Mahatma Gandhi und die britische Fremdherrschaft in Indien.

Mahatma Gandhi schrieb die in Quelle Nr. 4.5 wiedergegebenen Zeilen über die britische Fremdherrschaft in Indien an Bord eines Schiffes auf der Rückfahrt von London nach Südafrika. Sein Besuch in London stand im Zusammenhang mit seinen Bemühungen um die indische Minderheit in Südafrika. Doch während seines Aufenthaltes in London hatte er viele Gespräche mit jungen indischen Nationalisten und mit seinem väterlichen Freund Dr. Pranjivan Mehta geführt. Dieser kluge Arzt und Jurist hatte Gandhi 1881 in London empfangen, als er als junger Student dort eintraf. Damals gab es noch nicht einmal den indischen Nationalkongress, der erst 1885 gegründet wurde. [...]

Mahatma Gandhi und die britische Fremdherrschaft in Indien[1]

Von Dietmar Rothermund

Mahatma Gandhi schrieb die in Quelle Nr. 4.5 wiedergegebenen Zeilen über die britische Fremdherrschaft in Indien an Bord eines Schiffes auf der Rückfahrt von London nach Südafrika. Sein Besuch in London stand im Zusammenhang mit seinen Bemühungen um die indische Minderheit in Südafrika. Doch während seines Aufenthaltes in London hatte er viele Gespräche mit jungen indischen Nationalisten und mit seinem väterlichen Freund Dr. Pranjivan Mehta geführt. Dieser kluge Arzt und Jurist hatte Gandhi 1881 in London empfangen, als er als junger Student dort eintraf. Damals gab es noch nicht einmal den indischen Nationalkongress, der erst 1885 gegründet wurde. Inzwischen aber hatte sich die politische Atmosphäre in Indien grundlegend geändert. Der Nationalkongress hatte sich 1907 in einen gemäßigten und einen radikalen Flügel gespalten. Die Radikalen, auch „Extremisten“ genannt, neigten zum Terrorismus. Ein indischer Terrorist hatte kurz vor Gandhis Besuch einen Beamten des Indienministeriums in London erschossen. Zur gleichen Zeit stand die erste große Verfassungsreform in Indien bevor, die vom gemäßigten Flügel des Nationalkongresses begrüßt wurde. Gandhis älterer Freund und Mentor Gopal Krishna Gokhale, ein Führer der „Gemäßigten“, war mehrfach in London gewesen, um mit dem Indienminister Lord Morley über diese Reform zu verhandeln. Gandhi stand den „Gemäßigten“ näher als den „Extremisten“, setzte sich aber auch mit den Argumenten der Extremisten auseinander. Auch Dr. Mehta diskutierte wohl mit Gandhi über die politischen Tagesfragen. Gandhi erklärte später einmal, dass er die Gedanken, die er in nur elf Tagen auf seiner Rückreise von London nach Südafrika zu Papier gebracht hatte, als eine Resonanz auf die Gespräche mit Dr. Mehta betrachtet habe.

Gandhi gab dem politischen Manifest, das auf diese Weise entstand, den Titel „Hind Swaraj“ (Indiens Freiheit) und stellte gleich zu Beginn des Textes klar, dass er weder ein „Gemäßigter“ noch ein „Extremist“ sei, aber beiden dienen wolle, wenn es um die Freiheit der Nation ginge. Er war ein großer Bewunderer des Sokrates und hatte dessen Verteidigungsrede ins Gujarati übersetzt und in seiner Zeitschrift „Indian Opinion“ in Südafrika veröffentlicht. Die britisch-indische Regierung hatte diese Gujarati-Übersetzung als aufrührerisches Schrifttum verboten. Nun verfasste er „Hind Swaraj“ in der Form eines sokratischen Dialogs. Als Gesprächspartner, der die Fragen stellte, diente ein junger indischer Nationalrevolutionär von der Art, wie sie Gandhi in London begegnet waren. Er selbst beantwortete in der Gestalt des Herausgebers seiner Zeitung die Fragen in didaktischem Stil. Der Text erschien zuerst in Gujarati, erst danach veröffentlichte Gandhi die englische Ausgabe. Er behielt dabei den Stil des Gujarati-Textes bei, der sich an einfache Leser richtete, die sich nicht mit politischen Theorien beschäftigten.

In den hier zitierten Textstellen griff Gandhi eine Frage auf, die zu jener Zeit immer wieder gestellt wurde: „Wie war es den Briten gelungen, Indien zu erobern und dann für so lange Zeit zu beherrschen?“ Darauf gab Gandhi die ungewöhnliche Antwort, dass die Inder den Briten das Land geradezu freiwillig überlassen hatten und sie auch immer noch im Lande hielten. Er ging sogar noch einen Schritt weiter und verglich die Haltung der Inder mit der eines Süchtigen, der dem, der ihm die Mittel zur Befriedigung seiner Sucht verkauft, keinen Vorwurf daraus machen könne. Der Süchtige selbst müsse seine Sucht bekämpfen. Die Droge, die er nennt (bhang = Hanf), ist in Indien allgemein bekannt. Gandhi konnte damit rechnen, dass seine Leser ihn verstanden.

Im zweiten Zitat greift er das Thema wieder auf und weist nun auf die miteinander streitenden Inder hin, deren Kämpfe untereinander die Briten nutzten, um die Oberhand zu gewinnen. Es entspricht dem Grundmuster seines Denkens, dass Gandhi keine überpersönlichen Kräfte, die das Handeln des Menschen determinieren, ins Spiel bringt, sondern von den Akteuren ausgeht und ihr Fehlverhalten kritisiert. Er bereitet auf diese Weise sein Plädoyer für die Nichtzusammenarbeit mit den Briten vor, das er den Nationalisten als Mittel zur Befreiung von der Fremdherrschaft empfiehlt. Er hat es bereits in „Hind Swaraj“ ausführlich begründet und erst elf Jahre später in seiner großen Nichtzusammenarbeitskampagne in Indien praktiziert.

Ein Thema, das in „Hind Swaraj“ eine große Rolle spielt, ist die Kritik an der westlichen Zivilisation. Gandhi rezipierte dabei das im Europa der Jahrhundertwende (dem Fin de Siècle) in vielen Publikationen reflektierte „Unbehagen an der Zivilisation“. Er nennt die einschlägigen Autoren in seiner Bibliografie, so z.B. Max Nordau (Simon Maximilian Südfeld, 1849-1923). Nordau war ein jüdischer Arzt aus Ungarn, der seinen Namen sozusagen um 180 Grad drehte, um sein Pseudonym zu erfinden. Ähnlich verfuhr er mit seinem Gegenstand; die „Segnungen“ der Zivilisation wurden als Fluch dargestellt, ihre Werte als Lügen. Sein Werk „Die conventionellen Lügen der Menschheit“ erschien 1883. Es lag Gandhi in englischer Übersetzung als „Paradoxes of Civilisation“ vor. Für Gandhi war diese „Umwertung“ besonders eindrucksvoll, denn die Briten hatten ja immer selbstbewusst hervorgehoben, dass sie den Indern die Segnungen der Zivilisation gebracht hätten. Doch eigentlich war diese Zivilisation eine Sucht, der die Inder verfallen waren. Gandhi konnte diese westliche Zivilisationskritik jedoch aus der Außenperspektive betrachten. Die indische Kultur war von ihr nicht betroffen, sie war die Ressource, auf die die Inder zurückgreifen mussten, um sich von der Sucht zu befreien. Das aber war eine persönliche Entscheidung so wie das „Festhalten an der Wahrheit“ (satyagraha), das zum Leitmotiv von Gandhis Leben und Handeln wurde.

In Südafrika hatte Gandhi die Praxis des bürgerlichen Ungehorsams (civil disobedience) entwickelt, um die Rechte der indischen Minderheit durchzusetzen. Es ging dabei um die bewusste Übertretung ungerechter Gesetze in aller Öffentlichkeit. Die Behörden wurden davon zuvor informiert und die „Ungehorsamen“ nahmen ihre Strafe klaglos hin. Nach seiner Rückkehr nach Indien fand Gandhi zunächst keine Ansatzpunkte für diese Methode, zumal 1915, als er in Indien eintraf, das Kriegsnotstandsrecht herrschte. Als jedoch die britisch-indische Regierung nach Kriegsende dieses Notstandsrecht durch eine neue Gesetzgebung fortschreiben wollte, sah Gandhi darin ein ungerechtes Gesetz, das mit bürgerlichem Ungehorsam zu beantworten war. Nur handelte es sich bei dem betreffenden Gesetz um ein Ermächtigungsgesetz, das später nie angewandt wurde und daher auch nicht übertreten werden konnte. Gandhi behalf sich zunächst mit der Ausrufung einer Art Generalstreiks der Händler (hartal), der aber an einigen Orten zu gewalttätigen Ausschreitungen führte, die Gandhi verurteilte. Als sich die Spannungen zwischen Regierung und Bevölkerung im Jahr 1920 vergrößerten, griff Gandhi schließlich auf die Methode der Nichtzusammenarbeit zurück, die er bereits in „Hind Swaraj“ ausführlich begründet hatte. Nur ging aus dieser Begründung noch keine Handlungsanweisung hervor, die allen einleuchtete, die aufgefordert wurden, sich daran zu beteiligen.

Nun gab es bereits ein historisches Vorbild für die Praxis der Nichtzusammenarbeit: die Behandlung, die der britische Hauptmann Charles Boycott 1880 in Irland erfuhr, als er sich weigerte, in den Ländereien, die er für einen britischen Adligen verwaltete, die Pacht zu senken, wie es von Charles Parnell und seiner Irish Land League gefordert wurde. Die Iren beschlossen, ein Exempel zu statuieren und sorgten dafür, dass Boycott keinen Knecht mehr fand, der bereit war für ihn zu arbeiten, in den Kaufläden nicht bedient wurde und ihm auch keine Post zugestellt wurde. Sein Name wurde danach zum Schlagwort für diese Art gezielter Meidung. Gandhi berief sich nicht explizit auf dieses Beispiel, aber er wandte es nun auf die von den Briten in Indien eingerichteten Institutionen an, die Colleges und Universitäten, die Gerichtshöfe und schließlich auch die Landtage. Ferner forderte er die Inder auf, ihre aus britischen Textilien hergestellten Kleidungsstücke öffentlich zu verbrennen und nur noch einheimische Ware zu kaufen. Die Verbrennungen waren die augenfälligsten Bestandteile seiner Kampagne, aber es gelang ihm auch, viele Studenten dazu zu bewegen, ihre Colleges und Universitäten zu verlassen, Rechtsanwälte davon zu überzeugen, dass sie ihre Praxis aufgeben und nicht mehr in den Gerichtshöfen erscheinen sollten und schließlich auch einen Boycott der zu dieser Zeit anstehenden Landtagswahlen durchzusetzen. Im Laufe eines Jahres wurde viel davon verwirklicht, aber es verblasste auch der Reiz der Neuheit. Die Briten reagierten klug; Gandhi wurde nicht verhaftet und man ließ die Kampagne im Sande verlaufen. Gandhi war leichtsinnig genug gewesen, Freiheit in einem Jahr zu versprechen, wenn seine Handlungsanweisungen befolgt würden. Das Jahr verging und die Kolonialherren saßen so fest im Sattel wie eh und je. Die einzige langfristige Folge der Kampagne war, dass einige Studenten nicht in die Universitäten zurückgingen und einige Anwälte ihre Praxis für immer aufgaben; aus ihren Reihen gingen die Politiker hervor, die künftig für den Nationalkongress arbeiteten und sich auch nicht scheuten, ins Gefängnis zu gehen. Gandhi war ein begnadeter Spendensammler und schaffte Millionenbeträge herbei, mit denen er diese Gefolgschaft ernähren konnte.

Als er 1930 wiederum eine große nationale Kampagne zu organisieren hatte, rief er nicht wieder zur Nichtzusammenarbeit auf, sondern fand nun einen geeigneten Ansatzpunkt für den bürgerlichen Ungehorsam. Es war dies das britisch-indische Salzgesetz, das die Produktion und den Vertrieb von Salz zum einträglichen Staatsmonopol machte. Das indische Klima bewirkt, dass Menschen, um zu überleben, viel Salz konsumieren müssen. Auch die Ärmsten der Armen mussten es kaufen. Das Salzgesetz war also ein ungerechtes Gesetz, das sich zudem leicht übertreten ließ. Schon das Aufheben eines Salzkörnchens am Meeresstrand genügte, um sich strafbar zu machen. Das tat Gandhi dann auch, nachdem er zuvor mit einer Schar ausgewählter Gefolgsleute einen langen Marsch durch Gujarat angetreten hatte, der als „Salzmarsch“ in die Geschichte eingegangen ist. Überall in Indien tat man es ihm nach, und die Gefängnisse füllten sich mit „Straftätern“. Es war Gandhi gelungen, eine symbolische Revolution zu inszenieren, die freilich auch symbolisch blieb. Sie führte jedoch den Kolonialherren vor Augen, dass ihre Herrschaft über Indien nicht unangefochten blieb. Auch aus dieser Kampagne gingen wieder viele politische Rekruten hervor, die Gandhis Gefolgschaft mehrten. Im unabhängigen Indien kamen manche von ihnen zu Amt und Würden und machten den Nationalkongress für lange Zeit zu einer dominanten Partei, die sich immer wieder an den Wahlurnen behaupten konnte. Das hatte Gandhi so gar nicht beabsichtigt. Aber er hatte viele Inder, die sonst als Kollaborateure der Briten Karriere gemacht hätten, mit dem Aufruf zur Nichtzusammenarbeit mit den Kolonialherren aus der gewohnten Bahn gerissen und sie zum Dienst für die Nation gewonnen. So war es ihm gelungen, eine Organisation aufzubauen, die es so in kaum einem anderen Land gab, das nach dem Zweiten Weltkrieg in die Unabhängigkeit entlassen wurde.

 


[1] Essay zur Quelle Nr. 4.5, Mahatma Gandhi: Hind Swaraj (1909).

 


Literaturhinweise:

  • Bondurant, Joan V., Conquest of violence. The Gandhian philosophy of conflict, überarbt. Aufl., Princeton 1988
  • Brown, Judith M., Gandhi. Prisoner of hope, New Haven 1989
  • Rothermund, Dietmar, Mahatma Gandhi. Eine politische Biographie, 2. erw. Aufl. München 1998
  • Ders., Geschichte Indiens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2002.
  • Ders., Mahatma Gandhi, München 2003

Gandhi, Mahatma: Hind Swaraj [Indiens Freiheit] (1909)[1]

[...] The English have not taken India, we have given it to them. They are not in India because of their strength, but because we keep them. Let us now see whether this proposition can be sustained. They came to our country originally for purposes of trade. [...] They had not the slightest intention at that time of establishing a kingdom. Who assisted the Company´s officers? Who was tempted at the sight of their silver? Who bought their goods? History testifies that we did all this. In order to become rich all at once we welcomed the Company´s officers with open arms. We assisted them. If I am in the habit of drinking bhang and a seller thereof sells it to me, am I to blame him or myself? By blaming the seller, shall I be able to avoid the habit? And, if one particular retailer is driven away, will not another take his place? A true servant of India will have to go to the root of the matter. [...]

We have already seen that the English merchants got a footing in India because we encouraged them. When our Princes fought amongst themselves they sought the assistance of (the Company). That corporation was versed alike in commerce and war. It was unhampered by questions of morality. Its object was to increase its commerce and to make money. It accepted our assistance and increased the number of its warehouses. To protect the latter it employed an army which was utilised by us also. Is it then not useless to blame the English for what we did at that time? The Hindus and the Mahomedans were at daggers drawn. This, too, gave the Company its opportunity and thus we created the circumstances that gave the Company its control over India. Hence it is truer to say that we gave India to the English than that India was lost.



[1] Gandhi, Mohandas K., Hind Swaraj (first published 1909), in: Collected Works of Mahatma Gandhi, Vol. X, Ahmedabad 1983, S. 22.

 


Die Druckversion des Essays findet sich in Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005.
Für das Themenportal verfasst von

Dietmar Rothermund

( 2007 )
Zitation
Dietmar Rothermund, Mahatma Gandhi und die britische Fremdherrschaft in Indien, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007, <www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1350>.
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