Persönliche Familiengeschichte als Zugang zu einer vergleichenden europäischen Familienforschung.

Für eine vergleichende Erforschung historischer Familienformen in Europa kommt der Debatte um die so genannte „Zadruga“ entscheidende Bedeutung zu. Das Interesse an dieser insbesondere im westlichen Balkanraum verbreiteten Familienform reicht wissenschaftsgeschichtlich bis weit ins 19. Jahrhundert zurück. Vielfältige ideologische Implikationen flossen dabei in diese Debatte ein. Nationalisten sahen in der „Zadruga“ eine spezifische Ausdrucksform nationaler Identität.[...]

Persönliche Familiengeschichte als Zugang zu einer vergleichenden europäischen Familienforschung[1]

Von Michael Mitterauer

Für eine vergleichende Erforschung historischer Familienformen in Europa kommt der Debatte um die so genannte „Zadruga“ entscheidende Bedeutung zu. Das Interesse an dieser insbesondere im westlichen Balkanraum verbreiteten Familienform reicht wissenschaftsgeschichtlich bis weit ins 19. Jahrhundert zurück. Vielfältige ideologische Implikationen flossen dabei in diese Debatte ein. Nationalisten sahen in der „Zadruga“ eine spezifische Ausdrucksform nationaler Identität. Für Panslawisten bedeutete sie wegen auffallender Analogien zu Familienstrukturen in Russland ein wertvolles gemeinsames Erbe aus urslawischer Frühzeit. Und noch unter kommunistischer Herrschaft wurde der Gemeinschaftsbesitz der „Zadruga“ als Vorform eigener Gesellschaftsvorstellungen idealisiert. Für westliche Wissenschaftler war die „Zadruga“ stets als kontrastierende Familienform interessant. In evolutionistischen Modellen der Familienentwicklung eignete sie sich zur Rekonstruktion vermeintlicher Frühstadien, die generell in der europäischen Geschichte durchlaufen worden wären, sich im Südosten aber länger erhalten hätten. Unabhängig von solchen Rückprojektionen galt ihr auch in der vergleichenden historischen Familienforschung der neueren Zeit besondere Aufmerksamkeit, speziell in der Tradition der „Cambridge Group for the History of Population and Social Structure“, die diesbezüglich seit den 1960er Jahren Maßstäbe setzte. Studien über die „multiple-family households“ in Südosteuropa dienten nun gleichsam als Kontrastfolie, um die Dominanz von „simple-family households“ in West- und Mitteleuropa besser verstehen zu können. Entsprechungen zwischen „einfachen Familienhaushalten“ und dem so genannten „European marriage pattern“ (John Hajnal) führten dazu, dass das mit Familienstrukturen des Balkanraums korrespondierende Heiratsmuster als „non European“ etikettiert wurde. Hier setzt nun die jüngste Diskussionsphase um die „Zadruga“ an, die in starkem Maße auch diskursanalytische Strömungen der neueren Geschichtswissenschaft aufgreift. Gegenüber der vergleichenden historischen Familienforschung, die südosteuropäische Verhältnisse mit denen anderer europäischer Großräume kontrastiert, wird der Vorwurf des „othering“, das heißt der Konstruktion des Anderen in der Abgrenzung zum Eigenen, erhoben. Aussagen über die „Zadruga“ gelten grundsätzlich als Bestandteil eines abwertenden Balkan-Bildes. Der Begriff „Zadruga“ selbst wird als wissenschaftliches Kunstwort in Frage gestellt – und mit ihm zugleich der bezeichnete Inhalt. Die Debatte ist damit an einem Punkt angelangt, an dem es angebracht erscheint, sich wiederum verstärkt den Quellen zuzuwenden.

Die historische Familienforschung hat seit den 1960er Jahren ihren vergleichenden Studien vor allem solche Quellen zugrundegelegt, die quantifizierend auswertbar sind – also Zensuslisten, Urmaterial von Volkszählungen, so genannte „Seelenbeschreibungen“ und ähnliche Typen von Personenstandslisten. Führende Vertreter dieser Richtung formulierten sogar den Standpunkt, dass nur mit Quellen und Methoden dieser Art valide Resultate zu erzielen seien. Für die hier angesprochene „Zadruga“-Problematik gilt das sicher nicht. Abgesehen von der dürftigen Quellenlage bezüglich solcher Personenstandslisten in Südosteuropa, lassen sich viele wesentliche Fragen der Diskussion auf der Basis derartiger Quellen gar nicht klären. So soll hier ein Quellentyp ganz anderer Art aufgegriffen und in ersten Ansätzen interpretiert werden, der insgesamt für eine vergleichende historische Familienforschung europaweit stärkere Beachtung verdient.

Wayne Vucinichs Artikel „A Zadruga in Bileca Rudine“, den ich im Anhang meines Beitrags in stark gekürzter Form und in deutscher Übersetzung wiedergebe, ist zunächst ganz allgemein ein autobiografischer Text. Vucinich berichtet über persönliche Erfahrungen, die der Autor in seiner Herkunftsfamilie in der östlichen Herzegovina in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gemacht hat, bzw. über mündlich in der Familie tradierte Überlieferungen. Im Unterschied zu Zeugnissen der Popularen Autobiografik, die in neuerer Zeit als historische Quellen zunehmend an Bedeutung gewinnen, handelt es sich nicht um lebensgeschichtliche Aufzeichnungen über die eigene Familie, die für Kinder, Verwandte und sonstige nahestehende Personen festgehalten wurden. Vielmehr schreibt hier ein Wissenschaftler für die Wissenschaft. Als Sohn einer Emigrantenfamilie in den Vereinigten Staaten geboren, kam Wayne Vucinich 1918 als Fünfjähriger in die „Zadruga“ seines Vaters in Bileca Rudine, wo er seine Jugend verbrachte. Sein Wissen um das Zusammenleben in dieser spezifischen Familienform beruht also auf unmittelbarer Erfahrung. Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten machte Wayne Vucinich dort als Wissenschaftler Karriere. Zum Zeitpunkt der Abfassung des Textes im Jahre 1973 war er Professor für Geschichte an der Stanford University. Der Blick zurück auf seine Herkunftsverhältnisse scheint somit doppelt gebrochen – durch die Reflexion als Emigrant aus räumlicher Distanz und durch die Reflexion des Wissenschaftlers, der seine Familiengeschichte als Fallstudie für einen historischen Band mit einer allgemeinen Zielsetzung schreibt. Noch ein weiteres Moment der Verallgemeinerung kommt hinzu: Der Text ist als Beitrag für die Gedenkschrift für einen Fachkollegen abgefaßt, nämlich den prominenten Historiker und Politikberater Philip Mosely (1905-1972). Mosely war einer der ersten, der allgemeine Arbeiten über die „Zadruga“ mit konkreten Fallstudien verband. Vucinich verstand den Beitrag über seine eigene Familie als Analogie zu diesen Fallstudien Moselys. In seine autobiografische Darstellung sind so in vielfältiger Weise allgemeine Fragestellungen der „Zadruga“-Forschung eingegangen. Für einen lebensgeschichtlichen Text als Quelle vergleichender historischer Familienforschung ist das eine einmalige Situation. Aber auch ohne diesen Kontext haben sicher derartige Ego-Dokumente für komparative Studien hohen Quellenwert.

Wayne Vucinichs autobiografischer Text betont sehr stark Phänomene, die in der wissenschaftlichen „Zadruga“-Diskussion eine Rolle spielen. Die Auswahl der wiedergegebenen Textpassagen setzt in diese Richtung zusätzliche Akzente. So wurden alle Berichte aufgenommen, die sich auf die jeweilige Zusammensetzung der Familie vom frühen 19. Jahrhundert bis zu der vom Autor mit 1925 angesetzten Auflösung der „Zadruga“ beziehen. Einige spezifische Strukturmerkmale dieser Familienform werden dabei deutlich erkennbar. Als Wichtigstes ist sicher die strikte Patrilinearität zu nennen, die den ganzen von der Familiengeschichte behandelten Zeitraum hindurch beibehalten wurde. Söhne bleiben stets im Haus, auch wenn sie schon verheiratet sind, Töchter hingegen verlassen grundsätzlich bei der Heirat das Haus. Mit dem Verbleib mehrerer verheirateter Söhne, die auch nach dem Tod des Vaters in Besitzgemeinschaft zusammenleben, hängt die patrilinear-komplexe Struktur dieses Familientyps zusammen. „Patrilinear-komplexe Familienstruktur“ meint mehr als bloß „multiple-family household“, ganz zu schweigen von der völlig undifferenzierten Terminologie „Großfamilie“. Natürlich handelt es sich bei einem 29-Personen-Haushalt, wie ihn Wayne Vucinich für 1918 beschreibt, um eine in West- und Mitteleuropa damals unbekannte Haushaltsgröße – ohne Erklärung des patrilinearen Grundmusters bleibt jedoch die Struktur dieses Familientyps unverstanden.

Die entscheidende Zäsur im Entwicklungszyklus der von Wayne Vucinich beschriebenen Hausgemeinschaft ist nicht der Tod des Haushaltvorstands („domacin“), sondern die Aufspaltung in zwei oder mehrere neue Hausgemeinschaften. Mit dem Tod des „domacin“ kommt es zu keinem Besitzwechsel. Alle Männer der Patrilinie besitzen ja gemeinsam den Hof, so dass kein Erbfall eintritt. Bloß das Oberhaupt wechselt. In der Regel übernimmt der jeweils älteste Mann diese Position. Das muss nicht der Sohn sein. Als sich Onkel Ivan 1918 aus dieser Position zurückzieht, folgt ihm mit Onkel Rade der nächstälteste Bruder. Es herrscht also Senioriätsprinzip. Patriarchalismus als Entsprechung zu Patrilinearität und Senioritätsprinzip wird bei Wayne Vucinich am Beispiel dieses Onkels Rade beschrieben. Frauen als Oberhaupt der Familie kommen in keiner Phase des Entwicklungszyklus vor. Beispielhaft zeigt sich so an dieser Familiengeschichte ein Merkmalsyndrom besonderer Art, zu dem es in bäuerlichen Familien West- und Mitteleuropas kaum eine Entsprechung gibt.

Mit den spezifischen Strukturmerkmalen der Familienverfassung hängt eine Besonderheit des Migrationsverhaltens zusammen, das im Leben Wayne Vucinichs besondere Bedeutung erlangen sollte. In den Jahren 1905 bis 1919 wanderten sein Vater und zwei Onkel nach Amerika aus. Sie behielten dabei „volle Rechte als Mitglieder der Zadruga“. Dafür schickten sie gelegentlich Geld nach Hause, das der Familie Grunderwerb und Bautätigkeit ermöglichte. Als zwei der drei Brüder 1919 während der Grippe-Epidemie starben, kehrte der Dritte mit den verwaisten Kindern des Ältesten in die Heimat zurück. Von den in Mittel- und Westeuropa verbreiteten Migrationsmustern ohne Rückkehrrecht, aber auch ohne besondere Verpflichtungen gegenüber der Familie, die man verlassen hat, unterscheidet sich dieses Wanderungsverhalten sehr grundsätzlich. Es wurzelt in besonderen Faktoren der Familienstruktur, nämlich dem kollektiven Eigentum aller männlichen Angehörigen der Hausgemeinschaft – auch der noch minderjährigen. Eine temporäre Abwesenheit bedeutet diesbezüglich keine Beeinträchtigung. Auch die von den Verhältnissen im Westen abweichende Form der Versorgung von Waisenkindern kommt in der Familiengeschichte Wayne Vucinichs anschaulich zum Ausdruck. Wo verheiratete Brüder in Hausgemeinschaft zusammenleben, bedarf es keiner besonderen Aufnahme durch Zieheltern.

Hinweise auf den sozialen Kontext patrilinear-komplexer Familienformen in Südosteuropa gibt bereits die Einleitung der zitierten Stelle über die Herkunft der Familie. Die Familienüberlieferung leitet sie vom Stamm der Piperi ab. Ethnografische Daten scheinen dem Wissenschaftler Wayne Vucinich aber eher für eine Herkunft vom Stamm der Drobnjaci zu sprechen. Welche diese beiden Varianten auch immer die zutreffende ist – die Familie dürfte ursprünglich in einen umfassenden Stammesverband eingebunden gewesen sein. In Montenegro, wo die Familie herstammt, in Nordalbanien, im Kosovo haben sich solche Zusammenhänge zum Teil bis ins 20. Jahrhundert hinein erhalten. Im westlichen Balkanraum ist in älterer Zeit mit einer stärkeren Verbreitung solcher Erscheinungen zu rechnen. Die Entstehung von Stämmen, und mit ihnen von patrilinear-komplexen Familienstrukturen, ist hier also sicher nicht erst ein neuzeitliches Phänomen. Auch ein anderer Hinweis der Quellenstelle ermöglicht weiterführende Schlüsse auf den Charakter der beschriebenen patrilinearen Abstammungsgemeinschaft. Wayne Vucinich erwähnt, dass sein Großvater Jeremije eine „citulja“ begonnen hat, in die vom Priester Geburten, Heiraten und Todesfälle der Familie eingetragen werden sollten – eine Aufgabe, die dieser nur mangelhaft erfüllte. Ein solches Familienregister, wie es sich auch sonst im Verbreitungsgebiet der „Zadruga“ häufig findet, ist etwas ganz anderes als die im Westen seit der frühen Neuzeit auf Pfarrebene geführten Tauf-, Heirats- und Sterberegister. Es dient nicht der obrigkeitlichen Kontrolle, sondern dem innerfamilialen Kult. An anderer, hier nicht aufgenommener Stelle erwähnt Wayne Vucinich die Feier der so genannten „Slava“ zu Ehren des Hauspatrons, im Falle seiner Familie des heiligen Georg, die die Angehörigen der patrilinearen Abstammungsgemeinschaft zu einem großen religiösen Fest in häuslichem Rahmen zusammenführte. Bei diesem Fest wurde auch der Toten gedacht. Dem hier praktizierten Gedenken diente die „citulja“ als Grundlage. Die „Slava“ hatte also auch den Charakter eines Ahnenfests. Das Abstammungsbewusstsein der die „Slava“ Feiernden besaß eine starke religiöse Komponente. Unter den christlichen Familienkulturen Europas ist ein solches religiös verankertes Ahnenbewusstsein ein einmaliges Phänomen. Auch dieses Moment weist historisch weit zurück.

Wayne Vucinich geht in seinem autobiografischen Text von einem relativ engen „Zadruga“-Begriff aus. „Seine Zadruga“ hörte für ihn zu bestehen auf, als 1925 der bis dahin gemeinsame Familienbesitz zwischen seinen Onkeln, seinen Geschwistern und ihm aufgeteilt wurde, obwohl die Familie weiterhin gemeinsam im Stammhaus wohnte. Nicht Koresidenz ist ihm das entscheidende Kriterium, sondern zusätzlich dazu auch Besitz- und Wirtschaftsgemeinschaft. Ein auf der Basis von Zensuslisten arbeitender Historiker hätte die Familie wohl weiterhin den „multiple-family households“ zugerechnet und dementsprechend von einer „Zadruga“ gesprochen. Der Sprachgebrauch in der Wissenschaft ist unterschiedlich. Der genannte Philip Mosely etwa wendet sich gegen eine Beschränkung des Begriffs „Zadruga“ auf komplexe Familienformen, weil aufgrund der institutionellen Rahmenbedingungen der Region einfache Familienformen sehr rasch zu komplexen werden können und umgekehrt. Bei allen Unterschieden in der Verwendung des Terminus konnten Wayne Vucinich und seine Fachkollegen in den 70er Jahren noch ganz unbelastet den Begriff „Zadruga“ gebrauchen, sei es in diesem oder jenem Wortverständnis. In der neueren Literatur wird man ihn sicher nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit im Titel eines Buches oder eines Artikels verwendet finden. Das erklärt sich sicher nicht nur aus den ideologischen Implikationen der Begrifflichkeit, derer man sich in der Zwischenzeit stärker bewusst geworden ist. Auch das Bemühen, Abwertungen zu vermeiden, spielt dabei wohl eine Rolle. Wenn mit dem Begriff „Zadruga“ soziale Merkmale der Rückständigkeit assoziiert werden, dann mag es besser sein, ihn nicht zu verwenden. Welche Terminologie aber auch immer benutzt wird – um die sachlichen Unterschiede zwischen historischen Familienverhältnissen in Südosteuropa einerseits, in Mittel- und Westeuropa andererseits wird eine vergleichende Familienforschung nicht herumkommen. Sie ergeben einen besonders starken Kontrast. Und diesen Kontrast braucht eine historisch-sozialwissenschaftliche Zugangsweise, die am Verstehen und Erklären von Unterschieden interessiert ist.

Die quantifizierende Methode hat in der vergleichenden historischen Familienforschung seit den 1960er Jahren europaweit großartige Ergebnisse erbracht. Wo man sich ausschließlich auf sie beschränkte, kam es jedoch meist zu einem Stillstand. Die Verwendung lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen als Quelle stellt scheinbar eine radikale Alternative dar. In Wirklichkeit lassen sich beide methodischen Ansätze untereinander und mit weiteren fruchtbar verbinden. Wayne Vucinich wusste um zeitgenössische Studien auf ganz anderer Quellenbasis. Explizit oder implizit sind sie in seine autobiografische Darstellung eingegangen. So ist ein Quellentyp entstanden, der sicher provokatives Potential enthält: Darf der Familienhistoriker seine eigene Familiengeschichte als Quelle konzipieren? Wenn es in einer ähnlich wissenschaftlich kontrollierten und reflektierten Form geschieht, wie bei Wayne Vucinich, so ist das sicher nicht nur erlaubt, sondern – weil in besonderer Weise weiterführend – auch wünschenswert.

 



[1] Essay zur Quelle Nr. 1.10, Wayne Vucinich: Geschichte meiner Familie vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (1976).

 


Literaturhinweise:

  • Erlich, Vera Saint, Family in transition. A Study of 300 Yougoslav villages, Princeton 1966
  • Kaser, Karl, Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur, Wien 1995
  • Ders., Macht und Erbe, Männerherrschaft, Besitz und Familie im östlichen Europa (1500-1900), Wien 2000
  • Todorova, Marija N., Balkan family structure and the European pattern. Demographic developments in Ottoman Bulgaria, Washington 1993
  • Dies., Zum erkenntnistheoretischen Wert von Familienmodellen. Der Balkan und die „europäische Familie“, in: Ehmer, Josef; Hareven, Tamara K.; Wall, Richard (Hg.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen, Frankfurt am Main 1997, S. 283-300

Vucinich, Wayne: Geschichte meiner Familie vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (1976)[1]

Der Ursprung meiner Familie ist unklar. Der Familienüberlieferung nach stammte sie vom montenegrinischen Stamm der Piperi, aber topographische und ethnographische Daten legen nahe, das sie sich von Stamm der Drobnjaci herleitete. Die Überlieferung berichtet weiter, daß ein Gaiun Vucinich irgendwann im späten 18. Jahrhundert einen Türken ermordet hatte und flüchtete, um türkische Vergeltungsmaßnahmen zu vermeiden. Er lebte zunächst bei Trebinje, übersiedelte später mit seiner Familie nach Bileca Rudine und ließ sich schließlich auf dem Landgut (agaluk) eines feudalen Grundherren im Dorf Mosko nieder. Nach einem kurzen Aufenthalt bat Gaiun seinen Grundherren um die Erlaubnis, sich auf dessen Landbesitz im Dorf Orah ansiedeln zu dürfen, was ihm ge­stattet wurde.

Nach der Überlieferung gründete Gaiun eine Familie, die drei Söhne und fünf Töchter umfasste. Die Söhne blieben nach ihrer Heirat mit ihren Frauen und Kindern zusammen, während die Töchter bei ihrer Heirat die Familie verließen. Gaiun starb um 1815. Seine überlebenden Söhne blieben bis etwa 1830 beisammen. Todor, der älteste von ihnen, war Oberhaupt der Hausgemeinschaft. Als sich die Familie teilte, blieb Todor im Familienhaus in Orah, während seine beiden Brüder auf dem Gut des Aga im benachbarten Dorf Panik Häuser errichteten. Das ist alles, was wir über den Ursprung der Familie wissen, und bloß ein Teil mag mit den Fakten übereinstimmen. Übrigens, fast jede Familie in Bileca Rudine hat eine ähnliche Familienüberlieferung.

Mein Urgroßvater Todor starb 1863. Vier Söhne und drei Töchter überlebten ihn. Die vier Söhne setzten mit ihren Frauen und Kindern das Zusammenleben in der Zadruga fort, während die Töchter heirateten und das Haus verließen. Der älteste der vier Söhne, mein Großvater Jeremije (1822-1890), war der Haushaltsvorstand. Er begann eine „citulja“ anzulegen, ein Verzeichnis der Geburten, Heiraten und Todesfälle in der Familie, aber auch dieses einzige Dokument über die Geschichte unserer Familie ist unvollständig, weil niemand im Haus lesen und schreiben konnte und der Priester es verabsäumte, Veränderungen zu registrieren, die sich in der Familie ereigneten. [...]

1885 teilte sich die Zadruga meines Großvaters Jeremije. Drei Brüder und ihre Familien zogen aus,während der vierte, Jeremije, der älteste der Brüder, seine Frau Marija (1848-1895), fünf seiner Söhne und fünf Töchter im Haus der Zadruga blieben, das nun endlich erneuert und erweitert wurde. Bevor er verstarb, hatte Jeremije zwei seiner fünf Töchter und seinen Sohn Ivan verheiratet. Bis zu seinem Tod 1890 war Großvater Jeremije Oberhaupt (domacin) der Zadruga.

Onkel Ivan folgte seinem Vater als Oberhaupt der Hausgemeinschaft und blieb es bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918. Er heiratete meine Tante Andja und hatte zehn Kinder. Vier Kinder starben früh, eines wurde im Zweiten Weltkrieg getötet, fünf überlebten ihn als er 1943 starb. Um 1905 wurden auch meine drei Tanten sowie ein Onkel, nämlich Rade, verheiratet. Zwischen 1905 und 1910 emigrierten mein Vater Spiro und die Onkel Djoko und Todor in die Vereinigten Staaten. Die drei Brüder, die nach Amerika gingen, behielten volle Rechte als Mitglieder der Zadruga. Sie sandten gelegentlich Geld an die zu Hause gebliebenen Brüder, was diese in die Lage versetzte, mehr Land zu erwerben sowie eine Wasserzisterne und einige Nebengebäude zu bauen. Jeder Bruder hoffte, nach Hause zurückzukehren, nachdem er einiges an Geld erspart hatte. Mein Vater war der einzige, der heiratete. Er hatte fünf Kinder, von denen zwei früh starben. Mein Vater und meine Mutter starben in Butte, Montana, in der Grippe-Epidemie von 1918. Auch einer meiner Onkel, nämlich Todor, starb in Amerika, während der dritte Bruder Djoko nach Bileca Rudiene zurückkehrte. [...]

Kein Mitglied der Familie verlor sein Leben während des Ersten Weltkriegs. Die einzige sichtbare Veränderung in der Zadruga war es, dass Onkel Rade seinen älteren Bruder Ivan am Ende des Krieges als Oberhaupt der Hausgemeinschaft ersetzte. Onkel Rade und Tante Pava hatten elf Kinder. Vier starben früh, sieben überlebten, und zwar fünf Knaben und zwei Mädchen. Onkel Rade schätzte die Macht, während Onkel Ivan ohne sie glücklicher war. Onkel Rade bekam Krebs in einem seiner Beine, das dann unterhalb des Knies amputiert werden musste. Er war nun nicht mehr in der Lage, schwere Arbeit auf dem Feld zu leisten, aber er konnte den Haushalt führen und leichtere Hausarbeit verrichten wie Tiere schlachten, Tabak- und Kohlsetzlinge pflanzen sowie Tabakblätter sortieren – alles in sitzender Haltung.

Onkel Rade war eine kluge Persönlichkeit. Er hatte zwei Jahre lang die Schule besucht und konnte lesen und schreiben. Er führte den Haushalt autokratisch und effizient. Er behielt streitende Frauen und Kinder im Auge und wahrte den häuslichen Frieden mit eiserner Faust. Weil eines seiner Beine amputiert war, konnte er die Kinder nicht verfolgen, um sie zu bestrafen, wenn sie ihn störten. Aber er hatte ein langes Gedächtnis und wartete ruhig, bis ein Kind sich in seine Reichweite begab, und schlug es dann mit seinem schweren Stock.

Eine andere Veränderung, die unsere Zadruga am Ende des Krieges betraf, war die Ankunft von Onkel Georg und den drei verwaisten Kindern aus den Vereinigten Staaten. Ich war eines dieser Kinder, damals fünf Jahre alt und das älteste der drei. Die Zadruga war verpflichtet, für uns zu sorgen. Die Zadruga-Familie bestand damals aus 29 Mitgliedern – drei verheirateten Brüdern mit ihren Frauen und Kindern, einem unverheirateten Onkel und den drei Waisenkindern. [...]

1925 entschlossen sich meine Onkel zur Teilung. Drei Dorfbewohner wurden gebeten, als Zeugen und Schiedsrichter zu fungieren. Der Zadruga-Besitz wurde in vier Teilen unter die drei überlebenden Brüder und die verwaisten Kinder des vierten aufgeteilt. Der fünfte Bruder, der in Amerika verstorben war, war nicht verheiratet gewesen. Sein Anteil am Familiengut wurde unter die lebenden Erben aufgeteilt. Durch Losziehen wurde festgelegt, welcher Bruder den ersten Anteil am Besitz wählen durfte. Weil die Besitzteile von ungleichem Wert waren, waren Verhandlungen und Kompromisse notwendig. Jeder Bruder versuchte, das Beste von allem zu bekommen. Erfolg hing davon ab, ein gutes Stück Land von einem schlechten unterscheiden zu können oder das beste Vieh auszuwählen. [...]

Jeder Bruder sowie die Erben des verstorbenen Bruders erhielten einen Teil des Zadruga-Hauses, eines für Rudine typischen Wohngebäudes. Der älteste Bruder bekam den Raum mit dem Herd. Der zweite Bruder erhielt den mittleren Raum, in dem Getreide und Kleidung aufbewahrt wurden. Der jüngste der drei Brüder und die verwaisten Kinder bekamen „den Raum“. Weil dieser Bruder das beste Stück des Hauses erhielt, überließ er den anderen beiden alle landwirtschaftlichen Geräte, die Nebengebäude und fast das ganze Vieh. Da der zweite Bruder den einzigen Wagen für sich wünschte, erhielt er die zwei Pferde und gestand als Gegenleistung seinem älteren Bruder drei Ochsen zu. So kam es zum Ende unserer Zadruga. Nur wenige andere Zadrugas in Bileca Rudine überlebten eine Weile länger [...].“



[1] Auszüge aus Vucinich, Wayne, A Zadruga in Bileca Rudine, in: Byrnes, Robert F. (Hg.), Communal families in the Balkans. The Zadruga. Essays by Philip E. Mosely and essays in his honor, Notre Dame 1976, S. 162-187. – Auswahl und Übersetzung ins Deutsche von Michael Mitterauer.

 


Englisches Original der Quelle:
 
Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.

Vucinich, Wayne: A Zadruga in Bileca rudine (1976)[1]

MY FAMILY IN OTTOMAN DAYS

[…]

My family's history is obscure. According to legend, the family came from the Montenegrin tribe of Piperi, though the toponymic and ethnographic data suggest that it may have descended from the tribe of Drobnjaci. The legend tells how one Gajun Vucinich murdered a Turk, sometime late in the eighteenth century, and escaped to avoid Turkish reprisal. He first settled near Trebinje, later moved with his family to Bileca Rudine, and put down an the landed estate (agaluk) of a feudal landlord in the village of Mosko. After a short stay Gajun asked his landlord for permission to settle on the latter's land in the village of Orah, and the request was granted.

According to the legend, Gajun raised a family which included three sons and four daughters. After marriage, the sons, with their spouses and children, continued to live together, while the daughters married and left the family. Gajun died about 1815. His surviving sons lived together until about 1830; Todor, the eldest of them, was the head of the house. When the zadruga broke up, Todor remained in the family house in Orah, while his two brothers established homes on the aga's estate in the adjoining village of Panik. This is all that we know about the family's origin, and only a part of the information may coincide with facts. Moreover, nearly every family in Bileca Rudine has a similar family legend.

My great-grandfather Todor died in 1863 and was survived by four sons and three daughters. The four sons with their spouses and children continued to live together in a zadruga, while the daughters married and left home. The eldest of the four sons, my grandfather Jeremije (1822-1890), was the head of the house; he started a citulja, the record of births, marriages, and deaths in the family. Even this sole document on the history of our family is incomplete, since no one in the house was literate and the priest failed to record the changes which occurred in the family.

Like every zadruga, my grandfather's zadruga family made a strenuous effort not only to preserve its inherited patrimony intact, by preventing the loss of land through inheritance on the female line or through sale, but to expand it. Only in dire necessity would a zadruga family sell parts of its patrimony, which belonged to the living and the yet-to-be-born in the family. […] (pp. 165-166)

MY ZADRUGA FAMILY UNDER AUSTRO-HUNGARIAN OCCUPATION

[…]

In 1885 my grandfather's zadruga split up. Three brothers and their families moved out, while the fourth, my grandfather Jeremije, the eldest of the brothers, his wife Marija (1848-1895), five of his sons and five daughters, remained in the zadruga home, which was eventually rebuilt and enlarged. Before death overtook him, Jeremije had married off two of his five daughters and one son, Ivan. Until he died in 1890, grandfather Jeremije was the head (domacin) of the zadruga.

Uncle Ivan succeeded his father as head of the house and remained so until the end of the First World War in 1918. He married my Aunt Andja in 1896 and had ten children. Four children died in infancy, one was killed in the Second World War, and five survived him when he died in 1943. By 1905, my remaining three aunts and one uncle, Rade, were also married. Between 1905 and 1910 my father, Spiro, and uncles Djoko and Todor emigrated to the United States. The three brothers who went to America retained full rights as members of the zadruga; they occasionally sent money to the brothers left at home, which enabled them to purchase more land and to build a water cistern and several outbuildings. Each brother, like many an emigrant, hoped to return home after saving some money. My father was the only one who married. He had five children, two of whom died in infancy. My father and mother died in Butte, Montana, in the 1918 flu epidemic, leaving behind three children. One of my uncles, Todor, also died in America, while the third one, Djoko, returned to Bileca Rudine. […] (p. 167)

OUR ZADRUGA IN THE INTERWAR PERIOD

Not a single member of the family lost his life during the First World War. The only visible change in the zadruga was that Uncle Rade replaced his older brother Ivan as the head of the house at the very end of the war. Uncle Rade and Aunt Pava had eleven children. Four died in infancy, and seven survived, five boys and two girls. Uncle Rade cherished power, but Uncle Ivan was happier without it. Uncle Rade, moreover, developed cancer in one of his legs and had the leg amputated below the knee. He could no longer do hard work in the field, but he could manage the household and do lighter chores, such as slaughter animals, plant tobacco and cabbage seedlings, and classify tobacco leaves, from a sitting position.

Uncle Rade was a clever person who had two years of school, and he could read and write. He managed the household autocratically but efficiently. He kept an eye on the squabbling women and children, and maintained domestic tranquility with an iron fist. Because one of his legs was amputated, he could not chase the children to mete out punishment when they irritated him. However, he had a long memory, patiently waited for a child to stray within his reach, and then struck with his heavy cane.

Another change that affected our zadruga at the end of the war was the arrival of Uncle George and three orphaned children from the United States. I was one of those children, then five years of age, and the oldest of the three. The zadruga was obliged to provide for us. The zadruga family then consisted of twenty-nine members, three married brothers, their wives and children, an unmarried uncle, and the three orphan children.[…] (p. 169)

THE ORGANIZATION AND STRUCTURE OF ZADRUGA

The zadruga resembled a miniature state in which the sovereign power rested with the members of the family (celjad). The executive power was vested in the head of the house, chosen by older male members of the family. The most desirable head was one respected by his family and the community. Although the eldest male member of the family was usually chosen, often the head was selected for his ability rather than his age. Should a family lack a suitable male to represent it, a woman might either usurp the leadership or be chosen for it by the family. One zadruga family within our clan had a woman as head for nearly twenty years. The head of the family retained his position so long as he managed the family well and enjoyed its confidence.

Normally, the head consulted the older male members of the family on all important questions. His task included resolving disputes among the feuding members of the family and, when called upon, arbitrating disputes among individuals or families outside his own zadruga. The head of the house managed the family's properties and issued work assignments to individual members of the household. In the evening after dinner, the head of our zadruga, Uncle Rade, barked out assignments for the following day. He called each person by name, usually directing two persons to herd the goats and sheep, one to watch over the lambs and kids, one to assume responsibility for the cattle, and when needed, one person to go to the flour mill, and one or two to the market. Several persons were always assigned work in the fields, or to mend fences, repair walls, and build corrals. If the head of the house mismanaged the family possessions, caused embarrassment to the family, or abused his position in any way, the older males in the family could replace him.

The headwoman (domacica), who was ordinarily either the mother of the headman or his wife but could also be another married woman, was in charge of the housework. In our zadruga Aunt Pava, the wife of the head of the house, was the headwoman. She assigned work to other women and supervised them. Some women did kitchen chores and others herded animals, milked them and made cheese, or worked in the fields. The women, however, had their preferences; the headwoman of our zadruga preferred work outside the house. Aunt Andja, on the other hand, took charge of the kitchen and was better at it than the other women. […] (pp. 171-172)

No one in the patriarchal society of Bileca Rudine lived a more miserable life than an old maid. She was abused daily by her brothers' wives and sometimes by the brothers themselves. Like young unmarried maidens, she wore a white kerchief; like them, she obeyed and waited on older members of the family.

When left alone in the family, a woman in Bileca Rudine on occasion chose a life of celibacy. One of my first cousins, Ruša, an unmarried daughter of Uncle Ivan and an old maid, considered it her sacred duty never to abandon the hearth and never to marry. She repudiated the role of a woman in a patriarchal society and took up the role of a man. The records tell us that in earlier periods of history such a woman even wore man's clothing and bore arms like a man. Ruša did not go that far, but she did the work traditionally reserved for men. She plowed the fields, sowed grain, mowed hay, took livestock to the market, and bargained with merchants. She celebrated the family patron saint and other major holidays. She swore like a man.

Ruša's worst critics were her closest relatives, with whom she shared the roof of the former zadruga house. Her male cousins feared that she might marry and that an outsider might inherit her lands. The relatives harassed her and tried to persuade her to sell her property to them. […] (pp. 172-173)



[1] Vucinich, Wayne, A Zadruga in Bileca rudine, in: Communal Families in the Balkans: The Zadruga. Essays by Philip E. Mosely and Essays in His Honor, ed. by Robert F. Byrnes, Notre Dame 1976, pp. 165-166, 167, 169, 171-172, 172-173.

 


Deutsche Übersetzung der Quelle:
 
Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
Für das Themenportal verfasst von

Michael Mitterauer

( 2007 )
Zitation
Michael Mitterauer, Persönliche Familiengeschichte als Zugang zu einer vergleichenden europäischen Familienforschung, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1345>.
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