Das Paris der Afrikaner und Die Erfindung der Négritude
Von Andreas Eckert
Léopold Sédar Senghor (1906-2001), der erste gewählte Staatspräsident des unabhängigen Senegal, war im April 1961 erst seit wenigen Monaten im Amt. Seine erste Reise nach Europa führte ihn, wenig überraschend, zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. In seinen Reden während des Staatsbesuches, wie auch in seiner Ansprache auf dem Empfang des Stadtrates von Paris am 20. April, die der vorliegende Essay als Ausgangspunkt wählt, betonte Senghor wiederholt die engen und positiven Verbindungen zwischen den beiden Ländern. Für diese engen Verbindungen stand nicht zuletzt seine Biografie.Senghors Karriere war eng mit Frankreich und vor allem mit Paris verknüpft: Senghor hatte zunächst nach seinem Studium in den 30er Jahren dort als Lehrer zu arbeiten begonnen und war nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der bekanntesten afrikanischen Poeten geworden, zugleich aber auch als nationalistischer Politiker hervorgetreten. Zwanzig Jahre lang war er Präsident des Senegal. Diese Zeit endete 1980, als er als erstes afrikanisches Staatsoberhaupt freiwillig von seinem Amt zurücktrat. Vier Jahre später, 1984, wurde er zum Mitglied der Académie Française ernannt. Mit kurzen Unterbrechungen lebte Senghor von 1928 bis 1960 in Paris, also in der Stadt, über die er sich in seiner Ansprache gegenüber dem Stadtrat so freundlich äußert. Die positive Darstellung war daher nicht allein diplomatischen Gepflogenheiten geschuldet. Vom „Geist von Paris“, den Senghor in seiner Rede beschwört, hat er wahrscheinlich mehr als die meisten Kolonisierten profitiert, auch wenn ihm rassistisch motivierte Demütigungen nicht erspart blieben. Die Stadt an der Seine markierte im 20. Jahrhundert für Senghor wie für viele Intellektuelle aus den französischen Kolonien einen Ort, an dem sie wesentliche Prägungen erfuhren und – auf unterschiedliche Weise – ihr Profil etwa als Schriftsteller, Wissenschaftler oder auch als Politiker schärften. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des „Black Paris“ liegt bislang allerdings bestenfalls nur in Ansätzen vor: Senghor nimmt in dieser Geschichte eine tragende Rolle ein.
Die französische Hauptstadt entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg zum unbestrittenen kulturellen Zentrum Europas und zu einem Treffpunkt kreativer Köpfe aus vielen Teilen der Welt, nicht zuletzt aus den Vereinigten Staaten. „Paris, ein Fest fürs Leben“ – damit setzte etwa Ernest Hemingway den Pariser „roaring twenties“ ein literarisches Denkmal. Kosmopolitisch orientierte Pariser Intellektuelle und Künstler entfalteten zunehmendes Interesse an Afrika und der afrikanischen Diaspora. Die im ethnografischen Museum am Trocadéro ausgestellte afrikanische Kunst faszinierte Maler wie Picasso. Die große Expedition Dakar-Djibouti 1931-33 unter Leitung des Ethnologen Marcel Griaule sorgte für öffentliches Aufsehen und intensivierte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kontinent.Freilich verband die Mehrheit der Pariser „Afrika“ eher mit Ereignissen wie den Auftritten Josephine Bakers in der „Revue Nègre“ im Theater an den Champs d’Elysées oder mit der großen Pariser Kolonialausstellung von 1931.
Eine große Sensation war 1921 die Verleihung des renommierten Prix Goncourt an René Maran aus Martinique, einem Mitarbeiter der Kolonialverwaltung in Zentralafrika, für seinen Roman „Batoula“, die Geschichte eines afrikanischen Dorfes. Im Vorwort des Buches sparte Maran nicht mit Kritik an der französischen Kolonialadministration, was ihn – trotz der literarischen Auszeichnung – seinen Posten kostete. Der Roman wurde in den französischen Kolonien verboten.In Frankreich tätige politische Aktivisten aus Afrika und den Antillen gerieten im Übrigen rasch in den Ruch, kommunistische Agitatoren zu sein und mussten mit Verfolgung durch staatliche Behörden rechnen. Dennoch entwickelte sich Paris in der Zwischenkriegszeit zu einem Zentrum panafrikanischer Aktivitäten.In Organisationen wie der „Ligue de Défense de la Race Nègre“ dominierten Studierende oder auch ehemalige Studierende von den Antillen. Im Vergleich zu Großbritannien waren Zahl und politische Bedeutung afrikanischer Studenten in Frankreich vor dem Zweiten Weltkrieg allerdings gering.Senghor war in dieser Zeit offenbar der einzige Student aus Afrika, der einen Abschluss in den Geisteswissenschaften, in seinem Fall in Latein und Griechisch, anstrebte. Und 1935 gelang es ihm als erstem Afrikaner überhaupt, die ebenso begehrte wie rare Agrégation zu erlangen, einen Abschluss, der eine feste Stelle im Staatsdienst nach sich zieht.
Der Beginn seiner Studienzeit in Paris gestaltete sich für den Sohn einer wohlhabenden Serer-Kaufmannsfamilie, der mit Bravour in der senegalesischen Hauptstadt Dakar die Schule abgeschlossen hatte, jedoch keineswegs verheißungsvoll. In der Ansprache erwähnt er rückblickend seine Enttäuschung, die er bei seiner Ankunft über das graue Antlitz der Stadt empfand. Als frustrierend erwies sich zunächst auch das Studium an der Sorbonne. Senghor fühlte sich isoliert und überfordert. Auf den Rat eines wohlwollenden Professors wechselte Senghor bald an das Lycée Louis-le-Grand, eine der ältesten Kaderschmieden des französischen Bildungssystems, um sich auf die Aufnahmeprüfung zur Ecole Normale Supérieure vorzubereiten. An dieser Schule schloss er – wie er auch in der Ansprache berichtet – lebenslange Freundschaften: vor allem mit Georges Pompidou, dem späteren Präsidenten Frankreichs, mit dem vietnamesischen Schriftsteller und Diplomaten Pham Duy Khiem, mit dem sozialistischen Politiker Robert Verdier und mit dem Schriftsteller Robert Merle.Das „old boys network“ dieser Pariser Einrichtung konnte Senghor in seiner späteren Karriere als Politiker wiederholt nutzen. Insbesondere mit Hilfe von Pompidou „entdeckte“ Senghor nun auch die Stadt. Der kalte Regen seiner Ankunft wich „langen Spaziergängen unter einem warmen Regen oder in blaugrauem Nebel.“
Trotz guter Leistungen misslang Senghor die Aufnahmeprüfung zur Ecole Normale Supérieure, er wechselte daraufhin wieder an die Sorbonne, weiterhin unterstützt durch ein staatliches Stipendium. Seine Unterkunft fand er in der neuen Cité Universitaire, im Haus der Fondation Deutsch de la Meurthe. Senghor knüpfte nun intensive Kontakte zur „schwarzen Diaspora“ in Paris und versuchte, Westinder und Afrikaner zusammenzubringen – ein nicht einfaches Unterfangen, denn die meisten Studenten von den Antillen betrachteten sich als Franzosen und pflegten auf die „primitiven Afrikaner“ hinabzuschauen. Gemeinsam mit Léon Dumas aus Guyana und Aimé Césaire aus Martinique gründete Senghor 1935 die kulturell-literarische Zeitschrift „L’Etudiant Noir“, die auch den Kern der Négritude-Bewegung bildete. Senghor hat die Anfänge später etwas dramatisierend so beschrieben: „Mit einigen anderen schwarzen Studenten verfielen wir in eine Art panische Hoffnungslosigkeit. Der Horizont verschloss sich, keine Reform war in Aussicht, und die Kolonisatoren rechtfertigten unsere politische und wirtschaftliche Abhängigkeit mit der Theorie des unbeschriebenen Blattes. Sie meinten, wir hätten bisher niemals etwas erfunden und erschaffen, nichts geschrieben und geforscht, nicht gemalt, nicht gesungen. Um unsere eigene und wirkliche Revolution zu beginnen, mussten wir unsere entliehenen Kleider, die Kleider der Assimilation, ablegen und unser eigenes Sein bejahen, nämlich unsere Négritude.“
Das Projekt der Négritude, das in Paris seinen Ausgang nahm, blieb ein äußerst widersprüchliches Projekt, dem es nicht zuletzt darum ging, den Kolonialismus zunächst ideell zu überwinden. Rasch sorgten die Texte aus dem Umfeld dieser Bewegung unter der schwarzen Diaspora und in den Intellektuellenkreisen von Paris für Aufsehen. Die Weihe, gleichsam Teil des Weltgeistes zu sein, gab der Bewegung jedoch erst Jean-Paul Sartre, der die Négritude in seinem klassischen Essay „Der schwarze Orpheus“ 1948 emphatisch analysierte. Sartre konstruierte die Négritude als einen „anti-rassistischen Rassimus“, dessen Aufgabe es sei, „sich seiner Rasse bewusst zu werden.“Senghor hingegen blieb in der Bestimmung seines Afrika-Bildes immer ambivalent und spekulativ. Einerseits plädierte er für einen kulturellen Synkretismus, andererseits suchte er die Négritude als das zu konstituieren, was afrikanischen Geist vom europäischen trennt. In diesem Zusammenhang stellte er die äußerst kontroverse These auf, Afrikaner eigneten sich die Welt nicht wie die Europäer mit Vernunft, sondern mit Emotionen an.
Die Négritude entstand, wie Senghor in seiner Ansprache kurz erwähnt, in intensiver Auseinandersetzung mit europäischen Schriften über Afrika, auf die er in Paris stieß. Die Schriften der Ethnografen Leo Frobenius und Maurice Delafosse sowie des Kolonialbeamten und Afrikaspezialisten Robert Delavignette übten auf ihn einen besonders nachhaltigen Einfluss aus.Ihre größte Wirkung entfaltete die Négritude schließlich in der ersten Dekade nach dem Zweiten Weltkrieg. „Présence Africaine“, die 1947 gegründete Zeitschrift, zu der sich bald das gleichnamige Verlagshaus gesellte, gab diesem Einfluss sichtbaren Ausdruck.Senghor publizierte weiter Gedichte und Essays, agierte fortan aber vor allem als Politiker. Als Abgeordneter Senegals saß er in der französischen Nationalversammlung und setzte sich von Paris aus für die Unabhängigkeit der afrikanischen Kolonien ein. In den 1950er Jahren artikulierte sich auch erstmals grundlegende Kritik an Senghors Konzept der Négritude. Auf dem von Présence Africaine im September 1956 organisierten Kongress der schwarzen Schriftsteller und Künstler in Paris konstatierte etwa Frantz Fanon, der Theoretiker einer antikolonialen Revolution, dass die Négritude im Grunde eine Spielart des westlichen Rassismus sei, indem sie einem essentialistischen „schwarzen Wesen“ das Wort rede.
Die jüngere Generation afrikanischer Schriftsteller und Künstler in Paris bezieht sich nur noch selten auf Senghor oder grenzt sich gar explizit von ihm ab. Für jene Historiker, denen es darum zu tun ist, die Geschichte der Moderne als eine „verwobene Geschichte“ zu konzeptualisieren, für welche (freilich durch Asymmetrien und Hierarchien geprägte) Interaktionen zwischen Kolonisierten und Kolonisierenden konstitutiv sind, bieten Senghors Aktivitäten in Paris und seine Perzeption der imperialen Metropole hingegen wichtiges Material, denn nicht zuletzt war Paris im 20. Jahrhundert ein Ort, an dem französische und afrikanische, europäische und außereuropäische Geschichte sich vermischten.
[1] Essay zur Quelle Nr. 4.6, Léopold Sédar Senghor: Der Geist von Paris (1961).
[2] Über Senghor sind inzwischen zahlreiche biographische Studien entstanden. Die mit Abstand beste ist Vaillant, Janet G., Black, French, and African. A life of Léopold Sédar Senghor, Cambridge/Ma. 1990; ferner u.a. Hymans, Jacques Louis, Léopold Sédar Senghor: An intellectual biography, Edinburgh 1971; Biondi, Jean-Pierre, Senghor ou la tentation de l’universel, Paris 1993; Sorel, Jacqueline, Léopold Sédar Senghor. L’emotion et la raison, Saint-Maur-des Fossés 1995.
[3] Vgl. etwa Jules-Rosette, Bennetta, Black Paris. The African writers’ landscape, Chicago 1998.
[4] Vgl. Sibeud, Emmanuelle, Une science impériale pour l’Afrique: La construction des savoirs africanistes en France 1878-1930, Paris 2002, Kap. 9. Zur Expedition vgl. die berühmten Tagebücher von Leiris, Michel, L’Afrique fantôme, Paris 1988 (1934).
[5] Vgl. Ezra, Elizabeth, The colonial unconscious. Race and culture in interwar France, Ithaca 2000.
[6] Senghor hat den großen Einfluss von Maran auf die afrikanischen Studenten und Intellektuellen in Paris beschrieben in: René Maran. Précurseur de la Négritude, in: Senghor, Léopold Sédar, Liberté 1. Négritude et humanisme, Paris 1964, S. 407-411. Senghors erste Publikation beschäftigte sich ebenfalls mit Maran: Senghor, Léopold Sédar, L’humanisme et nous: René Maran, in: L’Etudiant Noir 1 (1935).
[7] Vgl. Liauzu, Claude, Aux origines du tiers-mondismes. Colonisés et anticolonialistes en France (1919-1939), Paris 1982; Dewitte, Philippe, Les mouvements nègres en France 1919-1939, Paris 1985; Spiegler, James, Aspects of nationalist thought among french-speaking West Africans, 1921-1939, unpubl. D. Phil Thesis, Oxford 1967; Geiss, Immanuel, Panafrikanismus. Zur Geschichte der Dekolonisation, Frankfurt am Main 1968, Kap. II, 7; Langley, J. Ayodele, Pan-Africanism in Paris 1924-1936, in: Journal of Modern African Studies 7 (1969), S. 69-94.
[8] Vgl. Eckert, Andreas, Afrikanische Studenten und anti-koloniale Politik in Europa, 1900-1960, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 7 (2004), S. 129-145.
[9] Vgl. dazu auch Senghor, Léopold Sédar, Lycée Louis-le-Grand, haut lieu de culture française, in: Ders., (wie Anm. 6), S. 403-406.
[11] Senghor, L’Esprit de la civilisation ou des lois de la culture Negro-Africaine (1956), zit. n. der Übersetzung in Imfeld, Al (Hg.), Verlernen, was mich stumm macht. Lesebuch zur afrikanischen Kultur, Zürich 1980, S. 83.
[12] Sartre, Jean-Paul, Orphée Noir, in: Senghor, Léopold Sédar (Hg.), Anthologie de la nouvelle poésie nègre et malgache de langue française, Paris 1948, S.IX-XLIV (dt.: Schwarzer Orpheus, in: Sartre, Jean-Paul, Situationen, Reinbek 1965, S. 189-211).
[13] Vgl. Vaillant (wie Anm. 2), S. 121ff.; zu den vielen Quellen, die Senghors Denken beeinflussten, vgl. ferner Lölke, Ulrich, Kritische Traditionen. Afrika. Philosophie als Ort der Dekolonisation, Frankfurt am Main 2001.
[14] Vgl. Mudimbe, Valentin Y. (Hg.), The surreptitious speech. Présence africaine and the politics of otherness 1947-1987, Chicago 1992.
[15] Fanon, Frantz, Racisme et culture, in: Présence Africaine 8-10 (1956), S. 125f.
Literaturhinweise:
Ezra, Elizabeth, The colonial unconscious. Race and culture in interwar France, Ithaca 2000
Jules-Rosette, Bennetta, Black Paris. The African writers’ landscape, Urbana 1998
Lölke, Ulrich, Kritische Traditionen: Afrika – Philosophie als Ort der Dekolonisation, Frankfurt am Main 2001
Mudimbe, Valentin Y. (Hg.), The surreptitious speech. Présence africaine and the politics of otherness. 1947-1987, Chicago 1992
Vaillant, Janet G., Black, French, and African. A life of Léopold Sédar Senghor, Cambridge/Mass. 1990