Kaiser Napoleon I. im Berliner Stadtschloss
Von Ilja Mieck
Schon wenige Tage nach dem Sieg bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 zogen alle französischen Armeekorps weiter, um sich von drei Seiten der preußischen Hauptstadt zu nähern. Napoleon selbst hielt sich ab dem 24. Oktober zweieinhalb Tage in Potsdam auf, ritt am 26. Oktober nachmittags nach Spandau und Charlottenburg und vollzog, umgeben von seinen Generalen, seinen feierlichen Einzug in Berlin am späten Nachmittag des 27. Oktobers. Ob er sich östlich des Brandenburger Tores die Stadtschlüssel überreichen ließ, ist umstritten.
Ein preußischer Kammerdiener namens Tamanti berichtet in seinen hier erstmals veröffentlichten Erinnerungen über die etwa vier Wochen im Herbst 1806, in denen Napoleon, der Sieger von Jena und Auerstedt, im Berliner Stadtschloss Quartier nahm. Wohl auch wegen seiner guten französischen Sprachkenntnisse war Tamanti von Friedrich Wilhelm III. Napoleon zur persönlichen Bedienung zur Verfügung gestellt worden. Den Namen „Tamanti“ erfährt man übrigens nur aus der sehr zuverlässigen Darstellung von Magnus Friedrich von Bassewitz, der – im Gegensatz zu Tamanti – auch mitteilt, dass der Kammerdiener mit einigen Lakaien und unter Leitung eines Kammerherrn und eines Hofstaatssekretärs nach Potsdam und Berlin geschickt worden war.
Um auf die Glaubwürdigkeit der „Erinnerungen“ und die Motivation Tamantis hinzuweisen, empfiehlt es sich, eine kurze Passage aus seiner „Vorrede“ wiederzugeben: „In einer Zeit, wo so viele Schriften über Napoleon herauskommen, in denen sich oft das Wahre vom Falschen schwer unterscheiden lässt, machte sich der Verfasser der folgenden Notizen umso weniger Bedenken mit denselben hervorzutreten, da er durchgehends als Augenzeuge schreibt. Er erhielt nämlich im Oktober 1806, als der Kaiser der Franzosen in Potsdam erwartet wurde, den Befehl, sich auf dem Königlichen Schlosse daselbst einzufinden, um bei demselben als Kammerdiener zu functioniren. Dieses Amt, welches ihm vom 24. Oktober bis 24. November ununterbrochen verblieb und ihn in die nächste Umgebung Napoleons brachte, machte es ihm möglich, die folgenden Bemerkungen zu sammeln, welche er hiermit den geehrten Lesern, so wie er sie schon damals niederschrieb, als einen kleinen Beitrag zur Kenntnis jener verhängnisvollen ewig denk- und merkwürdigen Zeit übergiebt.“ Dem letzten Satz ist zu entnehmen, dass die „Erinnerungen“ schon bald nach dem Napoleon-Aufenthalt niedergeschrieben wurden; auch deshalb können sie als recht zuverlässig gelten.
Den als rücksichtslosen Ausbeuter der besiegten Länder bekannten Franzosenkaiser zeigte Tamanti in ganz anderem Licht: er erwies sich als gebildeter und kultivierter Fürst, der selbst im Kriege und in der preußischen Hauptstadt die Internationalität der europäischen Eliten respektierte. Mit einfachen aber treffenden Formulierungen skizziert der Quellentext einen Napoleon, der seinen Gesprächspartnern ganz ungewohnte Innenansichten eines militärisch und politisch schwer angeschlagenen Staates präsentiert, die anderen zeitgenössischen Beobachtern aus Berlin (unter anderem Gubitz, Rellstab, Klöden, Nostitz, Hedwig von Olfers) und aus ganz Deutschland (Varnhagen von Ense, Goethe, Henrik Steffens, de la Motte-Fouqué, Achim von Arnim, Bettina von Arnim, von Eichendorff, Johanna Schopenhauer, Brentano, Elisabeth von Staegemann sowie zahlreiche weitere) ziemlich fremd waren. Zugleich offenbarte Napoleon Innenansichten seiner Persönlichkeit, die man im Allgemeinen bei einem Siegertypen nicht vermutet. In den Aufzeichnungen kommt die europäische Perspektive in ganz bezeichnender Weise zum Tragen.
Die „Erinnerungen“ Tamantis berichten kaum über die „große Politik“, vielmehr über Personen, Ereignisse und Episoden wie den Einzug Napoleons in Berlin, das Treffen Napoleons mit Feldmarschall von Möllendorf, die Konzerte im Schloss, die Szene, in der die Fürstin von Hatzfeld Napoleon um Gnade für ihren Mann anfleht, und die Aufwartung der Kurprinzessin von Hessen-Kassel bei Napoleon. Da die „Erinnerungen“ meist für sich selbst sprechen, bedarf es im Folgenden bloß einiger Erläuterungen zu Namen, Personen und Begriffen, die vom „Augenzeugen“ Tamanti wie selbstverständlich genannt werden, im Abstand von fast zwei Jahrhunderten aber eine Erklärung verlangen.
Über die preußische Militärelite wusste Napoleon gut Bescheid, so auch über den Feldmarschall von Möllendorf, dem er laut Tamanti „sehr freundschaftlich die Hand reichte“ und mit dem er sich zuerst allein, „dann zusammen mit verschiedenen Prinzen“ unterhielt. Wichard Joachim Heinrich von Möllendorf (1724-1816) hatte sich in den Schlesischen Kriegen ausgezeichnet, wurde 1793 zum Feldmarschall befördert und geriet nach Auerstedt in (kurze) Gefangenschaft. Wohl nach einem weiteren Schloss-Besuch von Möllendorfs bewilligte Napoleon ihm eine jährlich zu zahlende „Gratification“, für die sich von Möllendorf am 19. Dezember 1806 bedankte.
Das Konzert in der Spiegelkammer, dem der Kaiser nebst Prinzen und Generalen beiwohnte, wurde vom Kapellmeister Friedrich Heinrich Himmel (1765-1814) geleitet. Der Komponist und Pianist Himmel hatte mit Unterstützung Friedrich Wilhelms II. zwei Jahre in Italien verbracht. 1797 ersetzte er den in Ungnade gefallenen, von 1787 bis 1794 als königlicher Kapellmeister tätigen Johann Friedrich Reichardt.Sein musikalisches Œuvre umfasste über achtzig Titel. Reichardt durfte zwar 1797 nach Berlin zurückkehren, doch blieb das Amt des Hofkapellmeisters gedrittelt und wurde von
Righini, Himmel und Reichardt ausgeübt. 1806 ließ Napoleon Reichardts Landgut Giebichenstein bei Halle verwüsten; der Fahndung entzog sich der von Napoleon gesuchte „professeur de musique“ durch die Flucht nach Ostpreußen. Offenbar profitierte Himmel von seiner Abwesenheit. Da das Orchester der Königlichen Oper „mit Aushilfen“ um 1788/90 über hundert Musiker umfassen konnte, wird vor allem die Identifikation von Solisten wie Bricci und Tambolini schwer fallen. Bekannter war dagegen die 1786 geborene Maria Giuseppa Marchetti-Fantozzi, die schon 1794 (erstes Dirigat Righinis) als konkurrenzlose Primadonna gefeiert wurde. Nach der Tamanti-Auskunft muss sie etwa 1792 nach Berlin gekommen sein.
Die Hatzfeld-Affäre wurde zum politisch-diplomatischen Dauerbrenner, als Napoleon kompromittierende Briefe des Fürsten entdeckte, der ihm wenig später als „Zivil-Gouverneur“ von Berlin in Potsdam begegnete. Später ließ ihn Napoleon verhaften. Tamanti berichtet über das theatralische Treffen der tränenüberströmten Fürstin, der Tochter des Ministers Schulenburg-Kehnert, mit dem kühl bleibenden Kaiser, der den Brief schließlich großherzig ins Kaminfeuer warf.
Die Kurprinzessin von Hessen-Kassel, deren Aufwartung beim Kaiser von Tamanti geschildert wird, war eine Tochter des (meist) in preußischem Militärdienst stehenden Landgrafen/Kurfürsten von Hessen-Kassel, der sein weitgehend an Napoleons Bruder Jérôme gefallenes Territorium erst 1813/15 zurückbekam. Vielleicht handelt es sich um Auguste, eine Tochter des Preußenkönigs, die 1797 den hessischen Thronfolger Wilhelm (II.) geheiratet hatte. Dass Auguste den Kaiser um Gnade für ihren verstoßenen Schwiegervater (und seinen Erben!) bitten wollte, erscheint zumindest plausibel. Da Wilhelm I. von einem Königstitel träumte („König der Katten“) und sich mit dem Prädikat „Königliche Hoheit“ schmückte, gestand Tamanti diese Anrede (einige Zeilen weiter) vielleicht auch der Tochter zu; jedenfalls war dies eine Vorwegnahme der Beschlüsse von Wien, die zu den „Souveränitäts- und Gebietsrechten“ auch den Titel „Königliche Hoheit“ zählten.
In den „Erinnerungen“ ist von der „großen Politik“ kaum die Rede, obwohl der französische Kaiser alles daran setzte, Preußen und seine Hauptstadt finanziell und materiell auszubeuten. Zu der astronomisch hohen Kontribution kamen die Lasten für die Einquartierungen, für die Armeeversorgung, für die Bürokratie in Militär- und Zivilverwaltung, für die den Einwohnern auferlegten Zwangsanleihen und viele andere Kosten und Beschwernisse, ganz zu schweigen vom (organisierten) Kunstraub, dem nicht zuletzt die Quadriga auf dem Brandenburger Tor zum Opfer fiel. Niemand scheint diese Dinge angesprochen zu haben. Napoleon gab sich als umgänglicher und kultivierter Zeitgenosse. Keiner konnte glauben, dass der Frieden erst nach über siebeneinhalb blutigen Monaten geschlossen werden würde.
[1] Essay zur Quelle Nr. 6.3, Erinnerungen des preußischen Kammerdieners Tamanti an den Aufenthalt von Kaiser Napoleon in Potsdam und Berlin im Jahre 1806.
[2] Bassewitz, Magnus Friedrich von, Die Kurmark Brandenburg im Zusammenhang mit den Schicksalen des Gesamtstaats Preußen während der Zeit vom 22. Oktober 1806 bis zum Ende des Jahres 1808, 2 Bde., Leipzig 1851/52, hier Bd. 1. Verfasst wurde das anonym erschienene Werk „Von einem ehemaligen höheren Staatsbeamten“, der von 1824 bis 1840 Oberpräsident der Provinz Brandenburg war. Der zweite Halbband des Buches sowie die beiden anderen Bände zur Kurmark Brandenburg, über die Zeit 1806 bzw. 1809/1810 haben mit dem hier behandelten Thema nichts zu tun.
[3] Der Schlussteil der „Erinnerungen“ ist allerdings ziemlich dürftig. Für die Tatsache, dass die Aufzeichnungen seit dem 13. November 1806 recht lückenhaft sind, fehlt jede Erklärung.
[4] Vgl. den Faksimile-Abdruck nach einer von Fernand Beaucour gefundenen Archivalie in Mieck, Ilja, Napoléon à Berlin, in: Etudes napoléoniennes 29 (1993), S. 553-576, bes. S. 570.
[5] Fischer-Dieskau, Dietrich, „Weil nicht alle Blütenträume reiften“. Johann Friedrich Reichardt. Hofkapellmeister dreier Preußenkönige, Stuttgart 1992.
[6] Weitere Details nennt von Bassewitz, der das Treffen auf den 31. Oktober datiert. Von Bassewitz (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 89-92.
[7] 1785: Wilhelm IX.; 1803: Wilhelm I., gest. 1821.
Literaturhinweise:
Clauswitz, Paul, Die Städteordnung von 1808 und die Stadt Berlin. Festschrift zur hundertjährigen Gedenkfeier der Einführung der Städteordnung, Berlin 1908
Köhler, Ruth; Richter, Wolfgang (Hg.), Berliner Leben 1806 bis 1847. Erinnerungen und Berichte, Berlin (Ost) 1954
Mieck, Ilja, Von der Reformzeit zur Revolution (1806-1847), in: Ribbe, Wolfgang (Hg.), Geschichte Berlins, Bd. 1: Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung, 3. erweiterte und aktualisierte Aufl., München 2002, S. 405-602
Ders., Napoléon à Berlin, in: Etudes napoléoniennes 29 (1993), S. 553-576
Ders., Berlins Aufstieg zum ersten preußischen Finanzplatz bis zur Industrialisierung, in: Pohl, Hans (Hg.), Geschichte des Finanzplatzes Berlin, Frankfurt am Main 2002, S. 1-52
Ders., Napoleon in Potsdam, in: Francia 31/2 (2004), S. 121-146