Glasnost' und die gesellschaftliche Aufarbeitung des stalinistischen Terrors.

Der Terror unter Stalin hat mehr als zehn Millionen Menschenleben gefordert. Anders als in Deutschland steht eine ernsthafte gesellschaftliche Aufarbeitung dieser schrecklichen Ereignisse in Russland dennoch bis heute aus. Nach Stalins Tod gab es kein Diktat von Siegermächten, das der politischen Klasse eine Rechtfertigung über ihre Tätigkeit unter der Diktatur Stalins abverlangt hätte.[...]

Glasnost' und die gesellschaftliche Aufarbeitung des stalinistischen Terrors[1]

Von Stephan Merl

Der Terror unter Stalin hat mehr als zehn Millionen Menschenleben gefordert. Anders als in Deutschland steht eine ernsthafte gesellschaftliche Aufarbeitung dieser schrecklichen Ereignisse in Russland dennoch bis heute aus. Nach Stalins Tod gab es kein Diktat von Siegermächten, das der politischen Klasse eine Rechtfertigung über ihre Tätigkeit unter der Diktatur Stalins abverlangt hätte. Ebensowenig forderte bisher die Bevölkerung, etwa der deutschen Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre vergleichbar, eine öffentliche Debatte über Stalins Verbrechen. In der Sowjetunion behielten vielmehr die Mittäter das Heft des Handelns in der Hand. Sie bestimmten die Regeln der „Entstalinisierung“ unter Chruschtschow und ließen sich dabei von ihren machtpolitischen Interessen leiten. Sie entschieden selbst, welche Fragen zugelassen waren. Erst unter dem Einfluss von Gorbatschows Glasnost' („Transparenz“) wurde es Ende der 1980er Jahre möglich, öffentlich über den Terror zu sprechen und Einzelschicksale zu rekonstruieren. Das mangelnde Interesse der sowjetischen Gesellschaft an der Aufarbeitung der Verbrechen hat nicht zuletzt seine Ursache darin, dass es nicht nur die Millionen Opfer des Terrors gab, sondern eine mindestens gleich große Zahl von Tätern. Und nicht anders als in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg richtete sich das primäre Interesse der Überlebenden nicht auf die Aufklärung der Verbrechen.

Warum habe ich gerade den Zeitungsartikel „Der grausame Preis“ des Pravdakorrespondenten I. Lachno aus dem Jahr 1988 als Quelle ausgewählt, um diese Problematik zu erörtern? Ausschlaggebend war die Vielschichtigkeit der Aussage. Dieser Text vermittelt Aufschlüsse über die gegenwärtige Einstellung in Russland zu den Verbrechen Stalins, er präsentiert ein Einzelschicksal, das Einblicke in typische Züge des „Alltags des Terrors“ unter Stalin zulässt, damit eröffnet der Text indirekt auch Vergleichsmöglichkeiten zum Nationalsozialismus und schließlich setzt er sich auch kritisch mit der dominierenden Position in der Historiografie über den Stalinismus auseinander. Der Artikel von Lachno fiel mir im Herbst 1988 eher zufällig bei der abendlichen Zeitungslektüre in die Hände. Ich hatte mich auch damals schon mehr als ein Jahrzehnt mit Stalins Terror befasst, die gewaltige Zahl der Opfer war mir wohl vertraut. Und dennoch traf mich diese an und für sich banale Geschichte eines einfachen und „kulturlosen“ Bauern wie ein Schlag. Sein Schicksal spiegelt die typischen Züge von Stalins Terrorregime und die unergründliche Willkür, mit der es zuschlug. Dennoch darf und will ich der berechtigten quellenkritischen Frage nicht ausweichen: Hat sich der Vorfall überhaupt so abgespielt, oder präsentiert uns Lachno einfach eine literarische Fiktion? Ich muss gestehen, dass ich bisher nicht in die heutige Ukraine gereist bin, um den Fall in den dortigen Archiven zu rekonstruieren. Dort müsste es die Akte des Untersuchungsverfahrens mit dem Urteilsspruch geben. Ebenso müsste eine Akte über Kapinos „Führung“ in den Lagern existieren. Über das eigentliche Opfer Kapinos würden wir aus diesen Akten aber kaum etwas erfahren. Während meiner mittlerweile jahrzehntelangen Beschäftigung mit Stalins Terror habe ich entsprechendes Archivmaterial immer wieder in der Hand gehabt, ebenso Archivakten zur Überprüfung von Urteilen der Stalinzeit sowie zur Rehabilitierung von Opfern. Dennoch habe ich nicht gezögert, gerade auf diesen Artikel zurückzugreifen. Es ist Lachnos Verdienst, uns einen Einzelfall plastisch sowohl in seiner ganzen Banalität als auch Grausamkeit vor Augen zu führen. Alle geschilderten Handlungsabläufe kann ich aus meiner Kenntnis des Archivmaterials als gesichert und „typisch“ identifizieren. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass es sich um Fiktion handeln sollte, bliebe der Text immer noch eine Quelle zur Beurteilung der Glasnost'-Politik.

Ein aufmerksamer Beobachter der russischen Entwicklung in den letzten Jahren wird das Entstehen dieses Textes unschwer in die Anfangsphase von Gorbatschows „Glasnost'„ auf die Jahre 1988 und 1989 verorten. Weder davor noch danach hätte eine zentrale Zeitung so einen Artikel abgedruckt. Und die Prawda war auch 1988 keine beliebige Zeitung, sondern das Zentralorgan der Kommunistischen Partei der Sowjet­union. Nur zu diesem Zeitpunkt trafen sich zwei Faktoren: die Bereitschaft der Herrschenden, unbequeme Fragen über die Geschichte der Sowjetunion in der Öffentlichkeit zuzulassen, und die Neugier der Beherrschten zu erfahren, was wirklich geschehen war. Das öffentliche Interesse an den Enthüllungen über die Verbrechen Stalins erreichte im Herbst 1988 seinen Höhepunkt. Es ließ zugleich alte Wunden aufbrechen. Aus den Leserzuschriften an die Presse ist abzulesen, dass sich auch Jahrzehnte nach Stalins Tod an der Unversöhnlichkeit der Position von Tätern und Opfern – bzw. ihrer Kinder und Enkel – noch immer nichts geändert hatte. Hielten die einen Stalins Taten für notwendig zur Kräftigung des Landes und seine Opfer für schuldig, klagten die anderen über das erlittene und nicht entschädigte Unheil. Die unvermeidliche, von Gorbatschow aber nicht vorhergesehene Konsequenz der Glasnost' war angesichts der Ungeheuerlichkeit von Stalins Verbrechen die totale Diskreditierung und Delegitimierung der Herrschaft der Kommunistischen Partei und damit das Auseinanderfallen der Sowjetunion. Der Gerechtigkeit halber muss man sagen, dass es zunächst die breite Öffentlichkeit war, die an der Wende zu den 1990er Jahren das Interesse an weiteren Enthüllungen verlor. Für sie rückte wieder der tägliche Überlebenskampf in den Vordergrund, der mit der Einleitung der Systemtransformation immer neue Herausforderungen schuf. Doch auch die Herrschenden kehrten sich von der Glasnost' ab, nachdem diese in Widerspruch zu ihren Machtinteressen geriet. Rückblickend können wir feststellen, dass Jelzin die Abkehr theatralisch inszenierte, als er im Oktober 1993 das „Weiße Haus“ – das russische Parlament – in Brand schießen ließ, weil er keine Lust hatte, mit den gewählten Volksvertretern zu sprechen und Kompromisse zu schließen. Seither läuft alles wieder seinen geregelten Gang. Die Volksvertreter werden unter Putin bereits vor der Wahl handverlesen, und die Schulbücher über die Russische Geschichte hat der Präsident, formal gestützt auf die Forderungen der „Veteranen“, wieder von der „Beschmutzung“ Stalins befreit.

Lachno hat seinen Artikel über den „Konterrevolutionär“ Kapinos bewusst als Anklage gegen die dominierende Position in der Historiografie über die Stalinzeit verfasst. Die Erklärung des Stalinismus aus der Dumpfheit und Rückständigkeit der Bevölkerung, die sich dem „zivilisatorischen Bemühen“ der Bolschewiki entgegenstellte, ist nicht nur in Russland verbreitet. Die „Dumpfheit“ der Bevölkerung spiegelte sich in der Tat in dem Glauben an Volksfeinde. Die Inszenierungen des Systems, die in zentralen und lokalen Schauprozessen gipfelten, in denen von den Mängeln des Systems abgelenkt und generell eine Personalisierung der Schuldfrage vorgenommen wurde, verschafften der personalen Diktatur Stalins eine gewisse Stabilität und Legitimation. Das Volk tendierte in seiner Masse dazu, die ihm präsentierten Sündenböcke als die Schuldigen zu akzeptieren, so wie es in der politischen Kultur des „Zarenmythos“ angelegt war: egal, ob es sich um Spitzenpolitiker wie die Geheimdienstchefs Jagoda und Jeschow handelte, um lokale Leitungspersonen und Fabrikdirektoren, oder eben um Leute aus der eigenen Mitte, wie hier den Kolchosnik Kapinos. Doch trug deshalb das Volk die Schuld an den Verbrechen? Neben der Ansicht, das niedrige Kulturniveau der Bevölkerung selbst sei schuld am Terror gewesen, ist bis heute die Meinung weit verbreitet, die Suche nach Fehlern sei moralisch schädlich und untergrabe die Bedeutung der Leistungen Stalins.

Der Text ist auch ein Dokument über den Alltag unter Stalin. Im Vergleich mit dem Nationalsozialismus scheint der Terror unter Stalin allumfassender und unkalkulierbarer gewesen zu sein. Eine ähnlich generelle Atmosphäre des Misstrauens, die in jedem Volksgenossen zunächst einen potentiellen „Volksfeind“ erblickte und in der selbst führende Repräsentanten des Systems immer wieder unter erfundenen Anschuldigungen verhaftet und ermordet wurden, hat es in Deutschland nicht gegeben. Die Verhaftung war in Deutschland auch eher eine individuelle Abrechnung. Sie zielte nicht in jedem Fall auf den „Nachweis“ einer Verschwörung und hatte im Regelfall nicht die Isolation der Angehörigen zur Folge.

Der hier beschriebene Vorfall von Anfang 1938 ist zeitlich in die Phase des „Großen Terrors“ einzuordnen, in der praktisch jeder ein potentielles Opfer darstellte und generell nicht von Einzeltätern ausgegangen wurde, sondern in den Untersuchungsverfahren immer Verschwörungen zu konstruieren waren. So skurril zunächst einmal die Kopie von Stalins Geste durch den Helden der Geschichte, Feodosij Kapinos, erscheint, so typisch ist die Reaktion. Die Meldung des Vorfalls löste zwangsläufig die sofortige Verhaftung des Beschuldigten aus und brachte ein Untersuchungsverfahren in Gang, an dessen Ende nur die Präsentation einer Verschwörungsgeschichte stehen konnte. Die Rahmenschilderung macht deutlich, dass den Interessen der Staatsmacht in der Situation Anfang des Jahres 1938 die Aufdeckung eines „Volksfeindes“ in dieser Region sehr zupass kam, gab es doch offenbar Probleme mit der Erfüllung der Ablieferungsverpflichtungen von Agrarprodukten durch die lokalen Kolchose an den Staat. Ein willkommener Nebeneffekt dieser Verhaftung war somit, dass sie die übrigen Kolchosniki einschüchterte und disziplinierte. Das Ausmaß dieser grauenhaften Atmosphäre, in der man dem anderen nicht trauen konnte, wird dadurch unterstrichen, dass auch der Täter, der lokale Kolchosparteisekretär, um sein Leben fürchten musste, wenn nicht er, sondern ein anderer den Fall zur Anzeige brachte. Ein Volksfeind zu sein oder einen Volksfeind zu decken war in den Augen des Staates das Gleiche.

Die weitere Schilderung des Falles offenbart wiederum Typisches: nun begann der Terrorapparat in der Vergangenheit des Beschuldigten zu wühlen. Die zu präsentierende Vita eines Volksschädlings war ähnlich standardisiert wie früher die Heiligenviten. Dass Kapinos nicht beschuldigt wurde, der Sohn eines Kulaken zu sein, stellte sicherlich einen Schönheitsfehler dar. Doch auch so wurde man in seiner Vergangenheit fündig: So wurde Kapinos Weigerung im Jahre 1934, der Anordnung nachzukommen, die am Rotz erkrankten Pferde zu erschießen, nun als Vorwand genommen, um ihn einer Verschwörergruppe zuzuordnen und ihm zu unterstellen, als Gehilfe der Volksschädlinge die Seuche verbreitet zu haben.

Die These von Lachno, der von ihm geschilderte Fall sei ein Mosaikstein für das Verständnis der damaligen Zeit, ist wohlbegründet. Während Kapinos mit seinem „Zehnjahresspruch“, einem damals üblichen Strafmaß für zur Zwangsarbeit verurteilte „Konterrevolutionäre“, in dem berüchtigten Lagerkomplex von Kolyma verschwand, in dem das Regime Häftlinge zur Goldgewinnung einsetzte, begann die Leidenszeit für Kapinos Frau und Kinder. Dass die anderen Dorfbewohner mit ihnen den Kontakt abbrachen und sie isolierten, war ein typisches Schutzverhalten in der Stalinzeit. Da grundsätzlich angenommen wurde, dass es keine Einzeltäter, sondern nur Angehörige von Verschwörungsringen gab, konnte der Kontakt zu Angehörigen von Volksfeinden einen selbst in Gefahr bringen.

Auch die Schilderung des Denunzianten fällt in der Beschreibung echt aus. Was bewog den Kolchosparteisekretär, seinen ehemaligen Spielkameraden nun als Konterrevolutionär zu entlarven? Sicherlich, es gab auch Fälle, in denen die eigennützigen Motive auf der Hand liegen. Das war hier aber nicht der Fall. Handelte er aus seinem Verständnis von Pflichtgefühl? War die vom Regime zu diesem Zeitpunkt entfachte allgemeine Hysterie ausschlaggebend? Oder fürchtete er um das eigene Überleben im Fall einer Nichtanzeige? Der Täter wird als „guter Mensch“ geschildert, als einer, der sich um die Leute kümmerte, der den ersten Kindergarten organisierte, der sich freiwillig an die Front meldete und dort den Heldentod starb. Das unterstreicht die auch von Kapinos selbst bestätigte tragische Verstrickung der Personen unter diesem Regime.

Und schließlich die Rückkehr aus dem Lager, das beharrliche Schweigen über das Erlebte. Auch das ist typisch für die große Masse der Lagerheimkehrer, wie hätte sonst das Tabu einer öffentlichen Diskussion von der Rückkehr überlebender Häftlinge Mitte der 1950er Jahre bis 1988 Bestand haben können? Bei der Entlassung wurde allen eingeschärft, über das in den Lagern Erlebte nicht zu sprechen. Und die meisten hielten sich daran. Sie kehrten ähnlich wie Kapinos gebrochen und kraftlos zurück. Dass es in der Sowjetgesellschaft kaum Personen gab, die nach dem Durchlittenen fragten, erscheint mir in gewisser Hinsicht mindestens ebenso bedrückend wie die Verbrechen des Stalinregimes selbst.

Wenn in der Historiografie über den Stalinismus bis heute die Stalinsche Selbstbeschreibung dominiert, so hat dies auch etwas mit der Art der Funde in den Archiven zu tun. Dieses vermeintlich objektive Material spricht die Sprache der Verbrecher. Und die Historiker, die unkritisch in den Archiven nach der Wahrheit suchen, reproduzieren bis auf den heutigen Tag diese Selbstinterpretation. So begrüßenswert die heutigen Ansätze sind, nach Selbstzeugnissen zu suchen, so gefährlich ist es zu glauben, diese seien objektive Quellen für das Geschehene. Demgegenüber vermag der Artikel von Lachno die für die Beschäftigung mit der Stalinzeit angemessene Betroffenheit zu vermitteln.

 



[1] Essay zur Quelle Nr. 5.8, I. Lachno: Der grausame Preis. Lebensgeschichte meines Landsmanns Feodisij Kapinos (1988).

 


Literaturhinweise:
  • Baberowski, Jörg, Der Rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003, S. 135-208
  • Conquest, Robert, The Great Terror. A Reassessment, New York 1990
  • Getty, John Arch; Manning, Roberta T. (Hg.), Stalinist Terror. New Perspectives, Cambridge 1993
  • Merl, Stephan, Bilanz der Unterwerfung – die soziale und ökonomische Reorganisation des Dorfes, in: Hildermeier, Manfred (Hg.), Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung, München 1998, S. 119-145
  • Ders., Das System der Zwangsarbeit und die Opferzahl im Stalinismus, in: GWU 46 (1995), S. 277-305

Lachno, I.: Der grausame Preis. Lebensgeschichte meines Landsmanns Feodisij Kapinos (Pravda, 1988) [1]

Lange ließ mich die Lebensgeschichte meines Landsmanns Feodisij Kapinos nicht zur Ruhe kommen, aber trotzdem entschloss ich mich nicht, über ihn zu schreiben. Ein einfacher Bauer, arbeitsam und ungebildet – von seiner Sorte gibt es Millionen. Und auch die tragischen Schicksale wie das seinige lassen sich nicht zählen.

Aber dann las ich in der Zeitung „Vecernij Char’kov“ einmal den Artikel eines hiesigen Gelehrten und verstand, dass wir heute, angesichts der allgemeinen Reden über den historischen Prozess, das Schicksal der einfachen Leute keineswegs vergessen dürfen.

Besonders traf mich diese Beurteilung, die man häufig in ähnlichen Publikationen antrifft: „Man muss sagen, dass das niedrige Kulturniveau der Bevölkerung die Entwicklung des Personenkultes besonders begünstigte...“ Heißt das etwa, dass eben das Volk aufgrund seiner völligen Kulturlosigkeit am Entfachen des Personenkultes Stalins, an den negativen Erscheinungen jener Periode schuld ist? [...] Ist auch mein Landsmann Feodosij Kapinos, der einem grausamen Schicksal nicht entging, schuld? Durch was sind sie schuldig geworden?

In einer Minute der Freimütigkeit erzählte mir einst Feodosij (in unserem Ort nannten sie ihn Fedosej) sein trauriges Leben. Aber mein Wunsch, darüber zu schreiben, beunruhigte ihn, und Feodosij erhielt mein Versprechen, es nicht zu tun, solange er lebe. Heute ist die Zeit gekommen, die Pflicht gegenüber meinem Landsmann zu erfüllen. Das umso mehr, als seine Geschichte einen weiteren Mosaikstein zum Verständnis jener Zeit liefert.

Unser Dörflein, zu dem nicht einmal 40 Höfe gehörten, verlor sich in der endlosen Aktjubinsker Steppe. Hier wurde 1930 der Kolchos „Weg zum Kommunismus“ organisiert, der zu den schlechtesten des Bezirks gehörte. An einem unguten Morgen (das müsste man in voraus wissen!) des Winters 1938 wanderte der einfache Kolchosnik Kapinos zum Büro des Kolchos. Dort saßen der Leitungsvorsitzende, der Sekretär der Parteiorganisation und noch einige Leute. Über dem Kopf des Vorsitzenden hing ein Foto von Stalin, das ihn mit Schirmmütze und hinter die Borte des Mantels gelegter Hand zeigte.

Und dann geschah das: Feodosij stellte sich ohne jeglichen Hintergedanken mitten in das Arbeitszimmer und versuchte, indem er die Hand zwischen die Knöpfe seiner zerissenen Strickjacke steckte, Handbewegung und Pose des „Führers“ nachzuahmen. Eine Minute herrschte betretenes Schweigen, dann schlüpfte irgendjemand ängstlich schnell zum Ausgang, andere begannen, von ihren alltäglichen Sorgen zu erzählen. Es schien, als ob alles vergessen sei. Aber schon eine Stunde später sattelte der Kolchosparteisekretär sein Pferd und ritt in die 40 Kilometer entfernte Bezirksstadt. Noch in der gleichen Nacht holten sie Feodosij ab.

Unser rückständiger Kolchos wurde damals mächtig bearbeitet. Im Radio, in den Zeitungen, von den Tribünen verschiedener Versammlungen und auf den Plena des Bezirksparteikomitees war immer wieder zu hören: „Der Kolchos ‚Der Weg zum Kommunismus‘ sabotiert die Getreideaufbringung“, „Der Kolchos ‚Der Weg zum Kommunismus‘ bringt den Bezirk in Verruf.“ Und da war noch der Kolchos „Stalin“, den sie auch wegen des Rückstands beschimpften, und der umsonst den Namen des „weisen Führers“ trug. Und niemanden berührte das unangenehm. Aber diese im Wesen harmlose Geste des ungebildeten Kolchosniks bewerteten sie augenscheinlich als Unterminierung der Grundfesten, als Beleidigung des Heiligtums. Möglicherweise sahen sie darin auch etwas noch Ungeheuerliches, weil sie für die Geste einen Zehnjahresspruch herbeizerrten.

Nach der Verhaftung von Feodosij blieb seine Frau mit drei kleinen Kindern im Dorf zurück. Wie viele Unannehmlichkeiten erlebten sie in diesen endlos langen zehn Jahren. Manche schreckten vor den Kindern des „Volksfeindes“ zurück, das waren zum Glück aber nur einzelne. Mit Stolz denke ich an meine Landsmänner, daran, wie groß die sittliche Reinheit und Kraft des Volkes waren, weil die Leute auch in der bedrückenden Atmosphäre des Misstrauens und der Angst sich nicht fürchteten, die Waisen zu beherbergen. Einmal klopfte die kleine Tochter von Feodosij schüchtern an unsere Tür. Die Großmutter hörte auf zu kochen und schnitt ein Stück Brot ab: „Iss, liebes Kind.“ Und dabei hatte sie selbst 7 Münder zu stopfen. Wichtiger noch, dass sie die Großmutter aus Nachsicht mit den Feinden auch hinter dem Dorfgenossen herschicken konnten.

Wer war Feodosij Kapinos? Ein Radaubruder und Trödler? Oder möglicherweise sogar wirklich ein Klassenfeind, dem es bis zu dieser Zeit gelungen war, sich zu verbergen? Natürlich nicht. Er war ein gewöhnlicher Bauer. Welche Gefahr konnte er für das sozialistische Vaterland darstellen? 1930 hatte er persönlich sein einziges Pferd und die Kuh mit Kalb in den allgemeinen Stall eingestellt, war freiwillig dem Kolchos beigetreten. Er war ohne Vater aufgewachsen, von Kind auf gewöhnt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu verdienen, er liebte das Land. Und im Kolchos arbeitete er ohne Atempause.

Aber dann, im Jahr 1938, klagten sie ihn gleichzeitig wegen kulakischen Gebarens und sogar wegen Schädlingsarbeit an. Darüber muss gesondert berichtet werden. Es ging darum, dass sie 1934 in unserem Ort und im ganzen Okrug anfingen, die Pferdeherden zusammenzutreiben, weil sie sich angeblich mit Rotz infiziert hätten. Zur Untersuchung reiste eine Veterinärbrigade an, die die Pferde auswählte, die getötet werden sollten. Gewöhnlich wurden sie von einem speziellen Trupp der Miliz erschossen, und die Männer des Dorfes mussten nur die gewaltigen Gruben ausheben. Aber einmal wollten sie unsere Bauern, darunter meinen Vater und Feodosij, dazu zwingen, die Tiere zu töten. Die Bauern weigerten sich entschieden. Damals kamen sie glücklich davon. Und erst 1938 erinnerten sie sich an all das: sie klagten Kapinos auch als Gehilfen der Schädlinge an, die die Seuche verbreitet hätten.

Auch mein Vater besaß eine Stute mit Fohlen. Wie die anderen Dorfgenossen übergab er sie an den Kolchos. Und vier Jahre später wollten sie ihn zwingen, die Tiere zu erschießen. Kann man einen echten Bauern härter kränken? Das Pferd war für ihn in jener Zeit doch ein Ernährer, und für den Besitzer war es eine Sache des Anstands, es gut zu behandeln.

Feodosij war gerade 30 Jahre alt, als sie ihn nach Kolyma verbrachten, um Gold zu waschen. Er kehrte als gebrochener, kraftloser Greis zurück. Seine Frau und die Kinder, die ohne Vater aufgewachsen waren, erkannten ihn nicht. Und er erkannte sie nicht. Und lange, unerträglich lange schwieg er finster, verbarg das Durchlebte in seinem Inneren.

Nein, ich kann keineswegs jenen zustimmen, die behaupten, die „Suche nach Fehlern sei in moralischer Hinsicht schädlich und führe zur Herabwürdigung unserer Errungenschaften.“ Ziemt es sich etwa für den sowjetischen Bürger und unsere Gesellschaft, tausende Werktätige, die schuldlos Repressionen ausgesetzt waren, unsere Mitbürger, dem Vergessen zu überlassen? Nicht darin besteht unsere Würde, sondern darin, dass die Partei den Mut aufbringt, dem Volk die Wahrheit mitzuteilen. Die Wahrheit darüber, worüber wir berechtigt stolz sein können, und die bittere Wahrheit über die Tragödie des Volkes. Jene bittere Wahrheit haben wir alle nötig, für unsere Selbstbefreiung, zur Herstellung der Gerechtigkeit. Wenn ich an die Lebensgeschichte von Feodosij Kapinos denke, kann ich auch den Mann nicht vergessen, der an jenem unguten Tag loseilte, um, wie es sich gehörte, über die unvorsichtige Geste zu berichten. Welche Gedanken gingen dem Kolchosparteisekretär durch den Kopf, als er 40 Kilometer durch den Frost ins Bezirkszentrum ritt? Niemand kann das wissen. War es das Gefühl der Pflicht, die Verpflichtung eines jeden Kommunisten, den inneren Konterrevolutionär zu entlarven und zu beseitigen? Aber wie konnte er einen Spielgefährten aus seiner Kindheit als Feind verdächtigen, einen ehrenhaften, wenn auch etwas ungebildeten Werktätigen...?

Ich glaube nicht, dass er zu den Verleumdern gehörte, die sich am Kummer ihrer Kollegen
oder Nachbarn ergötzten. Vielleicht fürchtete der Parteisekretär um sein eigenes Leben: wenn nicht er, sondern ein anderer die Meldung machte, würde ihn selbst das Unglück ereilen. Eben darin besteht wahrscheinlich das Wesentliche. Beinahe an allen Straßenecken ertönten damals Aufrufe, Klassenfeinde zu entlarven. In der Situation allgemeiner Verdächtigungen und öffentlicher Aufrufe war nicht jeder fähig zu widerstehen. Einige hielten es für ihre patriotische Pflicht zu entlarven, auszurotten. Und man entlarvte, häufig ohne zu wissen, wer schuldig und wer unschuldig war.

Jeder meiner Dorfgenossen, den ich befragen konnte, schilderte den Parteisekretär als einen guten Menschen. Er verstand es, sich um die Leute zu kümmern, organisierte den ersten Kindergarten im Bezirk. Der Kindergarten existierte bis Kriegsbeginn, und wir, obwohl schon Schüler, gingen weiter dorthin, um eine Schüssel Brei zu essen. So hatte es der Parteisekretär angeordnet. Als einer der ersten aus unserem Ort ging er an die Front und starb den Heldentod. Deshalb möchte ich auch hier nicht seinen Namen nennen – nicht die Hand erheben, um Sand in seine Spuren zu werfen...

Vielleicht veranlasste mich das auch damals, Feodosij zu fragen, wie er sich an der Stelle des Parteisekretärs an jenem verhängnisvollen Morgen verhalten hätte. Kapinos schwieg lange und schaute auf den Boden. Schließlich richtete er sich auf und antwortete aufrichtig: „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hätte ich genau das Gleiche getan. Er hatte keine andere Wahl.“

Ich glaube, er hatte die Kränkung nicht vergessen, aber in der Tiefe seiner Seele verstand er: die Zeit war tragisch nicht nur für jene, die wie er selbst grausam und ungerechtfertigt bestraft wurden. Es war eine tragische Zeit für das ganze Volk.

Nein, wir dürfen nicht, wir können nicht jene bitteren Seiten vergessen, wir haben kein Recht dazu. Damit wir niemals wieder unsere menschliche Würde verletzen.



[1]  I. Lachno (Pravdakorrespondent aus Char’kov), Der grausame Preis, in: Pravda, 23.12.1988. Übersetzung aus dem Russischen von Stephan Merl.

 


Russisches Original der Quelle:
 
Zugehöriger Essay:
Stephan Merl: Glasnost' und die gesellschaftliche Aufarbeitung des stalinistischen Terrors
Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.

    Lachno, I.: Жестокой ценой Правда, 23 декабря 1988


Zugehöriger Essay:
Stephan Merl: Glasnost' und die gesellschaftliche Ausarbeitung des stalinistischen Terrors
Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
Für das Themenportal verfasst von

Stephan Merl

( 2007 )
Zitation
Stephan Merl, Glasnost' und die gesellschaftliche Aufarbeitung des stalinistischen Terrors, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1342>.
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