Kaiser Napoleon I. im Berliner Stadtschloss.

Schon wenige Tage nach dem Sieg bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 zogen alle französischen Armeekorps weiter, um sich von drei Seiten der preußischen Hauptstadt zu nähern. Napoleon selbst hielt sich ab dem 24. Oktober zweieinhalb Tage in Potsdam auf, ritt am 26. Oktober nachmittags nach Spandau und Charlottenburg und vollzog, umgeben von seinen Generalen, seinen feierlichen Einzug in Berlin am späten Nachmittag des 27. Oktobers.[...]

Kaiser Napoleon I. im Berliner Stadtschloss[1]

Von Ilja Mieck

Schon wenige Tage nach dem Sieg bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 zogen alle französischen Armeekorps weiter, um sich von drei Seiten der preußischen Hauptstadt zu nähern. Napoleon selbst hielt sich ab dem 24. Oktober zweieinhalb Tage in Potsdam auf, ritt am 26. Oktober nachmittags nach Spandau und Charlottenburg und vollzog, umgeben von seinen Generalen, seinen feierlichen Einzug in Berlin am späten Nachmittag des 27. Oktobers. Ob er sich östlich des Brandenburger Tores die Stadtschlüssel überreichen ließ, ist umstritten.

Ein preußischer Kammerdiener namens Tamanti berichtet in seinen hier erstmals veröffentlichten Erinnerungen über die etwa vier Wochen im Herbst 1806, in denen Napoleon, der Sieger von Jena und Auerstedt, im Berliner Stadtschloss Quartier nahm. Wohl auch wegen seiner guten französischen Sprachkenntnisse war Tamanti von Friedrich Wilhelm III. Napoleon zur persönlichen Bedienung zur Verfügung gestellt worden. Den Namen „Tamanti“ erfährt man übrigens nur aus der sehr zuverlässigen Darstellung von Magnus Friedrich von Bassewitz, der – im Gegensatz zu Tamanti – auch mitteilt, dass der Kammerdiener mit einigen Lakaien und unter Leitung eines Kammerherrn und eines Hofstaatssekretärs nach Potsdam und Berlin geschickt worden war.[2]

Um auf die Glaubwürdigkeit der „Erinnerungen“ und die Motivation Tamantis hinzuweisen, empfiehlt es sich, eine kurze Passage aus seiner „Vorrede“ wiederzugeben: „In einer Zeit, wo so viele Schriften über Napoleon herauskommen, in denen sich oft das Wahre vom Falschen schwer unterscheiden lässt, machte sich der Verfasser der folgenden Notizen umso weniger Bedenken mit denselben hervorzutreten, da er durchgehends als Augenzeuge schreibt. Er erhielt nämlich im Oktober 1806, als der Kaiser der Franzosen in Potsdam erwartet wurde, den Befehl, sich auf dem Königlichen Schlosse daselbst einzufinden, um bei demselben als Kammerdiener zu functioniren. Dieses Amt, welches ihm vom 24. Oktober bis 24. November ununterbrochen verblieb und ihn in die nächste Umgebung Napoleons brachte, machte es ihm möglich, die folgenden Bemerkungen zu sammeln, welche er hiermit den geehrten Lesern, so wie er sie schon damals niederschrieb, als einen kleinen Beitrag zur Kenntnis jener verhängnisvollen ewig denk- und merkwürdigen Zeit übergiebt.“ Dem letzten Satz ist zu entnehmen, dass die „Erinnerungen“ schon bald nach dem Napoleon-Aufenthalt niedergeschrieben wurden; auch deshalb können sie als recht zuverlässig gelten.[3]

Den als rücksichtslosen Ausbeuter der besiegten Länder bekannten Franzosenkaiser zeigte Tamanti in ganz anderem Licht: er erwies sich als gebildeter und kultivierter Fürst, der selbst im Kriege und in der preußischen Hauptstadt die Internationalität der europäischen Eliten respektierte. Mit einfachen aber treffenden Formulierungen skizziert der Quellentext einen Napoleon, der seinen Gesprächspartnern ganz ungewohnte Innenansichten eines militärisch und politisch schwer angeschlagenen Staates präsentiert, die anderen zeitgenössischen Beobachtern aus Berlin (unter anderem Gubitz, Rellstab, Klöden, Nostitz, Hedwig von Olfers) und aus ganz Deutschland (Varnhagen von Ense, Goethe, Henrik Steffens, de la Motte-Fouqué, Achim von Arnim, Bettina von Arnim, von Eichendorff, Johanna Schopenhauer, Brentano, Elisabeth von Staegemann sowie zahlreiche weitere) ziemlich fremd waren. Zugleich offenbarte Napoleon Innenansichten seiner Persönlichkeit, die man im Allgemeinen bei einem Siegertypen nicht vermutet. In den Aufzeichnungen kommt die europäische Perspektive in ganz bezeichnender Weise zum Tragen.

Die „Erinnerungen“ Tamantis berichten kaum über die „große Politik“, vielmehr über Personen, Ereignisse und Episoden wie den Einzug Napoleons in Berlin, das Treffen Napoleons mit Feldmarschall von Möllendorf, die Konzerte im Schloss, die Szene, in der die Fürstin von Hatzfeld Napoleon um Gnade für ihren Mann anfleht, und die Aufwartung der Kurprinzessin von Hessen-Kassel bei Napoleon. Da die „Erinnerungen“ meist für sich selbst sprechen, bedarf es im Folgenden bloß einiger Erläuterungen zu Namen, Personen und Begriffen, die vom „Augenzeugen“ Tamanti wie selbstverständlich genannt werden, im Abstand von fast zwei Jahrhunderten aber eine Erklärung verlangen.

Über die preußische Militärelite wusste Napoleon gut Bescheid, so auch über den Feldmarschall von Möllendorf, dem er laut Tamanti „sehr freundschaftlich die Hand reichte“ und mit dem er sich zuerst allein, „dann zusammen mit verschiedenen Prinzen“ unterhielt. Wichard Joachim Heinrich von Möllendorf (1724-1816) hatte sich in den Schlesischen Kriegen ausgezeichnet, wurde 1793 zum Feldmarschall befördert und geriet nach Auerstedt in (kurze) Gefangenschaft. Wohl nach einem weiteren Schloss-Besuch von Möllendorfs bewilligte Napoleon ihm eine jährlich zu zahlende „Gratification“, für die sich von Möllendorf am 19. Dezember 1806 bedankte.[4]

Das Konzert in der Spiegelkammer, dem der Kaiser nebst Prinzen und Generalen beiwohnte, wurde vom Kapellmeister Friedrich Heinrich Himmel (1765-1814) geleitet. Der Komponist und Pianist Himmel hatte mit Unterstützung Friedrich Wilhelms II. zwei Jahre in Italien verbracht. 1797 ersetzte er den in Ungnade gefallenen, von 1787 bis 1794 als königlicher Kapellmeister tätigen Johann Friedrich Reichardt.[5]Sein musikalisches Œuvre umfasste über achtzig Titel. Reichardt durfte zwar 1797 nach Berlin zurückkehren, doch blieb das Amt des Hofkapellmeisters gedrittelt und wurde von
Righini, Himmel und Reichardt ausgeübt. 1806 ließ Napoleon Reichardts Landgut Giebichenstein bei Halle verwüsten; der Fahndung entzog sich der von Napoleon gesuchte „professeur de musique“ durch die Flucht nach Ostpreußen. Offenbar profitierte Himmel von seiner Abwesenheit. Da das Orchester der Königlichen Oper „mit Aushilfen“ um 1788/90 über hundert Musiker umfassen konnte, wird vor allem die Identifikation von Solisten wie Bricci und Tambolini schwer fallen. Bekannter war dagegen die 1786 geborene Maria Giuseppa Marchetti-Fantozzi, die schon 1794 (erstes Dirigat Righinis) als konkurrenzlose Primadonna gefeiert wurde. Nach der Tamanti-Auskunft muss sie etwa 1792 nach Berlin gekommen sein.

Die Hatzfeld-Affäre wurde zum politisch-diplomatischen Dauerbrenner, als Napoleon kompromittierende Briefe des Fürsten entdeckte, der ihm wenig später als „Zivil-Gouverneur“ von Berlin in Potsdam begegnete. Später ließ ihn Napoleon verhaften. Tamanti berichtet über das theatralische Treffen der tränenüberströmten Fürstin, der Tochter des Ministers Schulenburg-Kehnert, mit dem kühl bleibenden Kaiser, der den Brief schließlich großherzig ins Kaminfeuer warf.[6]

Die Kurprinzessin von Hessen-Kassel, deren Aufwartung beim Kaiser von Tamanti geschildert wird, war eine Tochter des (meist) in preußischem Militärdienst stehenden Landgrafen/Kurfürsten von Hessen-Kassel[7], der sein weitgehend an Napoleons Bruder Jérôme gefallenes Territorium erst 1813/15 zurückbekam. Vielleicht handelt es sich um Auguste, eine Tochter des Preußenkönigs, die 1797 den hessischen Thronfolger Wilhelm (II.) geheiratet hatte. Dass Auguste den Kaiser um Gnade für ihren verstoßenen Schwiegervater (und seinen Erben!) bitten wollte, erscheint zumindest plausibel. Da Wilhelm I. von einem Königstitel träumte („König der Katten“) und sich mit dem Prädikat „Königliche Hoheit“ schmückte, gestand Tamanti diese Anrede (einige Zeilen weiter) vielleicht auch der Tochter zu; jedenfalls war dies eine Vorwegnahme der Beschlüsse von Wien, die zu den „Souveränitäts- und Gebietsrechten“ auch den Titel „Königliche Hoheit“ zählten.

In den „Erinnerungen“ ist von der „großen Politik“ kaum die Rede, obwohl der französische Kaiser alles daran setzte, Preußen und seine Hauptstadt finanziell und materiell auszubeuten. Zu der astronomisch hohen Kontribution kamen die Lasten für die Einquartierungen, für die Armeeversorgung, für die Bürokratie in Militär- und Zivilverwaltung, für die den Einwohnern auferlegten Zwangsanleihen und viele andere Kosten und Beschwernisse, ganz zu schweigen vom (organisierten) Kunstraub, dem nicht zuletzt die Quadriga auf dem Brandenburger Tor zum Opfer fiel. Niemand scheint diese Dinge angesprochen zu haben. Napoleon gab sich als umgänglicher und kultivierter Zeitgenosse. Keiner konnte glauben, dass der Frieden erst nach über siebeneinhalb blutigen Monaten geschlossen werden würde.

 


[1] Essay zur Quelle Nr. 6.3, Erinnerungen des preußischen Kammerdieners Tamanti an den Aufenthalt von Kaiser Napoleon in Potsdam und Berlin im Jahre 1806.

[2] Bassewitz, Magnus Friedrich von, Die Kurmark Brandenburg im Zusammenhang mit den Schicksalen des Gesamtstaats Preußen während der Zeit vom 22. Oktober 1806 bis zum Ende des Jahres 1808, 2 Bde., Leipzig 1851/52, hier Bd. 1. Verfasst wurde das anonym erschienene Werk „Von einem ehemaligen höheren Staatsbeamten“, der von 1824 bis 1840 Oberpräsident der Provinz Brandenburg war. Der zweite Halbband des Buches sowie die beiden anderen Bände zur Kurmark Brandenburg, über die Zeit 1806 bzw. 1809/1810 haben mit dem hier behandelten Thema nichts zu tun.

[3] Der Schlussteil der „Erinnerungen“ ist allerdings ziemlich dürftig. Für die Tatsache, dass die Aufzeichnungen seit dem 13. November 1806 recht lückenhaft sind, fehlt jede Erklärung.

[4] Vgl. den Faksimile-Abdruck nach einer von Fernand Beaucour gefundenen Archivalie in Mieck, Ilja, Napoléon à Berlin, in: Etudes napoléoniennes 29 (1993), S. 553-576, bes. S. 570.

[5] Fischer-Dieskau, Dietrich, „Weil nicht alle Blütenträume reiften“. Johann Friedrich Reichardt. Hofkapellmeister dreier Preußenkönige, Stuttgart 1992.

[6] Weitere Details nennt von Bassewitz, der das Treffen auf den 31. Oktober datiert. Von Bassewitz (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 89-92.

[7] 1785: Wilhelm IX.; 1803: Wilhelm I., gest. 1821.

 


Literaturhinweise:

  • Clauswitz, Paul, Die Städteordnung von 1808 und die Stadt Berlin. Festschrift zur hundertjährigen Gedenkfeier der Einführung der Städteordnung, Berlin 1908
  • Köhler, Ruth; Richter, Wolfgang (Hg.), Berliner Leben 1806 bis 1847. Erinnerungen und Berichte, Berlin (Ost) 1954
  • Mieck, Ilja, Von der Reformzeit zur Revolution (1806-1847), in: Ribbe, Wolfgang (Hg.), Geschichte Berlins, Bd. 1: Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung, 3. erweiterte und aktualisierte Aufl., München 2002, S. 405-602
  • Ders., Napoléon à Berlin, in: Etudes napoléoniennes 29 (1993), S. 553-576
  • Ders., Berlins Aufstieg zum ersten preußischen Finanzplatz bis zur Industrialisierung, in: Pohl, Hans (Hg.), Geschichte des Finanzplatzes Berlin, Frankfurt am Main 2002, S. 1-52
  • Ders., Napoleon in Potsdam, in: Francia 31/2 (2004), S. 121-146

Erinnerungen des preußischen Kammerdieners Tamanti an den Aufenthalt von Kaiser Napoleon in Potsdam und Berlin (1806) [1]

Am 27. Oktober gegen 4.00 Uhr nachmittags ritt der Kaiser von Charlottenburg ab und begab sich nebst seinen Generalen nach Berlin. Die Stadt war diesen Abend erleuchtet. Der Kaiser ritt wohl eine Stunde lang in derselben umher und begab sich sodann auf das königliche Schloß. Er bewohnte die Seite nach dem Lustgarten zu, und zwar die Kammern Friedrich Wilhelms II. In der Spiegelkammer in der Nähe der Wohnung des Kaisers befand sich ein diensttuender General und im Pfeilersaal verschiedene Officirs d'ordonance und Adjudanten, die zur kaiserlichen Ehrenwache gehörten. Die Garden des Kaisers zogen im Garde-du-corps-Saal auf und besetzten ihre Posten. [...]

Eines Morgens ließ der Kaiser den Feldmarschall von Möllendorf zu sich rufen. Als er erschien, meldete ich dem Kaiser seine Ankunft, der ihm sehr freundschaftlich die Hand reichte, ihn in sein Zimmer aufnahm und ihm sagte: „Ich freue mich sehr, einen solchen braven Feldmarschall kennenzulernen.“ Worauf er sich mit demselben eine gute Stunde lang unterhielt. Einige Tage darauf zog er ihn auch zur Mittagstafel, bei welcher verschiedene Prinzen mit speisten, und unterhielt sich während der Tafel fast stets mit dem Feldmarschall.

Gegen 8.00 Uhr abends fand sich der Kaiser nebst allen Prinzen, seinen Generalen und mit dem Feldmarschall von Möllendorf in der Spiegelkammer ein und ließ den Musicis befehlen, das Konzert anzufangen – der Marschall Duroc stellte dem Kaiser den Kapellmeister Himmel vor. Napoleon fragte ihn nach seinem Vaterlande, worauf er erwiderte, daß er ein Preuße sei und daß ihn Seine Majestät Friedrich Wilhelm II. nach Italien habe reisen lassen, um seine Talente daselbst zu vervollkommnen. Der Marschall Duroc stellte darauf einen Sänger des Königs von Bayern namens Bricci vor. Der Kaiser fragte ihn, aus welchem Lande er gebürtig sei. Bricci nannte Bologna als seine Vaterstadt. Der Kaiser sprach Italienisch mit ihm und sagte, daß die Bologneser gute Leute wären.

Zuletzt wurden auch der königliche preußische Opernsänger Tambolini und die Opernsängerin Marchetti vorgestellt, welche letztere der Kaiser fragte, wie lange sie hier in königlichen Diensten wäre. Madame Marchetti antwortete: „14 Jahre.“ – „So sind Sie gewiß eine Deutsche geworden,“ erwiderte Napoleon. Hierauf begann das Konzert, worin sich die Virtuosen hören ließen und in der Folge hatte der Kaiser alle Abende in den französischen Kammern ein Vocal-Konzert, währenddessen er mit dem diensttuenden General eine Partie Schach spielte.

Eines Nachmittags, als der Kaiser nebst seinen Generalen nach Friedrichsfelde[2]zur Revue geritten war, kam die Fürstin Hatzfeld auf das königliche Schloß in den Parole-Saal, vor welchem zwei französische Schildwachen standen, der eine davon rief mich hinaus und sagte zu mir, es sei eine Dame da, die einen aus der Umgebung des Kaisers sprechen wollte. Ich ging hinaus, und führte die Fürstin in den Saal ein, die mich jetzt fragte: „Wer sind Sie, mein Herr?" Ich antwortete, daß ich Kammerdiener des Königs von Preußen wäre und den Dienst beim Kaiser verrichtete. Die Fürstin fragte weiter, ob man nicht wisse, wo ihr Gemahl sei? Da ich der Fürstin Niedergeschlagenheit wahrnahm, wollte ich ihr anfangs die Wahrheit nicht sagen, sie bat indes so dringend, daß ich mich nicht enthalten konnte, ihr zu sagen ich hätte gehört, daß der Fürst verhaftet sei. – „Ist der Kaiser zu Hause?“ fragte sie heftig erregt – „ich muß ihm einen Brief überreichen.“ „Der Kaiser“, sagte ich, „ist vor einer Stunden weggeritten und kommt vor Anbruch des Abends nicht zurück“, in dem trat der Fourier des Kaisers hinzu und fragte mich, wer diese Dame wäre. Als ich ihm dies beantwortet, ging der Fourier zu der Fürstin und sagte: „Madame, Sie müssen fortgehen und können hier nicht bleiben!“ – Ich sagte auf Deutsch zu der Fürstin, daß sie auf dem Schloße Bescheid genug wisse, um Gelegenheit zu finden, den Brief dem Kaiser selbst zu überreichen. – Zu gleicher Zeit kam der Marschall Duroc aus dem Pfeiler-Saal, die Fürstin sprach ihn an, worauf er sagte: „Madame! Nehmen Sie es nicht übel ich habe nicht einen Augenblick Zeit, denn ich bin zu sehr beschäftigt.“ Und so fuhr sie nach Hause zurück. –

Gegen 6.00 Uhr kam Napoleon auf dem Schloße an und stieg auf der Seite des Domportals ab. Die im Garde-du-corps-Saal befindliche Wache zog wie gewöhnlich eine Chaine bis an die Treppe auf welcher der Kaiser einging. Ich sah mich jetzt nach der Fürstin Hatzfeld um, und erblickte sie im Garde-du-corps-Saal, wo selbst sich auch der der Fürstin zur Begleitung beigegebene Kammerherr der Prinzessin Ferdinand von Preußen aufhielt, und stellte sie an das Zimmer in welchem der Kaiser eintreten müßte. Kaum war derselbe eingetreten als auch schon die Fürstin niederkniete und um Gnade für ihren Mann flehte. Der Kaiser dem dies unerwartet kam, stand still und nahm den Brief der Fürstin aus der Hand, in welchem auch die Prinzessin von Preußen für sie bat. – „Wer sind Sie Madame“, fragte der Kaiser – sie antwortete: „Ich bin die Fürstin Hatzfeld und bitte um Gnade für meinen Gatten!“ Der Kaiser nahm seinen Hut ab, und sagte zu der Fürstin: „Stehen Sie auf, Madame!“ Die Fürstin war einer Ohnmacht nahe: „Nehmen Sie die Fürstin in Ihre Arme“, sagte Napoleon zu der Marschällen Duroc und Segur. –

Ich begleitete den Kaiser darauf in sein Zimmer, und nachdem derselbe den Brief durchgelesen hatte, befahl er mir die Fürstin zu holen. Ich meldete dies der Fürstin. – In der größten Angst ging sie begleitet von mir bis in das Vorzimmer des Kaisers, wo der diensttuende General sie anmeldete. Sie trat herein, und nichts wissend von der Ursache der Verhaftung ihres Gemahls, bat sie den Kaiser flehentlich um Gerechtigkeit gegen ihren Gatten, da nur Verleumdung, nicht aber Schuld ihm seine Lage zugezogen haben könne.

Der Kaiser reichte ihr statt aller Antwort den Brief des Fürsten. Zitternd ergreift ihn die Unglückliche. Sie liest sie erkennt ihres Mannes Handschrift die Schuld gegen den stolzen Sieger ist klar wie der Tag. Unaussprechlichen Seelenschmerz im Antlitz und Haltung unterbricht sie die schreckliche Pause bloß durch die Worte: „Ja, Sire, wir sind unglücklich.“ – „Nun Madame!“ sagte Napoleon „urteilen Sie selbst, ist das Verleumdung?“ – Tränen stürzten der Fürstin die Wangen herunter – sie war in einer bejammernswerten Lage und Mitleid malte sich auf jedes Umstehenden Gesicht. „Madame!“ – sagte der Kaiser nachdem er ihr den Brief wieder abgenommen, „dieser Brief allein enthält die Beweise gegen Ihren Gemahl. Wir wollen ihn verbrennen!“ Damit warf er ihn ins Feuer. –

„Ich begnadige Sie, Madame! Holen Sie sich ihren Gemahl!“ – Der Marschall Duroc, der den Befehl zur Entlassung des Fürsten hatte, fuhr mit der Fürstin zu ihrem Gemahl, um diesem den kaiserlichen Befehl zu seiner Entlassung anzukündigen. Der Fürst und die Fürstin setzten sich sodann in ihren Wagen und fuhren nach ihrer Wohnung.

Alle Sonntage ließ der Kaiser in seinem Zimmer die Messe lesen, wobei verschiedene Generale zugegen waren. – Da sich jetzt die Unpäßlichkeit der Churprinzessin von Hessen-Kassel behoben hatte, so ließ dieselbe bei dem Kaiser durch den Prinzen von Isenburg anfragen, wann sie ihre Aufwartung machen könne. – Der Marschall Duroc trug mir auf, dem Kammerherrn der Churprinzessin zu sagen, daß der Kaiser die Prinzessin erwarte. – Der Kammerherr erwiderte mir auf meinen desfallsigen Bericht: Ich möge dem Kaiser sagen, daß die Prinzessin schon ausgefahren sei – ich antwortete indess, daß, da der Wagen der Prinzessin vor der Wendeltreppe halte, und des Kaisers Reitpferd sich nicht auf demselben Schloßhofe befinde, ich mich keiner Verlegenheit aussetzen möchte, indem der Kaiser ausreiten wolle und sich bestimmt nach dem Zweck des Wagens der Prinzessin erkundigen werde. Ich ging darauf zur Churprinzessin, um hoch derselben zu sagen, daß der Kaiser sie erwarte, und daß mir der Kammerherr gesagt hätte, ich solle dem Kaiser sagen, Ihro königliche Hoheit wären schon ausgefahren. Ihre königliche Hoheit bemerkten aber, daß sie keinen Führer habe. Ich ging darauf zum Prinzen von Isenburg, der sich in der Spiegelkammer befand, und sagte ihm, daß es der Prinzessin an einem Führer fehle, da der Kammerherr derselben wider Vermuten nicht angezogen sei. – Der Prinz ging mit mir sogleich zur Prinzessin und führte sie nebst ihren beiden Kindern und ihrer Oberhofmeisterin zum Kaiser, welcher im Pfeiler-Saal der Prinzessin entgegenkam und sie sehr freundschaftlich empfing. Er nahm den Arm der Prinzessin, führte sie nebst ihren beiden Kindern in sein Zimmer und unterhielt sich sehr lange mit derselben. Hierauf führte der Kaiser die Prinzessin aus seinem Zimmer heraus und begleitete sie bis in den Pfeiler-Saal. „Begleiten Sie die Prinzessin!“, sagte er zu seinen Generalen, welche erstere bis in ihre Wohnung brachten.

Am 13. November mittags nach 1.00 Uhr erteilte der Kaiser dem Verwaltungs-Comité von Berlin den Befehl, in Rücksicht alles dessen was zur Truppen-Verpflegung gehört Bericht abstatten zu lassen.[3]

Den 23. November gegen Abend mußte ich den Kaiser zu der Churprinzessin von Hessen-Kassel führen, bei welcher er seinen Abschiedsbesuch abstattete und sich lange aufhielt.

Am 24. November morgens 3.00 Uhr fuhr der Kaiser von Berlin ab, nach Küstrin, nachdem er hinterlassen, daß er in vier Tagen wieder in Berlin eintreffen würde, wozu seine Zimmer in Bereitschaft gehalten werden möchten. – Er kam aber nicht zurück, denn nach 10 Tagen bekam der Service und ein Teil seiner Dienerschaft, welcher in Berlin zurückgeblieben war, den Befehl nachzukommen. – Mit diesem Befehl endete sich auch mein Dienst, den ich vom 23. Oktober bis 5. Dezember mit der größten Anstrengung meiner Kräfte Tag und Nacht gehabt hatte, ich ging darauf zum General Clark, bat denselben um einen Paß zu meiner Sicherheit und Rückreise nach Potsdam und gelangte am 6. Dezember in den Zirkel meiner Familie an.“[4]



[1] Auszüge aus: „Erinnerungen an den Kaiser Napoleon aus den Tagen seines Aufenthaltes in Potsdam und Berlin im Jahre 1806. Von einem Augenzeugen“, unveröffentlichte Quelle, Landesarchiv Berlin, Rep. 241, acc. 3932, Nr. 1.

[2] Das Schloss Friedrichsfelde ist eine von Raule 1694-1698 in Berlin-Lichtenberg angelegte Schloss- und Parkanlage im holländischen Stil, die mehrfach umgebaut wurde und 1813 bis 1815 als „Staatsgefängnis“ für den sächsischen König Friedrich August III/I diente.

[3] Die neue Stadtregierung, das am 30. Oktober gewählte „Comité administratif“, wurde von Napoleon am 3. November bestätigt. Sogleich nach seiner feierlichen Vereidigung nahm es seine Arbeit auf (9. November). Glaubt man Tamanti, begann die Registrierung der verlangten Lieferungen an das französische Heer erst am 13. November.

[4] Beim französischen Offizier Clarke handelt es sich um den Brigadegeneral Henri-Jacques-Guillaume Clarke (1765-1818), der am 30. Oktober zum Gouverneur der gesamten Kurmark und Vorgesetzten aller preußischen Behörden ernannt wurde, bevor am 3. November seine Zuständigkeit auf die Mittelmark beschränkt wurde. Trotz einiger Ansätze ist das damalige Pass-Wesen weitgehend unerforscht.

 


 
Zugehöriger Essay:
Ilja Mieck: Kaiser Napoleon I. im Berliner Stadtschloss
Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
Für das Themenportal verfasst von

Ilja Mieck

( 2007 )
Zitation
Ilja Mieck, Kaiser Napoleon I. im Berliner Stadtschloss, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1344>.
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