als das, denn ihre Ergebnisse lassen in mehrerlei Hinsicht Ansätze einer im Entstehen begriffenen, ja möglicherweise schon bestehenden europäischen Gedächtniskultur erkennen. Die auf die offene Frage hin gegebenen Antworten sind ein erster Hinweis in diese Richtung; da hier keinerlei Antwort vorgegeben war, sind sie besonders aufschlussreich. Unter den Persönlichkeiten, die mindestens 2 Prozent der Stimmen erhielten, findet man in der Tat außer den führenden Politikern der jeweiligen Länder, außer dem Papst und Romano Prodi, der ohne Zweifel viel eher aufgrund seiner Qualitäten als italienischer Politiker als in seiner Eigenschaft als Präsident der Europäischen Kommission genannt wurde, vier Persönlichkeiten, nämlich de Gaulle, Napoleon, Churchill und Victor Hugo, die einer entfernteren Vergangenheit angehören und die – was mindestens die drei ersten betrifft – nicht nur von ihren eigenen Landsleuten genannt wurden, sondern auch von andern. Gleichermaßen kann man feststellen, dass, wenn auch die befragten Personen ihre eigenen Landsleute an erster Stelle platzieren, sie doch danach auch spontan Persönlichkeiten aus anderen europäischen Ländern erwähnen: so erwähnen zum Beispiel die Polen nur wenig überraschend zuerst ihren Präsidenten Alexander Kwasniewski und gleich danach „ihren“ Papst; dann aber folgen, allerdings mit deutlichem Abstand, Gerhard Schröder und Margaret Thatcher, Napoleon und Churchill, de Gaulle, Tony Blair und Jacques Chirac. Der gleiche Befund gilt für die fünf anderen Länder.
Was sich schon in den Antworten auf die „offene“ Frage andeutete, tritt in den Antworten auf die zwei „geschlossenen“ Fragen viel deutlicher hervor. Unter den insgesamt 28 historischen Persönlichkeiten, die in den zwei Listen zur Auswahl standen, haben sich die gefragten Personen eindeutig für sechs entschieden, die sie an hervorgehobener Stelle platziert haben: Leonardo da Vinci, Columbus und Luther für die Liste vor 1800, Churchill, Marie Curie und de Gaulle für die Liste des 19. und 20. Jahrhundert. Auffällig ist dabei nicht nur, dass diese sechs „europäischen Persönlichkeiten“ alle anderen klar distanzieren, sondern auch, dass sie in allen Ländern gut platziert sind: In der „älteren“ Liste steht Leonardo da Vinci an erster Stelle in Italien, an zweiter Stelle in Deutschland und in Spanien, an dritter Stelle in Frankreich und Großbritannien und an vierter Stelle in Polen, während in der „jüngeren Liste“ Churchill an erster Stelle in Großbritannien steht, an dritter Stelle in Italien und Polen und an fünfter Stelle in Deutschland, Frankreich und Spanien. Darüber hinaus lässt sich errechnen, dass keine dieser Persönlichkeiten von einer Mehrheit aus dem eigenen Land gewählt wurde: unter 100 Personen, die Leonardo erwähnt haben, findet man nur 22 Italiener gegenüber 24 Franzosen, 23 Deutschen, 18 Briten, acht Spaniern und fünf Polen. Unter 100 Personen, die Churchill erwähnten zählt man neben 48 Briten immerhin 16 Franzosen, 14 Deutsche, 13 Italiener, fünf Polen und vier Spanier, das heißt insgesamt 52 Nicht-Briten.
Welche Ansätze zu einem gemeinsamen Geschichtsbild lassen sich nun aus diesen Ergebnissen ziehen? Für die Zeit vor 1800 deutet der erste Platz von Leonardo da Vinci, Columbus und Luther bereits darauf hin, dass die heutigen Europäer, im Unterschied zur europäischen Gründer-Generation unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht das „christliche Abendland“ in seiner katholisch-karolingischen Ausprägung favorisieren, sondern im Gegensatz dazu das Europa der Renaissance und der Reformation. Es ist ein Europa der Entdeckungen, des Aufbruchs und des Abenteurertums, das sich kritisch und kreativ mit seinem mittelalterlichen Erbe auseinandersetzt, sich der ganzen Welt öffnet und schließlich viel mehr Wert auf die Kultur und die Künste, die Wissenschaft und die Technik, kurzum auf den Geist legt als auf Macht und Herrschaft, Krieg und Eroberung. Ein ähnliches Bild drückt sich für die Zeit nach 1800 in der Zweitplatzierung von Marie Curie aus; eine Platzierung, die im Übrigen eindeutig den Stimmen der befragten Frauen zu verdanken ist, handelt es sich doch auch hier um eine Wissenschaftlerin, die durch ihre Entdeckungen und ihr persönliches Engagement sich um den wissenschaftlich-technischen Fortschritt und den Kampf gegen Krankheiten verdient machte und so zum Wohl der Menschheit im Sinne der Aufklärung beigetragen hat. In der Erst- und Drittplatzierung von Churchill und de Gaulle lässt sich schließlich die Bewunderung der heutigen Europäer für zwei Persönlichkeiten wiederfinden, die beide auch in Zeiten, in denen die Situation aussichtslos schien, entschiedene, mutige und kompromisslose Gegner des Nationalsozialismus und darüber hinaus überzeugte Demokraten wie auch resolute Gegner des Kommunismus waren. Beide waren dabei nicht nur engagierte Patrioten, sondern traten auch als Förderer des europäischen Gedankens und Akteure der europäischen Einigung hervor. Und schließlich stellen diese zwei Männer auch historische Persönlichkeiten dar, deren Bedeutung sich durch ihre Fähigkeit, die lebendige Tradition ihres Landes und die Idee eines freien Europas zu verkörpern nicht allein auf die Politik beschränkte: Churchill bekam den Literaturnobelpreis verliehen und de Gaulle gilt mit Recht als einer der größten Meister der französischen Sprache des 20. Jahrhunderts.
Als weitere Beobachtung aus den Ergebnissen der Meinungsumfrage fällt die Nähe untereinander, ja sogar die fortgeschrittene Verschränkung der „Nachbarn am Rhein“ auf: In den Antworten auf die offene Frage wie in denen auf die geschlossenen Fragen zeichnen sich Deutsche und Franzosen durch den geringsten Prozentsatz an Nicht-Antworten aus. Außerdem repräsentieren sie die zwei Länder mit der größten Annäherung ihres jeweiligen „historischen Pantheons“: Zusätzlich zum gemeinsamen „Stammvater“ Karl dem Großen/Charlemagne sieht man, wie in der Beliebtheitsskala der Franzosen Luther, Gutenberg und Adenauer auf den höheren Plätzen auftauchen, während umgekehrt Voltaire, Napoleon und de Gaulle in der deutschen Liste vergleichbar gut platziert sind. Zwischen keinen anderen Ländern lässt sich eine so weit fortgeschrittene Verschränkung beobachten. Es sieht so aus, als ob in beiden Ländern der durch die deutsch-französische Aussöhnung und Zusammenarbeit bedingte Erfahrungsaustausch zu einem allmählichen Wahrnehmungswandel geführt habe, demzufolge die heutigen Franzosen und Deutschen die jeweilige Vergangenheit des Partnerlandes inzwischen auch als einen Teil ihrer eigenen Vergangenheit akzeptieren, wenn nicht sogar anerkennen.
Die dabei deutlich gewordenen Ansätze eines europäischen Gedächtnisses erschöpfen sich allerdings weder im Konsens noch in der Verschränkung. Sie lassen sich genauso gut im transnationalen Austausch wie auch in Konflikten festmachen. Die hohe Wertschätzung von Persönlichkeiten, die nicht nur der Geschichte eines Landes, sondern der von mehreren Ländern gleichzeitig zugehörig erscheinen, unterstreicht die Bedeutung dieser transnationalen Dynamik, die gerade auch für die vornationalen Epochen der europäischen Geschichte kennzeichnend ist: Dies gilt für Karl den Großen (Deutschland und Frankreich), Leonardo da Vinci (Italien und Frankreich) und Columbus (Italien und Spanien) ebenso wie für Marie Curie (Polen und Frankreich) und Picasso (Spanien und Frankreich). Neben den konsensfähigen bzw. transnationalen Persönlichkeiten sollte man schließlich die Persönlichkeiten nicht vergessen, die bei einem Teil der europäischen Bevölkerung großen Zuspruch erhalten, während sie bei anderen Widerspruch oder Ablehnung hervorrufen: Wie die Beispiele von Voltaire und Karl Marx zeigen, erfreuen sich diese als ideologisch-politisch stark konnotierte Persönlichkeiten quer durch ganz Europa einer großen Beliebtheit bei den linksorientierten und kirchenfernen Kreisen, während sie von den christlich geprägten und konservativen Bevölkerungsgruppen abgelehnt werden.
Vergleichbare Brüche der Gedächtniskulturen lassen sich im Übrigen auch innerhalb der sechs untersuchten Länder entlang der weltanschaulichen, politischen bzw. regionalen Grenzen beobachten. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass das Gedächtnis ebenso spalten wie zusammenführen kann. Das deutsche Beispiel ist in der Hinsicht besonders aufschlussreich. In der Beantwortung der geschlossenen Fragen lässt die Feinanalyse der Ergebnisse mit Hilfe der Differenzierungsparameter zwei gegensätzliche Geschichtsbilder hervortreten. Für die Persönlichkeiten der Zeit vor 1800 trennen sich die Gedächtniskulturen entlang der konfessionellen Grenze: während die Katholiken Karl den Großen und Leonardo an den beiden ersten Stellen platzieren, geben die Protestanten zuerst Luther und dann Gutenberg den Vorzug. Für die Persönlichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts wiederholt sich diese Spaltung, aber diesmal entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze: während die Bewohner der „alten“ Bundesländer Adenauer an erster Stelle platzieren, gefolgt von Brandt und de Gaulle, setzen die Bewohner der „neuen“ Bundesländer Brandt an die erste Stelle, gefolgt von Adenauer und Karl Marx.
Am Ende dieses kurzen Essays stehen eine gesicherte Schlussfolgerung, eine wahrscheinliche Erklärung und ein doppelter Wunsch: Als gesicherte Schlussfolgerung gilt, dass man tatsächlich, selbst wenn man die weiterhin ausgesprochen dominante Ausprägung des nationalen Bezugsrahmens berücksichtigt, von einem mindestens in Ansätzen vorhandenen europäischen Gedächtnis sprechen kann, und zwar von einem Gedächtnis, das schon über eine gewisse Selbstständigkeit verfügt und bei welchem man alle Merkmale der Gemeinsamkeit und der inneren Spannung wiederfindet, die für ein authentisches Gedächtnis typisch sind. Als wahrscheinliche Erklärung für diesen Befund liegt die Vermutung nahe, dass dieses gemeinsame Gedächtnis als eine Nachwirkung der langsam erfolgten sozialen, wirtschaftlichen und politischen Einigung Europas „von unten“ verstanden werden kann, und wahrscheinlich weitaus mehr darauf zurückzuführen ist als auf den Erfolg einer voluntaristischen Identitätspolitik „von oben“. Die weit vorangeschrittene Annäherung und Verflechtung der französischen und deutschen Gedächtniskulturen, das heißt der zwei Länder, die am frühesten und am intensivsten an diesem Einigungsprozess beteiligt worden sind, zeigt dies ebenso deutlich wie die eher distanzierte und auf die eigene Vergangenheit bezogene Gedächtniskultur jener Länder, die erst später zur Europäischen Union beigetreten sind, wie insbesondere Spanien und Polen. Wünschenswert wäre nun schließlich, dass zum einen weitere Meinungsumfragen dieser Art durchgeführt werden, auf dass man nicht nur über eine einzige Momentaufnahme, sondern über eine Reihe von Daten verfügt, die es ermöglichen, den Prozess der Entstehung und Entwicklung eines genuin europäischen Gedächtnisses im einzelnen zu verfolgen. Ebenso wünschenswert wäre es, dass die quantitative Untersuchung darüber hinaus durch zahlreiche qualitative Untersuchungen ergänzt würde, um zu einem präziseren und tieferen Verständnis der realen Bedeutung und der subjektiven Tragweite dieser ersten Beobachtungen zu gelangen. Das europäische Gedächtnis ist ein weites Feld, und wir sind erst am Beginn seiner Erschließung.