"Europa ist eine andere Welt und die Europäer sind andere Menschen". Kommentare eines reisenden tatarischen Aufklärers (1899/1902)

Unter dem Titel Avrupa Säjaxatnamäse – „Europareise“ – erschien 1902 in Sankt Petersburg das Buch zu einer Reise, die der muslimisch-tatarische Aufklärer Fatix Kärimi (1870-1937) im Jahre 1899 an der Seite des Goldmillionärs und Mäzens Shakir Rämiev unternommen hatte. Der Text gehört unter den zahlreichen russlandtürkischen Reisebeschreibungen aus dieser Zeit zu denen, auf die ein zuweilen gegenüber dem Genre Reiseliteratur generell geäußertes Urteil tatsächlich zutrifft:[...]

„Europa ist eine andere Welt und die Europäer sind andere Menschen“ – Kommentare eines reisenden tatarischen Aufklärers (1899/1902)[1]

Von Ingeborg Baldauf

Unter dem Titel Avrupa Säjaxatnamäse„Europareise“ – erschien 1902 in Sankt Petersburg das Buch zu einer Reise, die der muslimisch-tatarische Aufklärer Fatix Kärimi (1870-1937) im Jahre 1899 an der Seite des Goldmillionärs und Mäzens Shakir Rämiev unternommen hatte. Der Text gehört unter den zahlreichen russlandtürkischen Reisebeschreibungen aus dieser Zeit zu denen, auf die ein zuweilen gegenüber dem Genre Reiseliteratur generell geäußertes Urteil tatsächlich zutrifft: dass wir durch sie über die physische und mentale Heimat des Autors eigentlich mehr erfahren als über die jeweils besuchte Weltgegend. Trotzdem ist es keine Zufälligkeit, dass Fatix Kärimi seine Reflexionen und Projektionen ausgerechnet aus Anlass einer Begegnung mit Europa niedergelegt hat, und darum trägt sein Text hoffentlich bei zu einem aus vielen Quellen genährten umfassenden Blick auf das Phänomen „Europa“.

In seinem Reisebericht beschreibt der aus Zentralrussland stammende Fatix Kärimi Berlin, Brüssel und Paris, die Côte d’Azur, Mailand, Südtirol und Wien zunächst durchaus der zeitgenössischen Wirklichkeit entsprechend. Seine zusammenfassenden Überlegungen zu Europa, denen der folgende Quellenauszug entnommen ist, verfasste er hingegen erst auf der Weiterfahrt nach Istanbul, hinter Budapest, seinem Empfinden nach offenbar Europa bereits verlassend. Bereits die Auswahl dessen, was Fatix Äfände[2]an „Europa“ erwähnenswert findet, und erst recht seine weiterführenden Überlegungen, zu denen ihn das Erlebte inspiriert, zeigen, dass es sich bei seinem angeblichen Reisebericht letztlich viel eher um die sehr persönlich gefärbten Gedanken eines modernistischen Muslims handelt, der als Pädagoge und Schriftsteller aus gegebenem Anlass versucht, seinem Aufklärungsauftrag nun auch mithilfe des speziellen Genres der Reiseliteratur nachzukommen.

Europa ist in der Darstellung von Fatix Kärimi technologisch führend, es ist gebildet und bildungsbürgerlich, auffallend weiblich, moralisch beinahe einwandfrei und sehr grün. Und vor allem ist Europa in jeder Hinsicht wohlgeordnet (muntazam) – was in der Ausdruckweise der Progressisten unter den islamischen Reformern[3]gleichbedeutend war mit dem als solchem nicht existierenden Wort „modern“. Europa war bereits „in Ordnung gebracht“, und das nicht etwa nach den Maßstäben einer goldenen Frühzeit des Islam, sondern nach den Vorgaben des neuzeitlichen Lebens.

Europäer haben sich ihren Orient mittels Mystifikation und Dämonisierung konstruiert, um so dessen Unterwerfung zu legitimieren. Russland entwickelte eine eigene Spielart des Orientalismus, die an der eigenen europäisch-asiatischen Janusköpfigkeit gebrochen war und mit einem nicht weniger belasteten Okzidentalismus einherging, der sich ein Europa aus dem Blickwinkel ambitionierter Defensive heraus konstruierte. An der Wende zum 20. Jahrhundert kokettierte der russische Zeitgeist mit der asiatischen, „skythischen“, wilden Hälfte des Selbst – zugleich aber bemächtigte sich das Imperium im Namen einer selbst erteilten zivilisatorischen Mission seiner asiatischen Territorien und Bewohner mit einem Zugriff, der an Härte dem nicht nachstand, was Europa in seinen Kolonien zum Maß des Handelns gemacht hatte.

Die Tataren, die nach einem jahrhundertelangen Zusammenleben mit den Russen an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien jeden Schritt in die Moderne und jeden zurück analog setzten zu denen der russischen Seite, hätten sich auch diesem Oszillieren zwischen Orient- und Okzidentalismus anschließen können. Wer unter den „Turko-Tataren“[4], wie etwa Kazem-Bek und Chokan Valixanov, vergessen konnte, dass er nicht der herrschenden, sondern einer beherrschten Nationalität Russlands angehörte, tat dies ja letztlich auch. Unter den Tataren waren die Vertreter eines solchen kopierten Orientalismus, der sich nicht zuletzt auf sie selbst bezogen hätte, jedoch sehr rar. Intellektuelle wie Fatix Kärimi, von denen viele eine doppelte kulturelle Sozialisierung im islamischen und im „russischen“ Sinne hatten, blickten auf Europa ähnlich wie die Modernisten Palästinas, Ägyptens, Persiens oder Indiens, wenn auch mit weniger Hang zu Irreligiosität als diese: Der Tanz zwischen den Kulturen, für den sich viele Tataren entschieden, erforderte gelegentlich die Abgrenzung vom eigenen Quasi-Europa, dem christlichen Russland, und hierfür war eine unaufgekündigte Verankerung im Islam die Rückversicherung. Die Europäer machten sich den Orient als das „ganz Andere“ zurecht, die Russen den „Osten“. In den letzteren waren jedoch Teile des eigenen russländischen Territoriums einbezogen und es war die Aufgabe der russländischen Muslime, in diesem Konzept den Part des „eigenen Fremden“ zu spielen. Wer von den Tataren – die mancher Europäer noch an der Schwelle zum 20. Jahrhundert als Tartaren bezeichnete unter nonchalanter Verwendung des ‚r’, das sie zur Höllenbrut aus Asien stempelte – sich an diesem Orient/Okzident-Spiel beteiligen mochte, verstand sich gleichzeitig auch darauf, in der Gestalt Mittelasiens einen weiteren, noch östlicheren Orient zu konstruieren. Den Part des „Fremden im Eigenen“ wiederum schoben die tatarischen Progressisten ihren innergesellschaftlichen Widersachern zu: den Anhängern der regressiven Reform, den Konservativen und anderen Verweigerern von Aufklärung und Fortschritt, wie sie ihn sich vorstellten. Das Verhältnis der Progressisten zu Russland war so ambivalent wie dessen Positionierung auf der Weltkarte: Wussten sie das Leben unter einer nicht-islamischen Herrschaft ob der besseren Entfaltungsmöglichkeiten für eigene Ideen zu schätzen und konnten sie nicht umhin zuzugestehen, dass Fortschritt leichter in Anbindung an Russland als ohne oder gar gegen es zu erreichen war, so fanden sie sich gleichzeitig auch Auge in Auge mit dem hässlichen anderen Gesicht Russlands, seinem möchtegern-europäischen Imperialismus. Umso heller konnte dafür in der Gegenüberstellung das ferne, das wirkliche, das ganz andere Europa strahlen.[5]

Was den Goldminenbesitzer Shakir Rämiev aus Orenburg an der eurasiatischen Grenze nach Westen zog, war die technologische Überlegenheit Europas: Das eigentliche Ziel der Reise war für ihn, in Belgien modernste Grubentechnik anzukaufen. An seiner Seite lernte auch Fatix Kärimi in Berlin die Taxameter der Droschken schätzen, die ein Feilschen und Betrügen wie bei den Fuhrleuten zu Hause überflüssig bzw. unmöglich machten, und ließ sich im Hotel auf einem gepolsterten Sitz „in einem kleinen Kämmerchen“ ins Obergeschoss befördern. Von der Beleuchtung auf den abendlichen Straßen Europas war Fatix Äfände genauso beeindruckt wie von den Dammanlagen in der Po-Ebene und den praktischen Rollstühlen für TBC-Kranke in den Parks von Meran.

Fatix Kärimi musste sich wie alle Muslime zwischen Marokko und Indonesien bewusst sein, dass es letztlich der technische Fortschritt war, der Europa in die im ausgehenden 19. Jahrhundert bestehende Überlegenheitsposition gebracht hatte. Die Dialektik von Fortschritt und kolonialer bzw. imperialer Unterdrückung, die sich zu diesem Zeitpunkt eingestellt hatte, drohte, die Kluft zwischen Europa und den anderen Regionen unaufhaltsam tiefer werden zu lassen. Entsprechend groß waren die Hoffnungen, dass man durch eine schnelle, rückhaltlose Aneignung von technischen Methoden und Instrumenten zu Europa aufschließen und sogar dessen Joch abwerfen würde. Dauerhafte Vorbehalte gegen moderne Technik hatten nicht einmal die konservativsten tatarischen Denker, von Händlern und Leuten aus der aufkeimenden Industriebourgeoisie ganz zu schweigen. Für Fatix Kärimi war es also gar nicht notwendig, in seinem Buch Avrupa Säjaxatnamäse Überlegungen anzustellen, ob die Übernahme technischer Neuerungen mit den Normen des islamischen Rechts zu vereinbaren sei.

Dass Europas technologischer Fortschritt auch geistige und politische Voraussetzungen hatte und eine Öffnung gegenüber technologischen Neuerungen gleichzeitig eine Abschottung gegenüber geistigen und politischen Veränderungen erschweren würde, dieser Umstand sollte schon weniger als zwei Jahrzehnte später die modernistischen Muslime Asiens und Afrikas in zwei Lager zerfallen lassen: Das eine Lager blieb Europa weiterhin verbunden, das andere wurde zunehmend europafeindlich und anti-westlich. Für Fatix Kärimi war allerdings noch völlig unstrittig, dass der europäische Weg der Aufklärung und Europas bürgerlicher Liberalismus positiv zu bewerten sei, ja, für ihn stellte sich die Frage einer anderen Bewertung überhaupt noch nicht. Das bedingungslose Vertrauen in den Wert jeglicher Bildung, das er mit all jenen gemein hatte, die in ihren Ländern als „Lehrer der Nation“ wirkten – von Ahmed Midhat im Osmanischen Reich über Ismail Gasprinskij auf der Krim bis zu Mahmud Tarzi aus Afghanistan und Abulkalam Azad auf dem indischen Subkontinent – lässt Fatix Äfände im Reisebericht seine Leser mit systemlos zusammengestellten Fakten überhäufen, frei nach der Devise, mehr Wissen könne nie schaden. Gern hätte sich Fatix Kärimi auch dem Lebensstil eines europäischen Bildungsbürgers angenähert, aber daran hinderte ihn letztlich sein großbürgerlicher Mäzen, den seinerseits auf der Reise offensichtlich keine selbst auferlegten Bildungszwänge plagten. Im Text wird dies deutlich bei jeder verschämten Begründung, warum ein bestimmter Museumsbesuch dann doch dem Gang ins Café weichen musste oder warum der Theater- schließlich doch einem Revuebesuch zum Opfer fiel. Was die berühmten europäischen Bildungsstätten angeht, so war es Fatix Kärimi immerhin vergönnt, ein paar Blicke in ein frühmorgendlich leeres Mailänder Gymnasium zu werfen... Alles, was er nicht im Original sehen konnte, besorgte er sich in Form von Reiseführern auf Papier und stopfte sich damit für spätere Verwendung den Koffer voll.

Auch seinen Lesern mutete er so manches „zum allfälligen Gebrauch“ zu. So etwa das 11-Punkte-Programm einer Genfer Konferenz zur Frauenemanzipation aus den mittleren 1890er Jahren, das ihm eine ebenso hübsche wie gebildete junge Reisebekanntschaft aus Holland zwischen Nizza und Mailand zusteckte. An solchen Stellen verfestigt sich in der Tat der Eindruck, für Fatix Kärimi sei auf seiner Reise über weite Strecken der Weg das Ziel gewesen: Wann, wenn nicht auf einer viele Stunden dauernden abendlichen Fahrt im Dunkeln, ohne Sehenswürdigkeiten vor den Zugfenstern, hätte der Leser informiert werden können, dass es „[...] in Europa eine Forderung gibt namens Emancipation des femmes, will sagen, Freiheit der Frau. Die Absicht der Leute, die sich in den Dienst dieser Forderung gestellt haben, ist, die Frauen all die Rechte erlangen zu lassen, welche die Männer schon erlangt haben, sie also gleichberechtigt zu machen; ihnen ausreichend Macht und Mittel an die Hand zu geben, dass sie selbst für ihr Leben sorgen können, und sie davon zu erlösen, praktisch Gefangene der Männer zu sein. Eine ganze Menge Personen von Rang und Namen, Frauen wie Männer, haben sich dieser Idee verschrieben. Damen, die dieser Partei zugehören und für diese Idee arbeiten, veranstalten an liberalen Orten wie London, Paris und Genf internationale Konferenzen, zu denen sich Frauen aus Amerika und Europa versammeln und ihre Gedanken austauschen. Auch auf solche Probleme brachte ich das Gespräch mit dem Fräulein aus Holland und nützte die Gelegenheit. [...]“[6]. Davor hatte er bereits die Gelegenheit genützt, das Fräulein mit der wohlbekannten islamisch-modernistischen apologetischen Figur zu beeindrucken, im Islam werde die Zivilehe bereits seit 1300 Jahren praktiziert, während die meisten Länder Europas sich 1899 dazu noch nicht verdingen mochten. Oder mit dem eben so geläufigen Hadith[7], demzufolge Bildung fromme Pflicht für jeden Muslim und jede Muslima sei. Letzteres Statement nützte er zugleich für einen kleinen Seitenhieb auf diejenigen unter seinen Lesern, nach deren Meinung es hinsichtlich der Bildung von Frauen ausreichte, wenn diese mit Inbrunst populär-religiöse Texte aus dem 13. (christlichen) Jahrhundert herunterleiern konnten. Dass die junge Holländerin mit dieser Andeutung nicht viel anzufangen wusste, entging nicht einmal dem Autor selbst, doch der Wink an die ‚Anderen unter den Eigenen’ musste einfach sein. Hier in Europa konnte Fatix Kärimi die Frauenfrage offen ansprechen – zu Hause an der Wolga ließ sogar noch 1909 die Übersetzung von Qasim Amins sensationellem Buch „Die Befreiung der Frau“, das im Jahr von Fatix Äfändes Europareise in Ägypten erschienen war[8], die Wellen der Befremdung sehr hoch gehen, und das, nachdem Fatix Kärimi die Thematik in einem Essayband „Dies und das“ bereits erneut aufgeworfen hatte[9]; 1899 war die Frau für die meisten tatarischen Autoren wie Autorinnen nicht mehr als ein bloßes Objekt der Erziehung, auf dass sie ihrerseits wiederum die nächste Generation – und in erster Linie die Söhne – gut erziehen möge.

Wann immer Fatix Kärimi von europäischen Frauen berichtet, rückt er neben deren gepflegter Natürlichkeit und eindrucksvoller Bildung vor allem ihre souveräne Charakterfestigkeit in den Blick. Das holländische Fräulein und ihre Mutter sind ebenso von feiner und selbstsicherer Höflichkeit wie die Industriellengattin in Brüssel, welche die beiden tatarischen Gäste in Abwesenheit ihres Gatten zu Hause empfängt, genau so wie die Offiziersdamen, die in Meran einen Wohltätigkeitsbasar ausrichten, und sogar die Zimmermädchen, die er flüchtig kennen lernt. Indirekt, nämlich indem er die positiven Eigenschaften der europäischen Frauen so auffällig thematisiert und entsprechende Beschreibungen bei Männern unterlässt, bleibt Fatix Kärimi natürlich in der Falle der herkömmlichen doppelten Standards. Trotzdem weist er die Doppelmoral nach außen hin klar zurück und bürdet nicht etwa die Moralität der gesamten Gesellschaft bloß den Frauen auf – ein Ansatz, mit dem er sich im Übrigen am deutlichsten als kongenialer Mitstreiter von Ismail Gasprinskij erweist, der Anfang der 1890er Jahre in einem ironisch-dystopischen Kurzroman über das Amazonenreich in der Sahara[10]den Abschied vom diskriminatorischen islamischen Geschlechter- und Moraldiskurs gefordert hatte. Die Leichtfertigkeit Europas nimmt Fatix Kärimi nur einmal auf seiner Reise wahr, und an dieser Stelle, im Casino von Monte Carlo, bleibt sie geschlechtslos: Dass dort wohlhabende Menschen, ob Männer oder Frauen, über Nacht zu Bettlern werden, kann der Aufklärer nicht billigen, der auf Bildung und Entwicklung setzt und nicht auf Nummern im Roulette. Wüsste der Leser des Säjaxatnamä nicht aus anderen Quellen schon „Bescheid“ über den angeblichen moralischen Zustand Europas, könnte er Fatix Äfändes salvatorischen Kommentar im vorletzten Absatz des Quellentextes gar nicht verstehen – von leichten Mädchen oder Frauen ist im Reisebericht nichts zu lesen. Fatix Kärimi weist im Resümee der Doppelmoral seiner eigenen Gesellschaft einen noch niedrigeren Rang zu als der offenen Frivolität Europas. Demnach braucht eine moderne Gesellschaft Technik, Bildung, Geschlechtergerechtigkeit und Offenheit – nur dann hat sie wahre Kultur, wie Europa.

Doch nicht nur Europas Kultur, auch seine Natur beeindruckte Fatix Kärimi, und so soll abschließend von dieser noch kurz die Rede sein. Bei den Zugfahrten entlang der Côte d’Azur, durch Oberitalien, von Tirol bis Wien – mit dem Blick aus dem Fenster versucht der Reisende die Schönheit der Blumengärten, Obsthaine, Almen und Felder in Worte zu fassen und muss doch immer wieder eingestehen, dass es ihm an solchen fehle. In Prater, Schlosspark Schönbrunn und Bois de Boulogne verbringen die beiden Tataren halbe Tage, und die größte Sehenswürdigkeit von Brüssel seien überhaupt nicht Rathaus, Fabriken oder Museen, sondern seine Parks. Fatix Kärimis Europa floriert in Grün. Wenn man von der Faszination einmal absieht, die die Wogen des Mittelmeers und die Gletscherbäche Südtirols auf den Steppenbewohner ausüben, ist es allerdings vor allem nicht die ‚natürliche’, wilde oder gar bizarre Natur, die Fatix Äfändes Aufmerksamkeit fesselt, sondern die gebändigte, wie er sagt „erzogene“ (= tärbijä it), vernünftig gemachte, durch die menschliche Hand Ordnung gewinnende Natur: Parks, nicht Wälder, der ins Steinbett gebannte Po, nicht Rhein oder Mosel, die planierten Kornfelder und die terrassierten Weinberge Oberitaliens sind die Natur Europas, auf die er seine Leser verweisen will.

Fatix Kärimi bereiste 1899 ein durch die Bemühungen seiner Menschen rundum wohl geordnetes Europa, ein modernes Land, dessen Städte einander in ihrer übersichtlichen Anlage so ähnlich waren, in dem sogar die Natur kultiviert war und in dem Grenzen keine wesentliche Rolle zu spielen schienen. Hinter Budapest verließ er diesen Erdteil – allerdings nicht, um seinem Diskurs eine Wendung ins Negative zu geben. Nein, an Istanbul, der sehr viel „eigeneren“ Stadt, in der die Reise endet, findet Fatix Äfände ebenfalls viel Positives, und dies nicht nur im „europäischen“ Stadtteil Pera. Reise und Reisebericht Kärimis hatten offensichtlich nicht zum Ziel, ein selektiv wahrgenommenes Europa gegen einen Orient nach tatarischer Konstruktionsweise auszuspielen. Sein Avrupa Säjaxatnamäse liest sich vielleicht am ehesten als eine Parabel über Modernität und Modernismus, für die Europa die Motive bot und in der das rastlose Vorwärts der Eisenbahn den Takt für das Tun des reisenden Bourgeois und das Wollen seines intellektuellen Begleiters schlug.

Kaum ein Jahrzehnt nach der Europa-Reise stürzte sich Shakir Äfände aus einem Zug nach Sankt Petersburg. Fatix Kärimi kam 1937 unter die Räder des Stalinismus.



[1] Essay zur Quelle Nr. 4.3, Europa als Vorbild und Projektionsfolie: Aus einem tatarischen Reisebericht (1902).

[2] Im Osmanischen Reich war „Efendi“ die übliche Anrede an Herren aus der besseren Gesellschaft. Bei den Tataren eignete man sich das Wort für solche Personen an, die in ihrer Lebensart stark nach Istanbul, nach dem Westen (!) orientiert waren. Für Fatix Äfände, der wie sein viel bekannterer Mentor Ismail Gasprinskij zu dieser Gruppe gehörte, verwende ich dem zeitgenössischen Usus folgend diese Namensform.

[3] Muslimische Reformer des 19. und frühen 20. christlichen Jahrhunderts konnten regressiv, im Sinne der Wiederherstellung des verloren gegangenen Ideals der Frühzeit des Islam, orientiert sein wie die „Erneuerer“ (mujaddid), von denen ein jedes islamische Jahrhundert mindestens einen prominenten kannte. Progressisten dagegen, wie auch Fatix Kärimi, projizierten das Ideal in die Zukunft; ihre Methode war nicht die Reparatur (islah), sondern das Neu-Ordnen (tanzim), die Reform als Set von Ordnungsmaßnahmen (tanzimat), an deren Zielpunkt die Gesellschaft in Ordnung gebracht (muntazam) sein würde. Vgl. Lazzerini, Edward J., Beyond renewal. The Jadid response to pressure for change in the modern age, in: Gross,Jo-Ann (Hg.),Muslims in Central Asia. Expressions of identity and change, Durham 1992, S. 151-166; Baldauf, Ingeborg, Jadidism in Central Asia within reformism and modernism in the muslim world, in: Die Welt des Islams 41/1 (2001), S. 72-88.

[4] Unter diesem Sammelbegriff wurden im Russländischen Reich die Angehörigen diverser türksprachiger Bevölkerungsgruppen der Wolgaregion, Kaukasiens, Mittelasiens und Sibiriens zusammengefasst. Die Ausdifferenzierung in „Nationalitäten“ und Festlegung auf eine moderne Selbstbezeichnung – etwa „Tataren“ für bestimmte Bevölkerungsgruppen an der Wolga und in Südwestsibirien – war an der Jahrhundertwende noch im Fluss, vgl. Bauer, Henning; Kappeler, Andreas; Roth, Brigitte (Hg.), Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897, Stuttgart 1991. Um Verwirrung zu vermeiden, wende ich die Zuschreibung „Tatare“ schon hier an, historisch verfrüht und wohl wissend, dass namentlich Fatix Kärimi sich dagegen heftig verwehrt hätte, weil er wie viele seiner Zeitgenossen für sich eine übergeordnete, verbindende Identität als „Türke“ reklamierte.

[5] Vgl. auch das Zitat im Titel des Essays „Europa ist eine andere Welt und die Europäer sind andere Menschen“; siehe Kärimi, Fatix, Avrupa Säjaxatnamäse, Sankt Petersburg 1902, S. 148.

[6] Kärimi (wie Anm. 5), S. 145.

[7] Arabisch: überlieferter, verbürgter Ausspruch des Propheten Muhammad.

[8] Amin, Qasim, Tahrir al-Mar’a, Kairo 1899.

[9] Kärimi, Fatix, Andan bundan, Orenburg 1907.

[10] Qadynlar ölkäsi, „Das Land der Frauen“, erschien 1890-1891 in Fortsetzungen in Gasprinskijs krimtatarisch-russischer Zeitung Terjiman.

 


Literaturhinweise:
  • Lazzerini, Edward J., Beyond renewal. The Jadid response to pressure for change in the modern age, in: Gross,Jo-Ann (Hg.),Muslims in Central Asia. Expressions of identity and change, Durham 1992, S. 151-166
  • Baldauf, Ingeborg, Jadidism in Central Asia within reformism and modernism in the Muslim world, in: Die Welt des Islams 41 (2001), S. 72-88
  • Bauer, Henning; Kappeler, Andreas; Roth, Brigitte (Hg.), Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897, Stuttgart 1991
  • Motika, Raoul; Herzog, Christoph, Orientalism alla Turca: late 19th / early 20th century Ottoman voyages into the Muslim ‘outback’, in: Die Welt des Islams 40 (2000), S. 139-195
  • Georgeon, François, Un Tatar au Japon, voyage d’Abdürrechid Ibrahimov en Extrême-Orient (1908-1910), Paris 2002

Europa als Vorbild und Projektionsfolie: Aus einem tatarischen Reisebericht von Fatix Kärimi (1902)[1]

„Die Hauptstädte Europas sind im Wesentlichen von gleicher Anordnung, zum Beispiel: In jeder von ihnen gibt es, gleich wenn man ankommt, ein paar prachtvolle, ordentliche Straßen und Plätze, an denen Standbilder aufgerichtet sind. Jede hat eine so genannte Kathedrale, also die größte Hauptkirche, des Weiteren ein so genanntes Rathaus, also Stadtverwaltungsgebäude, Theater und Museen, Universitäten und Krankenhäuser, Parlamentsgebäude und Königspaläste; das sind die größten und prächtigsten Gebäude, welche jeder Reisende besucht und besichtigt. Welche Mühe und welchen Eifer (die Europäer) einsetzen, kann man allenthalben an Zeugen von Kultur und Wohlstand ersehen, wie Produkte von Handwerk und Industrie und die zugehörigen Fabriken es sind, auch an Museen und Druckerzeugnissen (als Zeugen für) Wissenschaft und Künste, und hinsichtlich Moral und Literatur wiederum an der Vielzahl von Theatern und anderen Einrichtungen kulturell-literarischer Art.

Mühe und Eifer der Europäer, ihre Beständigkeit und Ausdauer in allen Dingen und ihre Fortschrittlichkeit in Wissenschaft und Bildung sowie Handwerk und Industrie sind von einem Ausmaß, dass wir es uns nicht einmal richtig vorstellen können.

Es sieht so aus, als gäbe es in Europa viel Unmoral und schlechte, verdorbene Sitten. Aber wenn man es ehrlich betrachtet, dürften wir (den Europäern) darin nicht in viel nachstehen. Der Unterschied liegt wohl nur darin, dass sie alles offen tun, während es bei uns irgendwie heimlich gemacht wird. Kazan, Orenburg, Ufa und Troick, also Zentren des Islam, haben zwar keine einzige nützliche und zivilisierte Einrichtung wie Büchereien und Lesesäle oder Literatur- und Wissenschaftsvereine – aber ein paar öffentliche Puffs voller muslimischer Mädchen unter der Leitung von sauberen Muslimen hat ein jedes davon. Und dass die Asiaten den Europäern gegenüber geradezu vorneweg sind, wenn es um Neid und üble Nachrede, List und Trug, Unruhestifterei, Dummheit und Uneinigkeit geht, daran kann auch kein Zweifel bestehen.

Wer nach Europa reist, wird viel nachzudenken und sich manches Scheibchen abzuschneiden finden, und dass ihm um das Geld, das er dafür ausgeben muss, nicht Leid sein wird, steht gewiss fest. So können wir nur von ganzem Herzen hoffen, dass unsere Leute, die es sich leisten können, mit der gebotenen Großherzigkeit direkt und gleich die Wege für Geschäftsbeziehungen mit Europa öffnen und ihre Kinder angemessen erziehen und ausbilden lassen und zu zeitgemäßen Menschen machen. Die Zeit seinem eigenen Wollen und Meinen unterwerfen zu wollen ist falsch und sowieso unmöglich. Der Mensch ist vielmehr von Natur aus dazu bestimmt, sich dem Gebot der Zeit zu unterwerfen. Wer in einen Eisenbahnwaggon steigt, kommt seinem Ziel mit jedem Tag näher. Wenn sich einer aber dem Zug entgegenstellen und ihn aufhalten will, dann wird der Zug nicht für diesen Menschen anhalten, sondern er wird diesen armen Widerständler unter seinen fürchterlichen Rädern zermalmen. Mit der Zeit ist das auch nicht anders.“



[1] Kärimi, Fatix, Avrupa Säjaxatnamäse, Sankt Petersburg 1902, S. 161-162; Übersetzung des Originals von Ingeborg Baldauf.

 


 
Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
Für das Themenportal verfasst von

Ingeborg Baldauf

( 2007 )
Zitation
Ingeborg Baldauf, "Europa ist eine andere Welt und die Europäer sind andere Menschen". Kommentare eines reisenden tatarischen Aufklärers (1899/1902), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1312>.
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