Lachno, I.: Der grausame Preis. Lebensgeschichte meines Landsmanns Feodisij Kapinos (Pravda, 1988) [1]
Lange ließ mich die Lebensgeschichte meines Landsmanns Feodisij Kapinos nicht zur Ruhe kommen, aber trotzdem entschloss ich mich nicht, über ihn zu schreiben. Ein einfacher Bauer, arbeitsam und ungebildet – von seiner Sorte gibt es Millionen. Und auch die tragischen Schicksale wie das seinige lassen sich nicht zählen.
Aber dann las ich in der Zeitung „Vecernij Char’kov“ einmal den Artikel eines hiesigen Gelehrten und verstand, dass wir heute, angesichts der allgemeinen Reden über den historischen Prozess, das Schicksal der einfachen Leute keineswegs vergessen dürfen.
Besonders traf mich diese Beurteilung, die man häufig in ähnlichen Publikationen antrifft: „Man muss sagen, dass das niedrige Kulturniveau der Bevölkerung die Entwicklung des Personenkultes besonders begünstigte...“ Heißt das etwa, dass eben das Volk aufgrund seiner völligen Kulturlosigkeit am Entfachen des Personenkultes Stalins, an den negativen Erscheinungen jener Periode schuld ist? [...] Ist auch mein Landsmann Feodosij Kapinos, der einem grausamen Schicksal nicht entging, schuld? Durch was sind sie schuldig geworden?
In einer Minute der Freimütigkeit erzählte mir einst Feodosij (in unserem Ort nannten sie ihn Fedosej) sein trauriges Leben. Aber mein Wunsch, darüber zu schreiben, beunruhigte ihn, und Feodosij erhielt mein Versprechen, es nicht zu tun, solange er lebe. Heute ist die Zeit gekommen, die Pflicht gegenüber meinem Landsmann zu erfüllen. Das umso mehr, als seine Geschichte einen weiteren Mosaikstein zum Verständnis jener Zeit liefert.
Unser Dörflein, zu dem nicht einmal 40 Höfe gehörten, verlor sich in der endlosen Aktjubinsker Steppe. Hier wurde 1930 der Kolchos „Weg zum Kommunismus“ organisiert, der zu den schlechtesten des Bezirks gehörte. An einem unguten Morgen (das müsste man in voraus wissen!) des Winters 1938 wanderte der einfache Kolchosnik Kapinos zum Büro des Kolchos. Dort saßen der Leitungsvorsitzende, der Sekretär der Parteiorganisation und noch einige Leute. Über dem Kopf des Vorsitzenden hing ein Foto von Stalin, das ihn mit Schirmmütze und hinter die Borte des Mantels gelegter Hand zeigte.
Und dann geschah das: Feodosij stellte sich ohne jeglichen Hintergedanken mitten in das Arbeitszimmer und versuchte, indem er die Hand zwischen die Knöpfe seiner zerissenen Strickjacke steckte, Handbewegung und Pose des „Führers“ nachzuahmen. Eine Minute herrschte betretenes Schweigen, dann schlüpfte irgendjemand ängstlich schnell zum Ausgang, andere begannen, von ihren alltäglichen Sorgen zu erzählen. Es schien, als ob alles vergessen sei. Aber schon eine Stunde später sattelte der Kolchosparteisekretär sein Pferd und ritt in die 40 Kilometer entfernte Bezirksstadt. Noch in der gleichen Nacht holten sie Feodosij ab.
Unser rückständiger Kolchos wurde damals mächtig bearbeitet. Im Radio, in den Zeitungen, von den Tribünen verschiedener Versammlungen und auf den Plena des Bezirksparteikomitees war immer wieder zu hören: „Der Kolchos ‚Der Weg zum Kommunismus‘ sabotiert die Getreideaufbringung“, „Der Kolchos ‚Der Weg zum Kommunismus‘ bringt den Bezirk in Verruf.“ Und da war noch der Kolchos „Stalin“, den sie auch wegen des Rückstands beschimpften, und der umsonst den Namen des „weisen Führers“ trug. Und niemanden berührte das unangenehm. Aber diese im Wesen harmlose Geste des ungebildeten Kolchosniks bewerteten sie augenscheinlich als Unterminierung der Grundfesten, als Beleidigung des Heiligtums. Möglicherweise sahen sie darin auch etwas noch Ungeheuerliches, weil sie für die Geste einen Zehnjahresspruch herbeizerrten.
Nach der Verhaftung von Feodosij blieb seine Frau mit drei kleinen Kindern im Dorf zurück. Wie viele Unannehmlichkeiten erlebten sie in diesen endlos langen zehn Jahren. Manche schreckten vor den Kindern des „Volksfeindes“ zurück, das waren zum Glück aber nur einzelne. Mit Stolz denke ich an meine Landsmänner, daran, wie groß die sittliche Reinheit und Kraft des Volkes waren, weil die Leute auch in der bedrückenden Atmosphäre des Misstrauens und der Angst sich nicht fürchteten, die Waisen zu beherbergen. Einmal klopfte die kleine Tochter von Feodosij schüchtern an unsere Tür. Die Großmutter hörte auf zu kochen und schnitt ein Stück Brot ab: „Iss, liebes Kind.“ Und dabei hatte sie selbst 7 Münder zu stopfen. Wichtiger noch, dass sie die Großmutter aus Nachsicht mit den Feinden auch hinter dem Dorfgenossen herschicken konnten.
Wer war Feodosij Kapinos? Ein Radaubruder und Trödler? Oder möglicherweise sogar wirklich ein Klassenfeind, dem es bis zu dieser Zeit gelungen war, sich zu verbergen? Natürlich nicht. Er war ein gewöhnlicher Bauer. Welche Gefahr konnte er für das sozialistische Vaterland darstellen? 1930 hatte er persönlich sein einziges Pferd und die Kuh mit Kalb in den allgemeinen Stall eingestellt, war freiwillig dem Kolchos beigetreten. Er war ohne Vater aufgewachsen, von Kind auf gewöhnt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu verdienen, er liebte das Land. Und im Kolchos arbeitete er ohne Atempause.
Aber dann, im Jahr 1938, klagten sie ihn gleichzeitig wegen kulakischen Gebarens und sogar wegen Schädlingsarbeit an. Darüber muss gesondert berichtet werden. Es ging darum, dass sie 1934 in unserem Ort und im ganzen Okrug anfingen, die Pferdeherden zusammenzutreiben, weil sie sich angeblich mit Rotz infiziert hätten. Zur Untersuchung reiste eine Veterinärbrigade an, die die Pferde auswählte, die getötet werden sollten. Gewöhnlich wurden sie von einem speziellen Trupp der Miliz erschossen, und die Männer des Dorfes mussten nur die gewaltigen Gruben ausheben. Aber einmal wollten sie unsere Bauern, darunter meinen Vater und Feodosij, dazu zwingen, die Tiere zu töten. Die Bauern weigerten sich entschieden. Damals kamen sie glücklich davon. Und erst 1938 erinnerten sie sich an all das: sie klagten Kapinos auch als Gehilfen der Schädlinge an, die die Seuche verbreitet hätten.
Auch mein Vater besaß eine Stute mit Fohlen. Wie die anderen Dorfgenossen übergab er sie an den Kolchos. Und vier Jahre später wollten sie ihn zwingen, die Tiere zu erschießen. Kann man einen echten Bauern härter kränken? Das Pferd war für ihn in jener Zeit doch ein Ernährer, und für den Besitzer war es eine Sache des Anstands, es gut zu behandeln.
Feodosij war gerade 30 Jahre alt, als sie ihn nach Kolyma verbrachten, um Gold zu waschen. Er kehrte als gebrochener, kraftloser Greis zurück. Seine Frau und die Kinder, die ohne Vater aufgewachsen waren, erkannten ihn nicht. Und er erkannte sie nicht. Und lange, unerträglich lange schwieg er finster, verbarg das Durchlebte in seinem Inneren.
Nein, ich kann keineswegs jenen zustimmen, die behaupten, die „Suche nach Fehlern sei in moralischer Hinsicht schädlich und führe zur Herabwürdigung unserer Errungenschaften.“ Ziemt es sich etwa für den sowjetischen Bürger und unsere Gesellschaft, tausende Werktätige, die schuldlos Repressionen ausgesetzt waren, unsere Mitbürger, dem Vergessen zu überlassen? Nicht darin besteht unsere Würde, sondern darin, dass die Partei den Mut aufbringt, dem Volk die Wahrheit mitzuteilen. Die Wahrheit darüber, worüber wir berechtigt stolz sein können, und die bittere Wahrheit über die Tragödie des Volkes. Jene bittere Wahrheit haben wir alle nötig, für unsere Selbstbefreiung, zur Herstellung der Gerechtigkeit. Wenn ich an die Lebensgeschichte von Feodosij Kapinos denke, kann ich auch den Mann nicht vergessen, der an jenem unguten Tag loseilte, um, wie es sich gehörte, über die unvorsichtige Geste zu berichten. Welche Gedanken gingen dem Kolchosparteisekretär durch den Kopf, als er 40 Kilometer durch den Frost ins Bezirkszentrum ritt? Niemand kann das wissen. War es das Gefühl der Pflicht, die Verpflichtung eines jeden Kommunisten, den inneren Konterrevolutionär zu entlarven und zu beseitigen? Aber wie konnte er einen Spielgefährten aus seiner Kindheit als Feind verdächtigen, einen ehrenhaften, wenn auch etwas ungebildeten Werktätigen...?
Ich glaube nicht, dass er zu den Verleumdern gehörte, die sich am Kummer ihrer Kollegen
oder Nachbarn ergötzten. Vielleicht fürchtete der Parteisekretär um sein eigenes Leben: wenn nicht er, sondern ein anderer die Meldung machte, würde ihn selbst das Unglück ereilen. Eben darin besteht wahrscheinlich das Wesentliche. Beinahe an allen Straßenecken ertönten damals Aufrufe, Klassenfeinde zu entlarven. In der Situation allgemeiner Verdächtigungen und öffentlicher Aufrufe war nicht jeder fähig zu widerstehen. Einige hielten es für ihre patriotische Pflicht zu entlarven, auszurotten. Und man entlarvte, häufig ohne zu wissen, wer schuldig und wer unschuldig war.
Jeder meiner Dorfgenossen, den ich befragen konnte, schilderte den Parteisekretär als einen guten Menschen. Er verstand es, sich um die Leute zu kümmern, organisierte den ersten Kindergarten im Bezirk. Der Kindergarten existierte bis Kriegsbeginn, und wir, obwohl schon Schüler, gingen weiter dorthin, um eine Schüssel Brei zu essen. So hatte es der Parteisekretär angeordnet. Als einer der ersten aus unserem Ort ging er an die Front und starb den Heldentod. Deshalb möchte ich auch hier nicht seinen Namen nennen – nicht die Hand erheben, um Sand in seine Spuren zu werfen...
Vielleicht veranlasste mich das auch damals, Feodosij zu fragen, wie er sich an der Stelle des Parteisekretärs an jenem verhängnisvollen Morgen verhalten hätte. Kapinos schwieg lange und schaute auf den Boden. Schließlich richtete er sich auf und antwortete aufrichtig: „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hätte ich genau das Gleiche getan. Er hatte keine andere Wahl.“
Ich glaube, er hatte die Kränkung nicht vergessen, aber in der Tiefe seiner Seele verstand er: die Zeit war tragisch nicht nur für jene, die wie er selbst grausam und ungerechtfertigt bestraft wurden. Es war eine tragische Zeit für das ganze Volk.
Nein, wir dürfen nicht, wir können nicht jene bitteren Seiten vergessen, wir haben kein Recht dazu. Damit wir niemals wieder unsere menschliche Würde verletzen.