Identität und Differenz. Ein europäisches Spiel
Von Wolfgang Kaschuba
Die im Anschluss an diesen Essay abgedruckte Collage europäischer Mentalitäten und Stereotypen stammt aus keiner deutschen Feder, dazu ist sie ganz offensichtlich zu leicht, zu frech, mit zu viel Esprit geschrieben. Doch vielleicht ist auch diese Einordnung bereits wieder einem alten und noch gängigen europäischen Klischee verpflichtet, das solchen Witz automatisch der französischen Kultur zuschreibt. Wie auch immer: Der Autor heißt jedenfalls Aristide Briand, ist also in der Tat Franzose und kein Unbekannter, wenn es um die europäische Geschichte und Kultur des 20. Jahrhunderts geht.
Briand wurde am 28. März 1862 in Nantes geboren, ergriff nach dem Studium zunächst den Rechtsanwaltsberuf, bevor er dann über 30 Jahre, von 1902 bis 1932, seinen festen Sitz als Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung einnahm. Dabei begann er seine politische Laufbahn auf Seiten der Sozialisten, um sich später den Sozialrepublikanern zuzuordnen. Er war in herausragenden politischen Positionen tätig: zunächst als Kultusminister, dann von 1910 bis 1932, immer wieder im Wechsel, als Ministerpräsident und französischer Außenminister. Geprägt von den bitteren Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und von der auch in Frankreich ab 1914 nationalistisch aufschäumenden „Kriegskultur“, die mit der nationalen Mobilmachung gegen Deutschland einherging, wurde aus Aristide Briand zwar kein Pazifist, jedoch ein überzeugter Europäer, der sich nachdrücklich für den Völkerbund engagierte, sich immer wieder um kollektive europäische Sicherheitskonzepte bemühte und insbesondere den Ausgleich zwischen französischen und deutschen Geschichts- wie Politikhorizonten suchte.Dies tat er mit großem Erfolg: 1925 entwarf er wesentlich die Locarno-Verträge mit, in denen ein neuer europäischer Status quo nach dem Weltkrieg fixiert wurde. Für diesen Vertragsentwurf erhielt Briand zusammen mit Gustav Stresemann 1926 den Friedensnobelpreis. Auch danach arbeitete Briand überaus aktiv am „Kriegsächterpakt“ mit, der 1928 geschlossen wurde und als Briand-Kellogg-Pakt in die Geschichtsbücher einging.
Briand starb am 7. März 1932 in Paris. Den nächsten Weltkrieg wollte er sich offenbar nicht mehr antun.
Bemerkenswert an Briands kleiner europäischer Völkerkunde ist sicherlich zunächst einmal der Stoff, aus dem ihre Bilder und Facetten gemacht sind. Natürlich nehmen die Anspielungen auf nationale Charakterologien dabei immer wieder aktuelle Bezüge auf den gerade überstandenen Weltkrieg. Die Kriegserfahrung als tiefe Zäsur europäischer Welt-Anschauung ist bei ihm überaus präsent und sorgt für die dramatischen Akzentuierungen. Andere Bildfacetten jedoch beziehen sich auf andere und ältere kulturgeschichtliche Motive, die weit ins 19. oder 18. Jahrhundert zurückreichen. So sind die Verkörperungen russischer Kultur und Gesellschaft in der Figur des Intellektuellen, in der Konfiguration des Balletts und im Szenario der Revolution jenem Repertoire europäischer Geschichts- und Literaturbilder entnommen, das längst vor Beginn des 20. Jahrhunderts solche Klischees „russischen Wesens“ bereithält. Die italienische Mandoline und Mafia wiederum reflektieren Vorstellungen von italienischer Volkskultur und Mentalität, die nicht ohne den begonnenen Italientourismus des 19. Jahrhunderts zu denken sind, in dem Antikenbegeisterung, mediterranes Lebensgefühl und touristisch inspirierte Folklore zu einem panoramatischen Gesamtkunstwerk verschmelzen.
Dem steht mit dem sturen deutschen Pedanten ein nationales Stereotyp gegenüber, das an Mentalitätsdiskurse des 19. Jahrhunderts um die „Sekundärtugenden“ anknüpft: der beflissene und rechthaberische Spießbürger, der als Heinrich Manns „Untertan“ zum literarischen und dann auch filmischen Prototyp einer kleinbürgerlichen Lebenswelt wird, wie sie sich um die Jahrhundertwende im Mief zwischen Bierkneipe, Familie, Offiziersreserve und Kaiserbegeisterung eingerichtet hat. Ihm sind also bereits ebenso künstlerische und mediale Denkmäler gesetzt wie dem französischen Liebespaar, das in kaum einem trivialliterarischen Erguss der Zeit mehr fehlen darf. Denn Paris ist längst die „Stadt der Liebe“, wobei käufliche und romantische Liebe hier offenbar ohne Berührungsängste Hand in Hand gehen – jedenfalls in den imaginären und touristischen Bildern der Stadt. Etwas weniger charmant verkörpern die Engländer schließlich mit ihrem Tennismatch die Anfänge der sportiven Freizeitgesellschaft und mit ihrem Empire den Höhepunkt europäischer Kolonialherrlichkeit, während die Amerikaner mit ihrer konsequenten Cocktailkür eben jenen „american way of life“ verkörpern, der dem europäischen Intellektuellen Briand wohl modernistisch, zugleich aber auch zutiefst konformistisch erscheinen mag. Denn damals wird mit dem Schlagwort von der „Amerikanisierung“ auch gern das Bild einer Einheitskultur der „selfmade men“ und der technischen Moderne beschworen, gegen die jene bürgerliche und intellektuelle Zivilisation Europas behauptet werden muss.Man mag sich lediglich noch fragen, weshalb Briand so auf den Cocktails bestand und nicht den Whisky bevorzugt hat. Aber das ist gewiss Geschmackssache.
Alle diese Bilder entstammen also einem Arsenal, das sich über Geschichtsbücher und Romane, über Malerei und Architektur, über Postkarten und Kino längst in europäischen Köpfen etabliert hat. Neben dem klassischen „kulturellen Erbe“ Europas mit seinen Shakespeares und Michelangelos, seinen Goethes und Mozarts sind es diese populären Bilder, Narrative, Symbole, Mythen und Klischees, aus denen sich europäische Weltbilder speisen. Sie sind Teil einer europäischen Massenkultur, die sich ein eigenes kollektives Wissen schafft, zusammengesetzt aus den unterschiedlichsten Fragmenten und Motiven politischer wie kultureller Geschichte und massenhaft verbreitet über die neuen Bild- und Druckmedien. Damit ist ein neues kollektives europäisches Gedächtnis entstanden, das beides enthält: integrative europäische Horizonte wie distinktive und auf nationale Differenz angelegte Teilansichten. Das Eigene und das Fremde, das Gemeinsame und das Trennende: Die jeweiligen Bilder werden vor diesen Horizonten immer wieder neu ausgehandelt. Dabei spielen nationale Stereotypen und Klischees deshalb eine strukturierende Rolle, weil sie auch eine neue Form von Alltagswissen zu enthalten scheinen. Denn mit dem europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts, der eben nicht nur staatlich-militärische, sondern insbesondere auch kulturelle Repräsentationen schuf, haben nationale Geschichte und Literatur, nationale Malerei und Architektur, nationale Landschaft und Mentalität eine neue Bewertung erfahren. Zwischen die kleine Region und das große Europa ist eine mittlere Ebene getreten, die zur Projektionsfläche neuer Identitäten und Gewissheiten geworden ist. Es ist eine europäische Landkarte und Landschaft der Nationen, an der sich nun Selbstverständnisse und Selbstbilder zu orientieren haben. Auch die Landschaft selbst ist dabei nationalisiert worden. Der „deutsche Rhein“ und der „deutsche Wald“ verkörpern nun ebenso nationale Typen wie der „englische Park“ oder die „italienische Campagna“. Malerei, Literatur, Fotografie und Medien haben hier in schönstem Zusammenspiel räumliche Verkörperungen von Natur und Nation geschaffen.
Dieselbe Naturalisierung geschieht längst auch mit den mentalitären Landschaften. Die landscapes und die mindscapes werden in Korrespondenz zueinander gebracht, im Spiel mit Mentalitäten und Nationalismen. Und das ist auch das Spiel Aristide Briands. Ein Spiel allerdings, das er, Politiker wie Intellektueller, Franzose wie Europäer, dazu benutzt, um diese Klischees aufzuspießen, um die dahinter liegende Denkmatrix populärer Vorurteile sichtbar und hinterfragbar zu machen. Da operiert Briand nicht anders als Kurt Tucholsky in Deutschland, der etwa zur selben Zeit schreibt: „Worauf man in Europa stolz ist. Dieser Erdteil ist stolz auf sich, und er kann auch stolz auf sich sein. Man ist stolz in Europa: Deutscher zu sein, Franzose zu sein, Engländer zu sein, kein Deutscher zu sein, kein Franzose zu sein, kein Engländer zu sein.“Auch Tucholsky zeigt also, wie dieses Spiel mit Eigen und Fremd, mit Identität und Differenz funktioniert, jenes Spiel, das der Historiker Benedict Anderson als kulturelle Verfertigung „imaginärer Gemeinschaften“ charakterisiert hat.Dabei spielen politisch-ästhetische Symbole und Praxen eine wesentliche Rolle, die im 19. Jahrhundert dann in jenem großen Dressurakt mündeten, der die Menschen Nation „fühlen“ ließ. Eine kollektive Ordnung der Gefühle war entstanden, welche die Menschen schließlich dazu befähigte, beim Hören der – eigenen! – Nationalhymne nicht nur innere Empfindungen von Größe und Zugehörigkeit zu verspüren, sondern sogar äußere Gänsehäute zu erzeugen: einen somatischen und dermatischen Ausdruck also tiefster innerer Ergriffenheit durch die akustisch-emotionale Anmutung des Nationalen. Heute benutzt die Autowerbung im Übrigen dieses Motiv ebenfalls zur Illustration tiefer Betroffenheitsmomente, wenn in ihren TV-Spots ein satter Motorton die zarten Armhärchen der Fahrerin zum Aufstellen bringt.
Diese populären Stereotypen und Klischees, die Briand zitiert und assoziiert, bilden den Stoff der Witze, Stammtischdebatten und Erzählungen „über die anderen“, die Europa seit Generationen kennt und übt. Und sie verweisen damit auf Diskurs- und Praxisformen des (historischen) Alltags, dem sich auch die Geschichtsforschung weiter annähern muss, wenn sie tatsächlich „nahe“ bei den historischen Akteuren und deren Lebenswelten sein will. Aristide Briand wusste dies genau. Er war zwar Politiker, aber ein historisch denkender und kulturell kundiger. Und gute Historiker wissen dies heute auch: Die europäische Ikonographie der nationalen Klischees, Symbole und Mythen ist für die Geschichtswissenschaft mittlerweile wichtiger geworden als die Hagiographie der Herrscherhäuser und die Chronologie von deren Schlachten.
Auffällig ist gewiss auch die Form, in die Aristide Briand seine Bilder textlich gebracht hat. Fast erinnern seine Dreizeiler an die Sonettform lyrischer Dichtung, in der sich die Strophen zwar reimen, im Wesentlichen aber doch auch dem Rhythmus verpflichtet sind. Auch wenn Briand also nicht ganz die Dichte und Leichtigkeit der lyrischen Terzette findet, hätte Rainer Maria Rilke als Großmeister dieser kleinen Form an seinen Dreizeilern gewiss seine Freude gehabt. Im Dreierschritt seiner Bilder wiederum offeriert Briand uns jeweils drei Ebenen, die ganz bewusst zunächst das „nationale Individuum“ zu charakterisieren versuchen, dann eine typische Paar- und Zweierkonfiguration, um dann im dritten Schritt ein nationales Kollektivmotiv zu entwerfen. Wie gut ihm dies gelingt, wird wohl allein schon daran deutlich, dass wir auch heute, rund 80 Jahre später, die Botschaft und Logik dieser Assoziationen sofort verstehen. Kein Wunder, denn Aristide Briand spielte damit virtuos auf der Klaviatur europäischer Geschichte und Literatur, deren Noten und Partituren auch wir sehr wohl noch kennen. Sie appellieren an ein tacit knowledge europäischer Geschichte und Kultur, das sich aus unserem „Hinterkopf“ jederzeit abrufen lässt.
So ist Briands Text also populär, anschaulich und verständlich. Doch ist er als Quelle damit noch keineswegs klar und geklärt, denn wie so oft bleiben auch hier noch Verstehens- und Verifizierungsprobleme. Zum einen ist das Original in französischer Sprache verfasst, damit bleibt bei aller Nähe von französischen und deutschen Begriffen doch immer eine Differenz kulturgeschichtlich bedingter Unterschiede in Semantik und Sprachgebrauch, die im Einzelnen noch genauer auszuloten wäre. Die hier vorgelegte Übersetzung ist handmade und noch keineswegs kritisch in dem Sinne bearbeitet, dass die einzelnen Sprachbilder tatsächlich verglichen und in Beziehung zueinander gesetzt worden wären. Zum andern ist der Publikationsort dieses Textes bislang noch unklar. Ich selbst war auf ihn bereits vor Jahren in einer Tageszeitung gestoßen, die diese Zeilen Aristide Briands ohne Literaturnachweis veröffentlicht hatte. Und ich wurde wieder daran erinnert, als ich kürzlich an einem Dissertationsverfahren beteiligt war, in dem dieses Zitat ebenfalls auftauchte. Der Kulturwissenschaftler Jens Schneider hatte in seiner Promotionsschrift das kleine Kunstwerk zitiert, allerdings ebenfalls ohne bibliografischen Nachweis.So laden Aristide Briands europäische Selbst- und Fremdbilder schließlich in doppelter Weise zum aktiven Umgang mit Geschichte ein: auf der Ebene der Gedanken und Ideen wie auf jener der Quellen- und Archivforschung - in Deutschland wie in Frankreich.
[1] Essay zur Quelle Nr. 3.3, Aristide Briand: Gedicht (ohne Titel, frühes 20. Jahrhundert).
[2] Siehe dazu etwa Horne, John, Der Schatten des Krieges: Französische Politik in den 20er Jahren, in: Mommsen, Hans (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung, Köln 2000, S. 143-164.
[3] Siehe dazu Kaelble, Hartmut, Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001, S. 163.
[4] Tucholsky, Kurt, Zwischen Gestern und Morgen, hg. von Mary Gerold-Tucholsky, Reinbek 1967, S. 29.
[5] Anderson, Benedict, Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, London 1983.
[6] Inzwischen ist die Dissertation veröffentlicht: Schneider, Jens, Deutsch sein. Das Eigene, das Fremde und die Vergangenheit im Selbstbild des vereinten Deutschland, Frankfurt am Main 2001, S. 54.
Literaturhinweise:
Anderson, Benedict, Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, London 1983
Horne, John, Der Schatten des Krieges: Französische Politik in den 20er Jahren, in: Mommsen, Hans (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung, Köln 2000, S. 143-164
Kaelble, Hartmut, Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001
Schneider, Jens, Deutsch sein. Das Eigene, das Fremde und die Vergangenheit im Selbstbild des vereinten Deutschland, Frankfurt am Main 2001