„Erinnerung an gemeinsame Sommerreisen“? Die deutsche Ostfront im Ersten Weltkrieg durch die Linse des Geografen Hans Praesent

Mitglieder der Landeskundlichen Kommission beim Kaiserlich-Deutschen Generalgouvernement Warschau unternahmen während des Ersten Weltkrieges wissenschaftliche Exkursionen durch die okkupierten Gebiete des östlichen Europas. Die Teilnehmer der Reisen fertigten Fotografien an, von denen einige überliefert sind. Eine Aufnahme, die der Geograf Hans Praesent seinem Vorgesetzten in einem privaten Fotoalbum zu Weihnachten schenkte, steht im Zentrum dieses Essays. Von der Fotografie, ihrem möglichen Entstehungskontext und ihrer Rezeption ausgehend, diskutiere ich Auftrag, Ablauf der Exkursion sowie Parallelen zu früheren kolonialen Unternehmungen.

„Erinnerung an gemeinsame Sommerreisen“? Die deutsche Ostfront im Ersten Weltkrieg durch die Linse des Geografen Hans Praesent[1]

Von Verena Bunkus

Ein Mann in einem Militärmantel steht vor einem zerstörten Haus. Zwei klaffende Risse haben die Tür und die Fenster aus den Angeln gehoben; sie führen von der Erde bis ins Dachgesims und lassen keine Zweifel aufkommen, dass das Gebäude einsturzgefährdet ist. Im Hintergrund steigt das Gelände zu einem Wall an. Der Boden wirkt ausgedörrt, das Unkraut ist kniehoch gewachsen. Neben dem einstöckigen Haus drängt sich eine kleine Baumgruppe. Der Mann im Militärmantel steht breitbeinig und mit gewinkelten Armen, die Hände am Gesicht, in einiger Entfernung dem Gebäude zugewandt. Was genau er tut, bleibt unklar; die Haltung lässt jedoch vermuten, dass er eine Kamera hält.

Die geschilderte Szene befindet sich als Fotografie in einem Album des jungen Geografen Hans Praesent (1888-1946). Unterschrieben ist sie mit der Ortsbezeichnung „Ossowiec“, datiert auf den 19. Juni 1916. Hans Praesent widmete das Album, das er „Lettland, Litauen, Polen“ betitelte, seinem damaligen Vorgesetzten Max Friederichsen (1874-1941) „zur Erinnerung an gemeinsame Sommerreisen auf den Weihnachtstisch 1916“.[2] Der Beschenkte, Friederichsen, war Professor für Geografie an der Universität Greifswald und hatte 1916 die Leitung der landeskundlichen Kommission beim Generalgouvernement Warschau übernommen. Im Abgleich mit anderen Fotografien des Albums ist zu vermuten, dass es sich bei dem breitbeinig stehenden Mann um Friederichsen selbst handelt, der im Juni 1916 die zerstörte Festung Osowiec im 200 Kilometer östlich von Warschau befindlichen deutschen Besatzungsgebiet des Oberbefehlshabers Ost, abgekürzt (Land) Ober Ost oder Ob. Ost, besuchte. Das Haus auf dem Foto war Teil einer Militäranlage.

Das Album ist offensichtlich privater Natur. Es enthält unterschiedliche Motive: Landschaftsaufnahmen, leere Straßenzüge, volle Marktplätze, ausgebombte Kirchen und zerstörte Festungen, Menschen in regionaler Kleidung sowie Männer in Uniformen. Diese posieren mit Zigarre vor oder in den damals noch seltenen Kraftwagen. Einfache Soldaten scheinen eher Statisten zu sein, etwa auf einem Bild mit Feldküchen. Im dazu erhaltenen Brief schreibt Praesent über das Album, es handele sich um „eine kleine bunte Sammlung meiner eigenen Aufnahmen“ und „ein kleines Zeichen meiner grossen Dankbarkeit und zur freundlichen Erinnerung an unsere an Erleben und Schauen reichen Sommerexkursion“.[3]

In welchem Kontext entstand das Bild dieser so friedlich anmutenden „Sommerreise“? In diesem Essay möchte ich, ausgehend von der ausgewählten Fotografie, die Reise der beiden Männer rekonstruieren und erfragen, warum Praesent dieses Motiv gewählt haben könnte.

Max Friederichsen und sein Greifswalder Assistent Hans Praesent waren vermutlich beide mit dem neusten, praktischen Kamera-Equipment ausgestattet, als sie das Okkupationsgebiet bereisten. Damit waren sie nicht alleine: Der Erste Weltkrieg gilt heute, so der Bildhistoriker Gerhard Paul, als der erste „medialisierte“ Krieg der Geschichte, dessen bildliche Hinterlassenschaft durch den Durchbruch der Amateurfotografie, die Erfindung der Filmkamera sowie die massenhafte Produktion und Zirkulation dieser Medien begünstigt wurde.[4] Nicht nur professionelle Fotografen, sondern zahlreiche Amateure gaben mit ihren Bildern Einblicke in die verschiedenen Aspekte des Krieges; sie produzierten und zirkulierten diese in der Öffentlichkeit, auf Feldpostkarten und in privaten Alben.[5]

Handkameras dieser Zeit waren bereits sehr gut transportabel und relativ leicht bedienbar, da sie zum Beispiel nicht mehr zwingend eines Stativs bedurften. Populär waren die Modelle der Boxkamera und der ausfaltbaren Balgenkamera.[6] Anders als in der Plattenkamera, bei der Fotoplatten aus empfindlichem Glas als Negativ eingesetzt wurden, dienten sogenannte Rollfilme bei den neueren Modellen als Aufnahmematerial. Die für Amateure sehr einfach gestaltete Boxkamera konnte mit Hilfe eines Prismensuchers bedient werden. Dabei hielt man sie an den Bauch gedrückt und schaute von oben auf die Kamera, bevor das Bild ausgelöst wurde. Mithilfe eines einfachen Messsuchers zur Bestimmung der Entfernung, der sich an den Balgenkameras befestigen ließ, konnte man die Kamera jedoch auch vor das Gesicht halten; eben auf die Weise, wie es der Mann im Armeemantel auf dem Bild von Hans Praesent tat.

Viele Soldaten fingen durch die Linse eine Welt ein, die ihnen weitestgehend unbekannt war, gar andersartig und exotisch erschien. Als sie ab 1915 die Westprovinzen des Russländischen Reiches gewaltvoll durchquerten, lösten die ungewohnten Landschaften, Sprachen, Religionen sowie slawische und jüdische Kulturen Befremden aus. In einem Akt des Othering stellten sie sich und ihre Kenntnisse über die osteuropäischen Menschen und Landstriche. Fotografieren konnte zur Distanzierung beitragen. Die Männer und wenigen Frauen waren mit Bildern ihrer Heimat im Kopf in den Krieg aufgebrochen; der im Deutschen Reich imaginierte europäische Osten oszillierte jedoch seit jeher zwischen verheißungsvoller Faszination und lebhafter Ablehnung.[7] Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts beliebte „Ostmarkenliteratur“ etwa war von Stereotypen über die Ostprovinzen durchzogen. Die polnische und jüdische Bevölkerung wurde hier als rückständig, kalkulierend und inkompetent dargestellt; allein eine deutsche Hand sei in der Lage, für Rechtschaffenheit und Ordnung zu sorgen und das unendlich erscheinende Land zu kontrollieren.[8] Klischeebeladene Topoi bildeten dabei eine Negativfolie, vor der der als „deutsche Ostkolonisation“ dargestellte hochmittelalterliche Landesausbau sich zur nationalistischen Heilsgeschichte verklärte.

Die Fotografie aus Praesents Album erweckt den Eindruck eines gewöhnlichen Schnappschusses. Selbstreferentielle Bilder – also Aufnahmen von fotografierenden Männern – gab es im Ersten Weltkrieg immer wieder.[9] Für jene, für die Reisen keine Selbstverständlichkeit waren, konnten Aufnahmen auf touristische Weise Land und Leute, aber auch die immensen Kriegsschäden und die Kriegsopfer einfangen. Aufnahmen wurden ebenso dazu genutzt, sich und die eigene Bezugsgruppe zu inszenieren und Erinnerungen an Kameradschaft herzustellen. Die Fotos, Briefen beigefügt oder als Postkarten benutzt, trugen dazu bei, den Kontakt mit den Familien zu Hause zu halten und Vorstellungen des Erlebten zu wecken. Die Propagandaabteilung des deutschen Militärs versuchte ab 1917 verstärkt, Einfluss auf die Bilder des Krieges zu nehmen und Kameras zu begrenzen.[10] Sie entsandte eigene Fotografen an die Front. Die Presse bediente sich dennoch der zahlreichen Amateuraufnahmen, die zuvor durch die Zensur geprüft wurden.

Es ist denkbar, dass Hans Praesent die Fotografie als launige Dokumentation der alltäglichen Arbeit aufnahm, um sie später in ein Erinnerungsalbum zu kleben. Praesent und Friederichsen nutzten ihre Apparate allerdings primär für wissenschaftliche Zwecke. Max Friederichsen trug eine Uniform, die ihn im Rang eines Majors auswies. Als Mitglieder der Landeskundlichen Kommission waren beide dem Generalstab um Gouverneur Hans von Beseler (1850-1921) in Warschau unterstellt. 1915 eroberten die Armeen des Deutschen Kaiserreiches und des Habsburgerreiches die westlichen russländischen Provinzen und beendeten so den Vormarsch der zaristischen Truppen. Die besetzten Gebiete, die heute Teile Polens, Litauens, Lettlands, Belarus' und der Ukraine bilden, gehörten vormals zur multiethnischen Polnisch-Litauischen Adelsrepublik, die Ende des 18. Jahrhunderts von den drei nun kriegsführenden Mächten zerschlagen wurde. Zahlreiche Soldaten der drei Armeen besaßen somit Freunde und Verwandte in den gegnerischen Reihen. Drei Okkupationsregime wurden errichtet. Das Land Ober Ost, das Litauen, Kurland und Białystok-Grodno einschloss, wurde unter deutsche Militärverwaltung gestellt. Die russländische Provinz Kongresspolen wurde in zwei Generalgouvernements aufgeteilt: das nördliche Warschau unter deutscher, das südliche Lublin unter Habsburger Zivilverwaltung. Die beiden Generalgouvernements erhielten ab Oktober 1916 eine gemeinsame Verwaltung. Seit August 1915 führte von Beseler die deutsche Zivilverwaltung an; Teile davon sollte er in polnische Hände übergeben.[11]

Der Auftrag der Kommission bestand darin, das unter deutscher Verwaltung stehende Gebiet landeskundlich zu erschließen, wobei auch das Land Ober Ost sowie das Generalgouvernement Lublin durchquert werden sollten. „Landeskunde“ meinte in diesem Zusammenhang eine interdisziplinäre, regionale Untersuchung der Besatzungsgebiete, die sich, obzwar von Geographen geleitet, auch aus Geologen, Ethnologen, Meteorologen, Zoologen und Botanikern zusammensetzte.

General Hans von Beseler, der im Vorstand der Berliner Gesellschaft für Erdkunde wirkte, war offenbar vom bekannten Berliner Geografie-Professor Albrecht Penck (1858-1945) dazu angeregt worden, eine Landeskundliche Kommission zu begründen,[12] um die „unbekannten“ eroberten Länder zu erforschen.[13] Friederichsen, der für die Leitung auserkoren wurde, hatte zuvor Hochgebirge wie den Ural, den Thian San sowie den Kaukasus bereist und verstand Russisch. Vor dem Ausbruch des Krieges hatte er ein Büchlein über die „modernen Methoden der Erforschung, Beschreibung und Erklärung geographischer Landschaften“ verfasst, in dem er die beiden gängigen Forschungsarten als Literaturstudium und „Beobachtungsgeographie“ charakterisierte.[14] 1915 hatte er ein landeskundliches Buch über die westlichen Provinzen des Russländischen Reiches geschrieben. Polnisch konnte er genau so wenig wie die anderen akademischen Mitglieder. Dies ist umso bemerkenswerter, als es tatsächlich eine Reihe polnischer Wissenschaftler gab, die der Landeskundlichen Kommission hätten beitreten können: In allen Teilungsgebieten der ehemaligen Polnisch-Litauischen Adelsrepublik, allen voran in den galizischen Universitätsstädten Krakau und Lemberg, wurde rege im landeskundlichen Sinne geforscht. Viele Wissenschaftler hatten gar an deutschen und österreichischen Universitäten studiert.[15] Die Teilnahme polnischer Experten war allerdings nicht gewünscht, da sie von Penck und von Beseler als national voreingenommen erachtet wurden.[16]

Die Idee, mit einer Kommission fremde Länder zu erforschen, war nicht neu. So waren zunächst in den deutschen Ländern sowie später auch im Deutschen Reich eine Reihe von Vereinigungen entstanden, die das Ziel verfolgten, mittels geografischer Forschung neue, unbekannte Erdteile zu erschließen, auch mit dem Ziel einer späteren kolonialen Landnahme. Diese Unternehmungen hatten mit der Errichtung der sogenannten deutscher Schutzgebiete in Übersee seit Mitte der 1880er Jahre an Bedeutung gewonnen. 1896 war so auch das Kolonialwirtschaftliche Komitee ins Leben gerufen worden, das Forschungsreisen in die Kolonien umfänglich unterstützte. Dass die Warschauer Kommission ganz bewusst auf diese kolonialen Praktiken rekurrierte, zeigt bereits ihr Name, denn ein Komitee gleichen Namens existierte bereits: 1905 war die Landeskundliche Kommission für die „Erforschung der deutschen Schutzgebiete“ seitens des sogenannten Kolonialrates gegründet worden, die landeskundliches Wissen über die Kolonialgebiete sammeln sollte.[17] Der Kolonialrat war ein beigeordnetes Gremium des Reichskolonialamtes. Den Kommissionsvorsitz übernahm Professor Hans Meyer, der als Forschungsreisender zuvor verschiedene Regionen Afrikas durchquert und als erster Deutscher den Kibokrater, die höchste Erhebung des Kilimandscharo, bestiegen hatte; und auch Albrecht Penck war seit 1906 Mitglied dieser Kommission. „Expeditionen“ sollten die damaligen Kolonien landeskundlich erschließen. Dazu zählte „im Sinne der modernen wissenschaftlichen Landeskunde die Erforschung der Oberflächengestalt eines Gebietes, seines Klimas, seiner Bewässerung, seiner Pflanzenwelt, seiner Tierwelt und seiner menschlichen Bewohner“[18]. Finanziert wurden die Reisen durch den Afrikafonds des Kolonialrats. So wurden etwa in Ost-Afrika die ethnografischen Untersuchungen des Geografen Karl Weule, Professor für Ethnologie und späterer Direktor des Grassi-Museums in Leipzig, gefördert. Das Fotografieren auf diesen Reisen gehörte fest ins wissenschaftliche Repertoire: Weule zählte in seinem Tätigkeitsbericht auf, dass er 1906 „photo-, phono- und kinematrophiert, Texte festgelegt und auch ethnographisch gesammelt“ habe.[19] Fotografien, die gewöhnlich Forschungsberichten beigefügt wurden, waren dabei mehr als nur „Beiwerk“: Bilder waren Bestandteil der Arbeit und lenkten bewusst den Blick der Lesenden. Sie dienten, wie beispielsweise im Falle ethnografischer Aufnahmen, auch dem spezifisch visuellen Erkenntnisgewinn. Erklärtes Ziel all dieser Forschungen war eine wissenschaftliche Erschließung der jeweiligen Gebiete, die auch in eine „wirtschaftliche Bewertung“ münden sollte. Diese sollte die Basis für eine „praktische Kolonisation“ [20] bilden – ausgeblendet und ohne jegliche Stimme blieben bei alledem freilich die kolonialen Subjekte der zu erforschenden Länder. Aufgaben wie die zuletzt genannten fehlten in der Zielvorgabe der Warschauer Landeskundlichen Kommission; an erster Stelle sollte das erzeugte Wissen hier zur Aufklärung der deutschen Öffentlichkeit und der Besatzungsbehörden dienen, was allerdings, ähnlich wie in den Kolonien, eine effizientere Beherrschbarkeit der eingenommenen Länder bedeutete. Insofern war die Okkupationspolitik an der Ostfront durchaus von kolonialen Fantasien beflügelt. Insbesondere im Land Ober Ost glaubten die deutschen Besatzer eine rigorose Kulturmission durchführen zu müssen.[21] In Berlin wurde daher auch diskutiert, auf welche Weise die Gebiete unter deutsche Herrschaft fallen sollten. Dazu gehörten Überlegungen eines neuen deutschen Kolonisationsgebietes, aus dem die lokale Bevölkerung vertrieben werden sollte. Deutsche Ordnungsvorstellungen wie diese schlugen sich später im vom Kaiserreich diktierten Friedensvertrag von Brest-Litowsk nieder, der die deutsche Dominanz im östlichen Europa sichtbar demonstrieren sollte.

Dass Praesent und Friederichsen Bilder von einer zerstörten Militäranlage machen durften, sich damit militärisches Wissen aneignen und unter Umständen preisgeben konnten, lässt Rückschlüsse auf ihre besondere Stellung innerhalb des Generalstabes zu. Im Gegensatz zu anderen Formationen des Militärs konnten die Mitglieder der Landeskundlichen Kommission das ehemalige Teilungsgebiet unbeschränkt bereisen und genossen zahlreiche Privilegien. Im Ausweis von Geograf Erich Wunderlich (1889-1945), der 1917 die Leitung von Max Friederichsen übernahm, werden diese aufgezählt:

„Er hat die Berechtigung, topographische, geographische und photographische Aufnahmen /auch innerhalb von Festungsgeländen/ sowie statistische und anderweitige wissenschaftliche Erhebungen länderkundlicher Art auszuführen. Er hat die Berechtigung, die Grenze zwischen Deutschland und dem Generalgouvernement Warschau jederzeit an allen Stellen zu überschreiten und dabei wissenschaftliche Druck- und Schriftsachen sowie Karten und photographische Apparate ungehindert über die Grenze zu bringen.“[22]

Wunderlich, so ist vermerkt, durfte ferner in „vollkommener Bewegungsfreiheit“ Kraftwagen und Eisenbahnen „in der Polsterklasse“ benutzen und eine Waffe mit sich führen. Mit diesen weitreichenden Befugnissen konnte die Kommission auch in militärisch sensible Bereiche wie die Festung Osowiec vordringen. Das oben beschriebene Foto aus Hans Praesents Album könnte daher eine Tätigkeit innerhalb der landeskundlichen Erschließung zeigen, etwa die Dokumentation von Kriegsschäden. Dagegen spricht, dass das erhaltene Korpus der Exkursionsfotografien nur wenige Bilder in Zusammenhang mit dem Krieg aufweist. Die etwa 3000 Negative sind heute im Ethnologischen Museum in Krakau archiviert. Die Kunsthistorikerin Ewa Manikowska, die diese näher untersucht hat, stellt vor allem die stilvolle Qualität der Studien heraus. So seien beispielsweise die ethnologischen Aufnahmen unter Leitung von Arved Schulz weniger dokumentarisch als künstlerisch. Dies führt sie darauf zurück, dass nicht nur die beteiligten Wissenschaftler hochwertige Aufnahmen anfertigten, sondern dass mehrere professionelle polnische Fotografen auf einigen Exkursionen für die Dokumentationen verantwortlich zeichneten.[23]

Praesent und Friederichsen könnten damit ein Schlachtfeld lediglich besichtigt haben, oder sie könnten – und das ist wahrscheinlicher – an den militärgeografischen Aspekten Interesse gehabt haben. Kurz nach Ausbruch des Krieges beschrieb Hans Praesent in der Fachzeitschrift „Dr. A. Petermanns Mitteilungen aus Justus Perthes' Geographischer Anstalt“ ausführlich die zaristischen Befestigungen Kongresspolens unter Nennung von Osowiec, insbesondere, da der Weltkrieg zunächst als ein klassischer Festungskrieg imaginiert wurde, bevor er sich zu einem Stellungskrieg wandelte. Die tragischen Geschehnisse an der Front im östlichen Europa wurden lange Zeit nicht in gleichem Maße erinnert wie die Schrecken der Front im westlichen Europa.[24] Osowiec war zu diesem Zeitpunkt eine bekannte Festung in Kongresspolen, deren deutsche Eroberung im Spätsommer 1915, der eine längere Belagerung vorausgegangen war, dramatisch, verlustreich und unter Einsatz von Giftgas erfolgte. Die finale Erstürmung ging gar als „Kampf der toten Männer“ in die Geschichte ein; die sterbenden zaristischen Soldaten traten den zahlenmäßig überlegenen deutschen Soldaten unter Wirkung des Giftgases so entstellt entgegen, dass diese voller Entsetzen zurückwichen.

Osowiec war nicht das einzige grauenvolle Schlachtfeld, das Praesent und Friederichsen in jenem Sommer besuchten. So findet sich im Album auch eine Aufnahme eines offenen Personenkraftwagens vom August 1916, in deren Hintergrund zerstörtes Festungswerk von Przemyśl erkennbar ist.[25] An der ostgalizischen Festung fand die größte Belagerung des Ersten Weltkrieges statt, die im März 1915 in einer schweren Niederlage der österreich-ungarischen Armee mit über hunderttausend Kriegsgefangenen endete. Anfang Juni 1915 wurde die Festung von den Verbänden der Mittelmächte zurückerobert.

Die friedlich anmutende und von Praesent verklärend als „Sommerreise“ bezeichnete Unternehmung war bei näherem Betrachten eine mitten im Krieg stattfindende, mehrwöchige, wissenschaftlich angelegte Erkundung Ostmitteleuropas unter großen Privilegien der Bewegungs- und Zensurfreiheit. Sie weist deutliche Parallelen zu kolonialen Unternehmungen wie etwa denen der „Landeskundlichen Kommission des Kolonialrats“ auf und bediente sich damit kolonialer Wissenspraktiken. Im Stile akademisch eingeübter geografischer Reisen durch europäische und außereuropäische Landschaften der Erde dokumentierte Praesent einerseits die aus deutschem Blick notwendig erachteten geografischen Bildbeschreibungen, die Neugier an Neuem erkennen lassen, andererseits legt er durchaus touristisches Verhalten an den Tag. Der genaue Kontext, in dem die Fotografie von Osowiec entstanden ist, lässt sich leider nicht mehr ermitteln. Aufzeichnungen der Reisen konnten nicht aufgefunden werden. Friederichsen erwähnte in seiner aus der Sommerexkursion heraus entstandenen Reisebeobachtung lediglich ausführlicher die Bobr-Sümpfe bei Osowiec.[26]

Festgestellt werden kann, dass im Sommer 1916 die Exkursionsfotografie ein fester Bestandteil im Repertoire von Forschungsreisenden war. Die bildliche Darstellung nahm sogar einen so hohen Stellenwert in der Wissensvermittlung ein, dass die Landeskundliche Kommission während des Ersten Weltkrieges fast ausschließlich Bilderalben herausgab. Auch das 1917 erstmals erschienene „Handbuch von Polen“ zeigt neben den einzelnen Fachbeiträgen eine große Anzahl Fotografien. In diesen finden sich Marktplätze und Menschengruppen, wie sie auch im Privatalbum dokumentiert sind. Die Präsentation landeskundlichen Wissens in Form von Fotografien hatte also einen herausragenden Stellenwert. Auf den Bildern wurde das Okkupationsgebiet fotografisch arrangiert und inszeniert und der Blick auf ein als durch deutsche Hand gestaltbares Land gelenkt. Aufnahmen von zerstörten Festungen sind darunter allerdings nicht zu finden. Das anfangs beschriebene Bild des Mannes vor einer Militäranlage kann im Ergebnis demnach geradezu sinnbildlich als Ausdruck deutscher Okkupation angesehen werden. Nur aus der mehrfach privilegierten Position als Besatzer, Wissenschaftler und Fotograf konnte diese „Sommerreise“ in Kriegszeiten erfolgen und letztlich diese Art der Darstellung produziert werden.



[1] Essay zu der Quelle: Amateurfotografie von Hans Praesent während des Ersten Weltkriegs (19.06.1916), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2023, URL: <https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-77513>.

[2] Fotoalbum von Hans Praesent „Lettland, Litauen, Polen“, 1916, Sammlung Herder-Institut Marburg, Fotoalbum Friederichsen (Zugang 4532). Einige Bilder des Albums wurden bereits digitalisiert: <https://www.herder-institut.de/bildkatalog/index/index?start_galerieansicht=5e25163bc5ace465cd9a8184c3863ed5_quellen>.

[3] Hans Praesent an Max Friederichsen, Warschau, 21.12.1916, beigelegt in: Sammlung Herder-Institut Marburg, Fotoalbum Friederichsen.

[4] Vgl. Gerhard Paul, Bilder des Krieges, Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004, S. 105.

[5] Vgl. ebda, S. 109.

[6] Vgl. ebda, S. 105.

[7] Vgl. Vejas Gabriel Liulevicius, The German Myth of the East. 1800 to present, Oxford 2009; vgl. Gunter Gebhard; Oliver Geisler; Steffen Schröter (Hg.), Das Prinzip „Osten“. Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums, Bielefeld 2010; vgl. Gregor Thum (Hg.): Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert, Göttingen 2006.

[8] Vgl. Kristin Kopp, Germany’s Wild East. Constructing Poland as Colonial Space, Ann Arbor 2012, S. 60ff.

[9] Vgl. Petra Bopp, „Unser Photograph!“. Private Fotoalben aus dem Ersten Weltkrieg, in: Ludger Derenthal; Stefanie Klamm (Hg.), Fotografien im Ersten Weltkrieg, Leipzig 2014, S. 22-31.

[10] Vgl. Anton Holzer, Die Schlacht der Bilder. Fotografie, Propaganda, Krieg, in: ebd., S. 32-41, hier S. 34.

[11] Vgl. Włodzimierz Borodziej; Maciej Górny, Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912-1923, 2 Bde., Darmstadt 2018.

[12] Vgl. Schreiben von Hans von Beseler an Albrecht Penck vom 17.09.1915, in: Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, Nachlass Hans von Beseler, N 30/53, Bd. 4, p. 11.

[13] Max Friederichsen, Vorläufiger Bericht über die erste Arbeitsperiode (Januar bis April 1916) der „Landeskundlichen Kommission beim General-Gouvernement Warschau“, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 5 (1916), S. 320-327.

[14] Max Friederichsen, Moderne Methoden der Erforschung, Beschreibung und Erklärung geographischer Landschaften, Gotha 1914. Zur Beobachtungsschule von Albrecht Penck im Zusammenhang mit der Landeskundlichen Kommission vgl. Norman Henniges, „Naturgesetze der Kultur“: Die Wiener Geographen und die Ursprünge der „Volks- und Kulturbodentheorie“, in: ACME. An International E-Journal for Critical Geographies 14 (2015) 4, S. 1309-1351.

[15] Vgl. Maciej Górny, Transfer, der keine Übersetzung braucht. Deutsche und polnische Wissenschaften vom Menschen im frühen 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 65 (2016) 4, S. 587-606.

[16] Abschrift eines Briefes von Albrecht Penck an Hans von Beseler, Archiv der Jagiellonen Universität Krakau, Nachlass Eugeniusz Romer, 10197 IV, p. 333; Hans von Beseler, Brief an Albrecht Penck, 30.01.1917, BArch-Militärarchiv, Nachlass Beseler, 30-55, p. 11. Zu Beselers Einstellung gegenüber der polnischen und jüdischen Bevölkerung vgl. Stephan Lehnstaedt, Prejudices of an Elite. Central Powers in Occupied Poland, 1915-1918, in: Przegląd Historyczny, 1 (2017), S. 94-114.

[17] Vgl. Karsten Gräbel, Die Erforschung der Kolonien. Expeditionen und koloniale Wissenskultur deutscher Geographen 1884-1919, Bielefeld 2015, S. 63ff.

[18] Bericht der „Kommission für die landeskundliche Erforschung der deutschen Schutzgebiete“ an den Kolonialrat über ihre Tätigkeit im Rechnungsjahre 1905/06, in: Mittheilungen von Forschungsreisenden und Gelehrten aus den deutschen Schutzgebieten 19 (1906), S. 291-294; hier S. 293; vgl. Denkschrift der Landeskundlichen Kommission des Kolonialrates über eine einheitliche landeskundliche Erforschung der Deutschen Schutzgebiete, 1905, Militärarchiv Freiburg, RM 3-6853, p. 1-14.

[19] Bericht über die landeskundlichen Expeditionen der Herren Prof. Dr. Karl Weule und Dr. Fritz Jäger in Deutsch-Ostafrika, in: ebda., S. 294-304, hier S. 299.

[20] Bericht der „Kommission für die landeskundliche Erforschung der deutschen Schutzgebiete“ an den Kolonialrat über ihre Tätigkeit im Rechnungsjahre 1905/06, in: Mittheilungen von Forschungsreisenden und Gelehrten aus den deutschen Schutzgebieten 19 (1906), S. 291-294; hier S. 293.

[21] Vgl. Vejas Gabriel Liulevicius, Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2018; Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen, Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012. Zu kolonialen Fantasien im Kaiserreich vgl. ebenfalls Birte Kundrus (Hg.), Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt 2003.

[22] Ausweis von Friedrich Wunderlich, ausgestellt am 16. Mai 1917: Universitätsarchiv Hannover, Nachlass Erich Wunderlich, n.p.

[23] Vgl. Ewa Manikowska, Visualising the Eastern Front: Heimatschutz and Survey Photography during the First World War, in: Acta Poloniae Historica 113 (2016), S. 113-137, hier S. 122.

[24] Dies ändert sich jedoch gegenwärtig, vgl. Borodziej; Górny, Der vergessene Weltkrieg; Anton Holzer, Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg, 3. Aufl. Darmstadt 2012.

[25] Vgl. Sammlung Herder-Institut Marburg, Fotoalbum Friederichsen; auf der Hinterbank vorne sitzt vermutlich Max Friederichsen.

[26] Vgl. Max Friederichsen, Landschaften und Städte Polens und Litauens. Beiträge zu einer regionalen Geographie. Auf Grund von Reisebeobachtungen im Dienste der „Landeskundlichen Kommission beim Generalgouvernement Warschau“, Berlin 1918.



Literaturhinweise:

  • Włodzimierz Borodziej; Maciej Górny, Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912-1923, 2 Bde., Darmstadt 2018.
  • Vejas Gabriel Liulevicius, Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2018.
  • Ewa Manikowska, Visualising the Eastern Front: Heimatschutz and Survey Photography during the First Word War, in: Acta Poloniae Historica 113 (2016), S. 113-137.
  • Gerhard Paul, Bilder des Krieges, Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004.

Amateurfotografie von Hans Praesent während des Ersten Weltkriegs (19.06.1916)[1]


[1] Quelle zu dem Essay: Verena Bunkus, „Erinnerung an gemeinsame Sommerreisen“? Die deutsche Ostfront im Ersten Weltkrieg durch die Linse des Geografen Hans Praesent, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2023, URL: <https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-131353>; Bildnachweis: Herder-Institut Marburg, Bildarchiv, Inv.-Nr. 130639, URL: <https://www.herder-institut.de/bildkatalog/iv/130639>.


Für das Themenportal verfasst von

Verena Bunkus

( 2023 )
Zitation
Verena Bunkus, „Erinnerung an gemeinsame Sommerreisen“? Die deutsche Ostfront im Ersten Weltkrieg durch die Linse des Geografen Hans Praesent, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2023, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-131353>.
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