Herr des Publikums, Diener der Kunst
Von Jürgen Osterhammel
Kaum ein anderer Sozialtypus, der im frühen 19. Jahrhundert entstand, hat sich so wenig verändert in die Gegenwart hinein erhalten wie der des öffentlich auftretenden Musikvirtuosen. Bereits in früheren Jahrhunderten gab es musikalische Zelebritäten, von denen ganz Europa sprach und zu denen man von weither reiste, um von ihnen zu lernen. Sie waren zumeist Komponisten und Meister der musikalischen Theorie. Weniger den Berühmtheiten, die durch ihren Gesang oder ihr Instrumentalspiel faszinierten, galt die Verehrung der Musikwelt als den Schöpfern neuer Kunst. Viele, möglicherweise die meisten von ihnen brachten ihre eigenen Werke mit höchster technischer Kompetenz selbst zur Aufführung. Reine musici oder virtuosi prattici genossen ein geringeres Prestige. Auch im 19. Jahrhundert hielten viele an der Einheit von Komponist und Interpret fest. Richard Wagner erstrebte die vollständige Kontrolle über die authentische Interpretation seiner Werke, und Gustav Mahler soll als Dirigent seiner eigenen Symphonien nie übertroffen worden sein. Daneben entstand der ausschließlich ausführende musikalische Star: die Operndiva, der Tastenlöwe, der vom dienenden maestro di capella zum Herrscher über Klangkörper von neuartiger Größe und oft bedeutender Leistungsfähigkeit aufgestiegene Dirigent. Diese Art des Musikbetriebs gibt es noch heute. Die technische Reproduzierbarkeit von Musik durch Schallplatte, Rundfunk und später sogar Film und Fernsehen hat die älteren Tendenzen eher noch verstärkt. Erst die Verbreitung von Konzertsälen und Opernhäusern auf allen Kontinenten, dann die Technologien der Schallaufnahme ließen wahrhafte Weltstars entstehen: den Tenor Enrico Caruso, den Bariton Mattia Battistini, die Sopranistin Adelina Patti, den Dirigenten Arturo Toscanini, die Geiger Pablo Sarasate und Joseph Joachim, die Pianisten Anton Rubinstein und Ignacy Jan Paderewski – um nur einige zu nennen. Ihr Rollenverständnis im Spannungsfeld von Showbusiness und Werktreue war ein Erbe des zweiten Quartals des 19. Jahrhunderts. Dieses Erbe beherrscht auch noch die industriell organisierte „E-Musik“ der Gegenwart.
Der bewunderte Musikvirtuose und sein Gegenstück, eine kenntnisreiche Hörerschaft, waren keine europäische Besonderheit. Wir finden sie auch in entwickelten aristokratischen und höfischen Kulturen andernorts auf der Welt, zum Beispiel in Mogul-Indien. Einzigartig für das moderne Europa und universal stilbildend war indes die Lösung des Künstlers aus fürstlichem Mäzenatentum. Dieser Übergang von Gunst zu Lohn ist wohl bekannt. Schon Händel hatte in England für ein zahlendes bürgerliches Publikum gearbeitet und Haydn dort in den 1790er Jahren den musikalischen Markt erfolgreich bedient. Richard Wagner distanzierte sich allmählich von seinem königlichen Patron Ludwig II. von Bayern und ersann die Idee eines regelmäßigen Festspiels, das ihn zum Herrn über wallfahrende Besucher und Nutznießer ihrer Freigebigkeit machen würde. Schon um 1820 war das Zeitalter mäzenatischer Hofmusik im Wesentlichen beendet, auch wenn sich ein Musikfreund wie Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen im thüringischen Meiningen bis zum Ersten Weltkrieg eines der besten Orchester Deutschlands leistete. Nur in Europa entwickelten sich die städtische Oper als besonderer Raum der sozialen Repräsentation von Oberschichten und das Konzert als Geselligkeitsform einer „stockenden Masse“, wie Elias Canetti es beschrieben hat: „Wie eine ausgerichtete Herde, so sitzen die Menschen da, still und in unendlicher Geduld.“
Diese Arten der Reproduktion und Konsumption von Kunst waren nicht nur „typisch“ europäisch – und verbreiteten sich rasch auch in den neo-europäischen Gesellschaften in Übersee, so dass das Opernhaus von New York zum musikalisch wichtigsten der Welt und dasjenige von Sydney zu einem ihrer bekanntesten Gebäude wurde. Sie waren auch gesamteuropäisch. Die romantische Ausprägung nationaler Musikidiome verhinderte nicht, daß der Konzertbetrieb kosmopolitisch blieb. Er gehörte zu den „Mechanismen des Internationalismus“, wie sie heute bei Historikern viel Aufmerksamkeit finden. Viele Opernsänger mochten zu einem festen Ensemble gehören und daher relativ wenig mobil sein. Die ganz großen Stars unter ihnen jedoch waren unaufhörlich unterwegs und gastierten in allen Kunstzentren zwischen Lissabon und St. Petersburg. Battistini zum Beispiel, der „König der Baritone“, stand mit dem Zaren „auf vertraulichem Fuße“und gab seinen letzten Auftritt 1927 auf dem Nebenschauplatz Graz. Instrumentalsolisten, die unweigerlich als Individualunternehmer arbeiteten, waren noch stärker als Sänger auf das Reisen angewiesen und woben die Netze ihrer Tourneen über den ganzen Kontinent hinweg. Mit dem Virtuosentum erblühte das Geschäft der Agenten und Impresarii, auch sie frühe „transnationale“ Akteure. Daß man sich in Elitekreisen aller europäischen Länder mühelos auf Französisch – und notfalls auch in mehreren anderen Sprachen – verständigen konnte, erleichterte den Umgang über Grenzen hinweg. Auch das Publikum war unterwegs und mischte sich international. Mochte Wagners Massenbasis auch aus „Bier trinkenden, Würstchen verzehrenden Spießbürgern“ bestehen, so versammelte sich doch in Bayreuth „jene internationale society, die der völkische Nationalist verabscheuen mußte“.
Am Anfang dieser Neuerungen steht der erste aller musikalischen Superstars: Niccolò Paganini, der 1828 die Alpen überquerte und damit eine beispiellose Karriere als konzertierender Violinist begann. Franz Liszt war bereits im Dezember 1823 als zwölfjähriges Wunderkind aus dem Habsburgerreich nach Paris gekommen. Erst das Erlebnis Paganinis bewog ihn, sich als dämonischen Verzauberer der Massen, als einen Paganini des Klaviers, neu zu erfinden. Nicht nur verwandelte er die berühmten Capriccen des Geigers in Etüden von beispiellosem technischem Raffinement; er kultivierte auch mit Berechnung den Habitus des über extremste Schwierigkeiten triumphierenden Podiumsheroen, der sich sein Publikum unterwarf. In einer schier unglaublichen Kraftleistung reiste Liszt zwischen 1838 und 1847 – noch in Kutschen! – kreuz und quer durch Europa. Von Glasgow im Norden bis Neapel im Süden, von Cadiz bis Istanbul gab er Konzerte und vergaß dabei auch Kleinstädte wie Limerick, Montauban, Freiburg, Bautzen oder Schitomir in der Ukraine nicht. 1847 zog sich der bedeutendste Pianist des Jahrhunderts, zugleich einer seiner größten Komponisten, plötzlich vom Konzertleben zurück und trat während der restlichen 39 Jahre seines Lebens öffentlich fast nur noch als Dirigent in Erscheinung, der sich allein zu Benefizzwecken auch gelegentlich noch an den Flügel setzte.
Liszt prägte das neue Konzertleben wie kein zweiter und wurde dadurch zum reichen Mann und zum berühmtesten Musiker Europas. Die Musik war ihm freilich kein bloßer Broterwerb. Er spielte eigene Kompositionen, aber auch Älteres, das sonst selten zu hören war. Der Tastenzauberer konnte auch zum selbstlosen Diener an den Werken anderer werden. Durch Bearbeitungen und Paraphrasen für Klavier machte er Beethoven-Symphonien, Schubert-Lieder und zahlreiche Opern einem provinzialen Publikum zugänglich, dem die Chance fehlte, dergleichen jemals in Originalgestalt kennenzulernen. Auf diese Weise trug er zur künstlerischen Integration, ja, zur musikalischen Zivilisierung Europas bei. Auch sonst war er ein Lehrer: Der späte Liszt, stets unentgeltlich unterrichtend, wurde zum wichtigsten Klavierpädagogen der Epoche. Zugleich erkannte er mit großer Klarsicht, in welche Widersprüche der Konzertbetrieb den romantischen Künstler, das Genie, verstrickte. 1852, drei Jahre nach dem Tod seines Freundes Chopin (der selbst öffentliche Auftritte eher gemieden hatte), nutzte er die Gelegenheit, um in einem gemeinsam mit der Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein geschriebenen Buch über den polnischen Meister die Zwänge des musikalischen Schaugewerbes schonungslos zu analysieren.Für sich selbst nahm Liszt übrigens den Prozeß der Emanzipation von herrscherlichem Patronat zurück. Dem „Goldregen“ des großbürgerlichen Philistertums, dessen er wie kein Zweiter teilhaftig geworden war, zog er die karge Freiheit eines kleinstädtischen Residenzlebens vor. Liszt akzeptierte das Amt eines Hofkapellmeisters in Weimar und lebte fortan, wie Alan Walker in seiner großartigen Biografie schreibt, als „Riese in Liliput“. Das Publikum wurde ihm immer gleichgültiger. Im Alter komponierte er Werke, die erst im 20. Jahrhundert verständnisvolle Spieler und Hörer fanden. Die einstige Inkarnation des musikalischen Showbusiness wurde, allein dem späten Beethoven folgend, zum soziologischen Urtyp des Avantgardisten.
[1] Essay zur Quelle Nr. 1.5, Franz Liszt über den Beruf des Virtuosen (1852).
[2] Canetti, Elias, Masse und macht, Hamburg 1960, S. 36.
[3] Fischer, Jens-Malte, Große Stimmen, Stuttgart 1993, S. 29.
[4] Adorno, Theodor W., Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Reinbek 1968, S. 129.
[5] Der Quellentext entstammt ursprünglich: Liszt, Franz, Frédéric Chopin, als Artikelserie in: La France Musicale (1851), als Buch Paris 1851, erheblich erweitert 1879, dt. Übersetzung als Band 1 der Gesammelten Schriften, Leipzig 1880.
Literaturhinweise:
Adorno, Theodor W., Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Reinbek 1968
Canetti, Elias, Masse und Macht, Hamburg 1960
Dahlhaus, Carl, Die Musik des 19. Jahrhunderts, in: Ders., Gesammelte Schriften in zehn Bänden, hg. von Hermann Danuser, Bd. 5, Laaber 2003, S. 11-390
Ehrlich, Cyril, The Piano: A History, Oxford 2002
Gooley, Dana, The Virtuoso Liszt, Cambridge 2004
Walker, Alan, Franz Liszt, 3 Bde., London 1983-1997